REINE INTONATION
Es kursieren viele – zum Teil stark divergierende – Vorstellungen von "reiner Stimmung".
Manche behaupten, es gäbe sie gar nicht; andere meinen, es gäbe überhaupt nur eine einzige Stimmung und das wäre die richtige...
Tatsache ist, dass es viele verschiedene Stimmungen für Tasteninstrumente und andere mehrstimmige Instrumente gibt, die alle eines gemeinsam haben: Jeder einzelne Ton muss immer verschiedene Funktionen in allen möglichen Tonarten erfüllen (können). Diese - physikalisch grundgelegte - Problemstellung hat die ganzen Alten Stimmungen (offene Stimmungen) und geschlossenen Stimmungen (wohltemperierte Stimmungen) und schließlich die heute übliche moderne gleichschwebend temperierte Stimmung hervorgebracht. (Zu dieser letzten möchte ich anmerken, dass "gleichmäßig temperiert" der bessere Begriff wäre, weil "gleichschwebend" strenggenommen gar nicht richtig ist.)
Die "Reine Stimmung" im Sinn des Wortes gibt es nur im vokalen Bereich bzw. bei Instrumenten, die eine Feinintonation der Einzeltöne ermöglichen wie die meisten Streichinstrumente bzw. Zupfinstrumente ohne Bünde und Blasinstrumente, die über den Anblasdruck Feinabstufungen der Intonation vornehmen können.
Hier eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Fakten zur REINEN INTONATION:
Es geht in der reinen Intonation nur um Dur- und Moll-Dreiklänge, alles andere ist vergleichsweise weniger wichtig.
In das folgende kurze YouTube-Video der King's Singers, das so manche Hörgewohnheiten zurechtrückt, habe ich Pfeile eingezeichnet, die sich aus den weiter unten erklärten Fakten ableiten – man kann das wirklich hören, was die vier King's Singers hier machen. (Großbuchstaben im Video unter den Noten stehen für Durdreiklänge, Kleinbuchstaben für Molldreiklänge.)
Überzeugt Euch bitte selbst!
(Dieses von mir veränderte Video ist nicht gelistet und kann nur von hier aus mit diesem Link aufgerufen werden.)
Relativ bekannt ist die Einteilung der Tonleiter der gleichschwebend/gleichmäßig temperierten Stimmung in 12 Halbtöne zu je 100 Cent. In dieser Stimmung gibt es keine Tonartencharakteristik; die Tonarten unterscheiden sich nur durch die Lage (Tonhöhe) der Grundtöne. (In allen anderen Stimmungen gibt es Farbunterschiede zwischen den Tonarten, die man auch ohne absolutes Gehör zu besitzen wahrnehmen kann.)
Man sieht in dieser Aufstellung:
1. In Dur-Dreiklängen muss man die Terz (E) tiefer (um 14 Cent) und die Quint (G) leicht höher (um 2 Cent) nehmen. Daraus leitet sich ab: Kreuze (#) tief nehmen, weil in den einfachen Durdreiklängen wie D, E, A die Terzen Töne mit Kreuzvorzeichen sind.
2. In Moll-Dreiklängen muss man die Terz (es) sogar um 16 Cent höher und die Quint (G) leicht höher (um 2 Cent, das ist in Dur und Moll gleich) nehmen. Daraus leitet sich ab: Be hoch nehmen, weil in den einfachen Molldreiklängen wie c, f, g die Terzen Töne mit Be-Vorzeichen sind.
Das ist auch der Hintergrund der reinen chromatischen Intonation:
gis ist näher bei g und dadurch tiefer als as, das näher bei a liegt usw.
Bitte anhören und mitlesen!
Viele interessante Hörbeispiele findet Ihr auf:
Bei der Mollterz ist also der Unterschied zur temperierten Stimmung sogar noch um 2 Cent größer:
Das ist der Hauptgrund, warum Laienchöre in Mollstücken sehr leicht – manchmal sogar sehr tief – fallen... Das summiert sich eben ziemlich schnell.
