Im Rahmen eines einwöchigen Moskaubesuchs besuchten wir auch verschiedene Ballett- und Opernaufführungen. Gestern Abend gab es Alcina (Händel) auf der Neuen (kleineren) Bühne des Bolschoi-Theaters. Die Regie (Katie Mitchel) hatte sich für die Produktion junge Sängerinnen und Sänger ausgesucht, u.a. Heather Engebretson als Alcina, die auch unter optischen Aspekten in die Inszenierung passten. Doch dazu später. Alle sangen gut, allerdings fehlte es mir an Wärme und auch an Fülle des Klangs, der sonst einen Opernsaal bei gutem Gesang füllt und bis zum Herzen dringt. Da dieser gesangliche Eindruck bei allen Solisten vorherrschend war, wäre ggf. auch an ein Problem mit der Akustik in diesem Theater zu denken.
Wovon handelt diese Oper. Ohne den recht komplexen Inhalt im Detail zu referieren, geht es wohl, so hatte ich diese Oper von einer Hamburger Aufführung (mit Inga Kalna als Alcina) in Erinnerung, um Liebesleid verschiedener Personen, vor allem um die unglückliche Liebe der Zauberin Alcina zu dem Ritter Ruggiero (hier gesungen von dem 36jährigen australischen Countertenor David Hansen). Katie Mitchel verlegte die Handlung in ein Horrorhaus, in dem sich zwei mörderische Schwestern (Alcina und Anna Aglatova als Morgana) mittels Tötung (bzw. Verwandlung in Tiere) junger Männer ihr jugendliches Aussehen erhalten.
Die Idee der Vergänglichkeit der Schönheit hier Raum zu geben, ist an sich nicht schlecht, sie wird auch durch Doppelbesetzung der Schwestern mit jungen hübschen Sängerinnen und ähnlich aussehenden, aber deutlich älteren Statistinnen interessant in Szene gesetzt: In der Mitte der Bühne befindet sich ein neoklassizistisch anmutender Raum, in dem die „Verführungen“ (durch die jugendlichen Schwestern) stattfinden, rechts und links daneben die privaten dunklen Gemächer der gealterten Schwestern. Deren Räume sind mit dem Mittelzimmer durch Türen verbunden. Wenn die Statistinnen jeweils durch die Tür in das Mittelzimmer treten, erscheinen sie dort sichtlich verjüngt und beginnen zu singen (Rollentausch in der breiten Wand).
Was dann allerdings im Mittelzimmer und auf dem Dachboden stattfindet, ist nicht mehr jugendfrei (die Alcina-Aufführung war nur für Personen ab 18 Jahren zugelassen). In der Mitte des Raumes befindet sich ein breites Bett, auf dem sich Morgana sadomasochistischen Spielen hingibt und Alcina (angedeutet) kopuliert, während dessen sich ihre Koloraturen wie vokale Orgasmen anhören. U. a. wird der ehemalige Liebhaber Alcinas namens Astolfo bewusstlos gespritzt, wie in einer Leichenhalle aufgebahrt, über ein Laufband in eine Maschine verfrachtet, aus der er als ausgestopfte Löwin herausgefahren wird.
Das war alles schon sehr krass und ließ einen hoffen, dass der zaudernde Ruggiero zusammen mit der ihn liebenden Bradamante (Katarina Bradic) und dem treu ergebenen Melisso (mit angenehmen Bass Grigory Shkarupa) den mordenden Schwestern bald den Garaus macht. Da die Oper allerdings fast drei Stunden lang ist, bleibt dieser Wunsch lange unerfüllt. Am Ende gelingt es dem vorgenannten Trio allerdings, das Lebenselixier der Schwestern zu zerstören und diese, dem Vermodern anheim gegeben, in die Tiervitrinen zu sperren. Um nicht völlig gegen das Libretto zu verstoßen, wird Astolfo schließlich wieder zurückverwandelt.
Wenn man so will, ist diese szenische Darstellung unter tiefenpsychologischen Aspekten durchaus nachvollziehbar (wie eine neben mir sitzende Zuseherin meinte). Passt das aber noch zu dem, was Händels Musik sagt? Jedenfalls hielt sich mein Mitleid mit der sich stimmlich und darstellerisch verzehrenden Alcina in Grenzen.