Monteverdi in Salzburg - Gardiner - "behutsame Regie"

  • Aus der FAZ:


    MONTAG, 31. JULI 2017
    FEUILLETON
    Nichts, was der Mensch unternimmt, ist vergeblich
    Und doch ist alles Humane zwielichtig: John Eliot Gardiner führt alle drei Monteverdi-Opern in Salzburg auf
    Salzburg, 30. Juli


    Eine irrsinnige, grell-komische, zugleich schockierende Orgie des Grotesken platzt in Gestalt des Sängers Robert Burt über uns herein wie ein Hagelschlag. Burt ist Iros, der größte Prasser auf Ithaka. „Lauf und friss, bis du platzt!“, ruft ihm der Schäfer Eumäos zu. Doch Iros schämt sich nicht: In wehrhaftem Spott verzieht Burt das Gesicht seines kahlen Schädels zu Fratzen, wie sie der Barockbildhauer Franz Xaver Messerschmidt in Stein gehauen hat. Er wird sich, was wir zu diesem Zeitpunkt der Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ von Claudio Monteverdi nicht wissen, noch großartig steigern. Sobald nämlich Odysseus all die Freier, die seine Gattin Penelope zwanzig Jahre lang belauert hatten, zu Hackfleisch verarbeitet hat, schafft sich das Entsetzen darüber bei Iros in Stimme und Körper ein Ventil. Burt quiekt wie ein Schwein unterm Messer, lacht und heult auf mit seinem Tenor. In der Stimme des Menschen schreit die Kreatur als Relikt tierischer Vorgeschichte, die unseren Emanzipationsmühen trotzt.


    Was Monteverdi hier macht, hat Wucht: Zu einer Zeit, da die höfische Gesellschaft, für die er Anfang des siebzehnten Jahrhunderts schrieb, den Prozess der Zivilisation vorantrieb, sich höhere Schamschwellen antrainierte, nach Affekt-, Sprach- und Körperkontrolle strebte, lässt der Komponist mit seiner neuartigen Klangrede noch einmal das Tier von der Kette. Das ist beileibe nicht das einzige Erkenntniserlebnis, das einem bei dieser Aufführung aller drei Monteverdi-Opern durch den Dirigenten John Eliot Gardiner mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir unter die Haut geht.


    Mochten die späteren Prediger des Kulturidealismus „Briefe zur Beförderung der Humanität“ oder ebensolche „Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ schreiben, so war sich der katholische Priester Monteverdi darüber klar, dass Kunstsinn keine Güte begründe und Zärtlichkeit keine Moral. Es ist eine seine brillantesten Pointen, dass er – mittlerweile fünfundsiebzigjährig – seine letzte Oper „L’incoronazione di Poppea“ mit einem Liebesduett enden lässt, bei dem uns noch heute Herz und Sinne schwinden. Hana Blažíková und Kangmin Justin Kim singen das in der Felsenreitschule auch mit einer Innigkeit und Süße, dass der Mensch wohl erst noch geboren werden muss, der ihnen widerstehen könnte. Aber sie sind eben auch Poppea und Nero, die schlimmste Intrigantin und der widerwärtigste Despot des ganzen Stückes. Gerade die bösesten Menschen haben die schönsten Lieder. Mit wie viel Weitsicht und Weisheit hat Monteverdi hier Zauber und Illusionslosigkeit zusammengebracht!


    Der Komponist ist vor 450 Jahren in Cremona getauft worden und für Gardiner seit einem halben Jahrhundert ein Leitstern. Zum Jubiläum hat der britische Dirigent noch einmal alle drei Opern mit einer exzellenten Sängerbesetzung einstudiert und trägt dieses Großprojekt durch halb Europa. In England und Frankreich waren „L’Orfeo“, „Ulisse“ und „Poppea“ schon zu erleben, natürlich in Venedig, wo Monteverdi begraben liegt, nun auch in Salzburg, dem ersten Ort nördlich der Alpen, an dem Monteverdis Musik jemals erklang. Zum Fasching 1614 schon, nur sieben Jahre nach der Uraufführung in Mantua, hatte der Salzburger Erzbischof Marcus Sitticus von Hohenems, guter Freund der Fürsten von Gonzaga, den „Orfeo“ im alten Salzburger Hoftheater aufführen lassen. Bereits diese früheste der drei Opern steckt voll theologischer Dialektik: Wenn der unübertreffliche Monteverdi Choir die Hymne auf das Anthropozän anstimmt – „Nichts, was der Mensch unternimmt, ist vergeblich; gegen den Menschen kann sich die Natur nicht wappnen“ –, dann tut er es in seiner Rolle als Geister der Hölle.


    Gardiner hat nicht Unrecht, wenn er Monteverdi, der die Musik aus kosmologischer Harmonie herabriss in die Wirren irdischer Gesten und Leidenschaften, mit William Shakespeare vergleicht. Beide haben das Theater ein halbes Jahrtausend lang geprägt, beide besaßen Sinn für das Zwielichtige des Humanen, für das Grotesk-Komische jeder Tragödie. Gardiners Gelassenheit und Effizienz beim Dirigieren verrät enge Vertrautheit mit der Musik. Er geht maßvoll um mit dem Wechsel von Fundament- und Ornamentinstrumenten, setzt Gitarren und Flöten knapp, aber gezielt für die Tänze der Lebensfreude ein und die Zinken, jene trompetenartigen Holzblasinstrumente, für die Welt des Meergottes Neptun.


    Alle drei Opern sind nur sparsam, ohne Bühne, aber mit Kostümen von Isabella Gardiner und Patricia Hofstede, in Szene gesetzt. Gardiner führt zusammen mit Elsa Rooke eine behutsame Regie mit schönen Einfällen. So ist Penelope selbst, mit ihrem Körper, der Bogen, den die Freier auf Ithaka zu spannen versuchen. Und in der „Poppea“ wird der Selbstmord des Philosophen Seneca (Gianluca Buratto ist ein phantastischer Bass) nur durch blutrotes Licht angedeutet. Aber alles ist darauf angelegt, die Musik und die außergewöhnlichen Sängerleistungen zur Geltung zu bringen. An Lucile Richardot als Penelope wird, wer sie erlebt hat, lange zurückdenken. Dieser tief in das Tenorfach ragende Frauenalt, diese Vehemenz der dramatischen Sprache hinterlassen wohl in jedem Knochenmark Spuren körperlicher Erinnerung.


    Beim Musikfest Berlin besteht vom 2. bis zum 5. September abermals Gelegenheit, diese Erfahrung mit Gardiner und seinem Ensemble zu machen. Der künstlerische Leiter, Winrich Hopp, baut von Monteverdi und dessen Klangrede aus in Berlin ein großes Programm musikalischer Rhetorik bis in unsere Gegenwart zu Salvatore Sciarrino und Rebecca Saunders. Wem Monteverdi bislang vielleicht verschlossen war, sollte diese Trilogie hören. Ihm oder ihr wird dabei eine Welt aufgehen. JAN BRACHMANN

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • "Orfeo" lief schon bei 3Sat (aus dem Fenice) und ist im Orfeo-thread ausführlich besprochen! Diese Art zu inszenieren, vermeidet RT wie konventionelle Regie und lässt die Musik Monteverdis stärker denn je hervortreten.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)