Die tiefere Durterz hingegen ist der Hauptgrund dafür, dass jugendliche Chöre oft sogar leicht steigen...
Michael Stenov
PS: Jetzt nur noch für die wahrscheinlich wenigen hartgesottenen Mathematiker unter Euch (sonst bitte nicht lesen...) – wie kommt man auf diese Cent-Zahlen?
Zuerst die berühmte "12. Wurzel aus 2", die zur gleichschwebend temperierten Stimmung gehört: Eine Oktave hat das Zahlenverhältnis 1:2.
(Sie liegt in der Obertonreihe schon zwischen dem 1. und 2. Teilton)
Frequenzen bilden geometrische Reihen:
Ausgehend vom Kammerton a' mit der Frequenz 440Hz hat das a'' die doppelte Frequenz, also 880Hz, das kleine a hingegen nur die halbe, also 220Hz: Wir hören aber den gleichen Abstand, das heißt, wir hören logarithmisch! Ganz konkret: Wir hören – additiv – eine weitere Oktav, obwohl es nach oben die doppelte bzw. nach unten die halbe Frequenz ist!
Dasselbe muss daher analog auch für alle anderen Intervalle, also auch für die Halbtöne gelten. Es muss also – wie bei der Oktav die 2 – auch für den Halbton einen Multiplikationsfaktor q geben, mit dem man die Frequenzen von Halbton zu Halbton nach oben multiplizieren bzw. nach unten dividieren kann. 1 Oktav hat 12 Halbtöne – man muss also den unteren Ton 12x mit diesem Faktor multipizieren, um die nächsthöhere Oktav zu erhalten:
n mal q hoch 12 = 2 mal n → (durch n dividieren) q hoch 12 = 2 → q = 12. Wurzel aus 2!
Beispiel: Kammerton a1 – b1: 440 x q = 466,16 Hz, a1 – gis1: 440 : q = 415,3 Hz
Da ein Halbton in der gleichschwebend temperierten Stimmung aus 100 Cent (das wurde so festgelegt) besteht, gilt dasselbe analog für den Cent:
Man muss 100 mal mit 1 Cent multiplizieren, um von einem Halbton zum nächsten zu kommen. Da eine Oktave 12 Halbtöne hat, sind das sozusagen 1200 Cent (c). Daher ergibt sich folgende Gleichung:
n mal c hoch 1200 = 2 mal n → (durch n dividieren) c hoch 1200 = 2 → 1 Cent = 1200. Wurzel aus 2!
Und jetzt wird es wieder musikalisch interessant – nun zu den reinen Terzen und Quinten:
Die reine Durterz hat das Zahlenverhältnis 4:5, die reine Mollterz 5:6, die reine Quint 2:3 (der Durdreiklang liegt also in der Obertonreihe zwischen den Teiltönen 4, 5 und 6, die reine Quint schon zwischen 2 und 3)
Beispiel: Der reine A-Dur Dreiklang: a' = 440 Hz
cis'' = 440 x 5 : 4 = 550 Hz
e'' = 440 x 3 : 2 = 660 Hz
Die relevanten Fragen sind:
Wieviel Cent hat die reine Durterz?
(n steht für die Frequenz des Ausgangstones, c für den Cent und die Hochzahl x für die Anzahl der Cent: Wie oft muss ich mit 1 Cent multiplizieren, um zur reinen Durterz zu kommen?)
n mal c hoch x = 5/4 mal n → c hoch x = 5/4 → x = log (5/4) : log (c) = 386 (gerundet)
Jetzt ist es nicht mehr schwer (analog könnte man auch alle anderen Intervalle der Obertonreihe berechnen):
Wieviel Cent hat die reine Mollterz?
n mal c hoch x = 6/5 mal n → c hoch x = 6/5 → x = log (6/5) : log (c) = 316 (gerundet)
Wieviel Cent hat die reine Quint?
n mal c hoch x = 3/2 mal n → c hoch x = 3/2 → x = log (3/2) : log (c) = 702 (gerundet)
Jetzt unbedingt nochmal anhören!
Michael Stenov