Gergievs Opernaufnahmen auf CD - 1. Teil

  • Nachdem Cosima einen ähnlichen Thread auf dem Instrumentaksektor eröffnet hatte, möchte ich dies einmal für den Opernbereich versuchen und aus meiner Sicht eine Einschätzung der auf CD erhältlichen Opern-Gesamtaufnahmen unter der Leitung Valery Gergievs abgeben. Dazu eine notwendige Vorbemerkung. Es handelt sich dabei in den meisten Fällen um Mitschnitte von Aufführungen, entweder im heimischen Mariinsky-Theater oder auf Gastspielreisen. Wer Gergievs Terminkalender und die Gepflogenheiten dieses Opernhauses kennt (z.B. den Spielplan mit täglicher und abwechselnder Bespielung sowie 2 Aufführungen am Nachmittag), wird eher geneigt sein, in Sachen Genauigkeit nicht immer den allerhöchsten Maßstab anzulegen.


    Borodin : Fürst Igor
    Für Musikphilologen werden der Umstellung einiger Szenen (Polowzer Lager) interessant. Gergievs Leitung vereint alle seine bekannten Vorzüge : Dynamik und Ausdruck pur! Luxuriös mit Gorchakova und Borodina die Damen, Grigorians Vladimir ist seit seinem Weggang vom Mariinsky-Theater unerreicht; Kit ist mit seinem etwas trocken timbrierten hohen Baß wie immer ein solider Sänger, nicht mehr, aber auch nicht weniger, und für die anderen beiden Baßpartien sind Minzhilkiev und Ognovenko Vertreter der etwas knorrig-knarzenden Art.


    Glinka : Ruslan und Lyudmila
    Wie der Igor ist auch der Ruslan ungemein schwierig zu besetzen, da weder dem Bariton- noch dem Baßfach genau zuzuordnen : für einen Baß zu hoch, für einen Bariton zu tief. Dies vorausgeschickt, ist Ognovenko durchaus ein guter Ruslan. Für Anna Netrebko war die Lyudmila die Partie, die ihr auch international erste Anerkennung verschaffte. Wie gut sie als Lyudmila ist, kann man vor allem ermessen, wenn man bedenkt, von welchen dünnstimmigen weißtimbrierten "Piepsen" solche Rollen in der Sowjetunion früher gesungen wurden. Netrebko begeistert dagegen mit einer in allen Lagen ausgeglichenen, besonders in der Höhe wunderschön kopfig geführten Stimme. Großartig auch solche Spitzensänger wie Gorchakova als Gorislava, Diadkova als Ratmir und Bezzubenkov als Farlaf, mit dem durch Schaljapin bekannt gewordenen Bravourstück, dem Rondo des Farlaf.


    Massenet : Hérodiade
    Mitschnitt der San Francisco Opera. Natürlich unerläßlich für Fleming-, Domingo- und Gergiev- Fans; wer dagegen in erster Linie an dem Stück interessiert ist, sollte eher zur Plasson-Einspielung greifen, die idiomatischer ausgefallen ist.


    Mussorgsky : Boris Godunow
    Entstanden im Studio des Holländischen Rundfunks. Interessant wegen der Gegenüberstellung der 1869- und 1872-Version. Boris von zwei verschiedenen Sängern interpretiert : in der 1869-Fassung von Nikolai Putilin, der seinen Verdi-Bariton künstlich herabdrücken muß, sowie 1982 von Vladimir Vaneev, für den verstorbenen Minzhilkiev vom Maly-Theater gekommen, wegen seiner großen Ähnlichkeit mit Boris Jelzin Boris in der Salzburger Wernicke-Produktion verwendet : nicht schlecht, aber dem Vergleich mit Kipnis, Christoff, London, Ghiaurov und Co. nicht standhaltend. Marina und Dmitri kann man auf anderen Aufnahmen gleich gut, aber nicht besser als mit Borodina und Galusin hören. Bei der großen Szene zwischen beiden knistert es. Für Okhotnikov kam der Pimen in dieser Aufnahme etwas spät; dafür ist als Rangoni mit Yengeni Nikitin eine der großen Heldenbariton-Hoffnungen zu hören.


    Mussorgsky : Chowanschtschina
    In dem Instrumentalthread wurde Gergiev weder fehlender rhythmischer Präzision und fehlender Chor-Homogenität gerügt. "Mich kümmert's minder", dafür ist es ein Live-Mitschnitt, den es in leicht veränderter Besetzung auch auf DVD gibt. Großartige Besetzung u.a. mit Borodina (Marfa), Galusin (Andrey) und Minzhilkiev, dem kirgisischen Schaljapin als Ivan Khovansky. Diese Aufnahme enthält die sonst fast immer gestrichene Szene zwischen dem deutschen Pastor und Golitsyn; die Schluszene (bei Abbado in der Strawinsky-Version) wird hier in einer anderen Fassung gespielt. Obwohl das Werk sich in der Rimsky-Korsakow-Bearbeitung durchgesetzt hat, finde ich die hier benutzte Schostakowitsch-Instrumentierung Schostakowitsch-näher.


    Fazit : Für den Gergiev-Fan sind natürlich alle Aufnahmen habenswert. Für alle anderen würde ich von diesen Stücken Igor (wegen der Besetzung), Ruslan (wegen des Stücks) und Chowanschtschina (wegen der Fassung) empfehlen, auch wenn man schon andere Aufnahmen davon hat.


    Fortsetzung folgt (wird hoffentlich nicht als Drohung empfunden!)


    Sune

  • Zitat

    Original von sune_manninen
    Fortsetzung folgt (wird hoffentlich nicht als Drohung empfunden!)


    Nein, nein – mach bitte unbedingt weiter! Auch wenn ich leider nichts werde beitragen können… aber ich lese Deine Beiträge über Gergiev unheimlich gerne. Und nach und nach werde ich mir seine Opern-Aufnahmen auf jeden Fall zulegen, einfach weil ich diesen Dirigenten so sehr schätze.


    LG, Cosima

  • Wie versprochen, hier der 2. Teil über Gergievs Opernaufnahmen, diesmal über Werke eines der von Gergiev favorisierten Komponisten, Sergej Prokofjew. Prokofjew hat 8 Opern komponiert, zählt man einmal die unvollendet gebliebene Maddalena hinzu. Daß Gergiev davon allein 6 Werke aufgenommen hat, ist für mich (die Qualität der Aufnahmen einmal außer Acht lassend) allein schon eine Pioniertat; daß PHILIPS ihm das ermöglichte, ebenfalls, denn ich fürchte, daß in Zeiten, in denen Erfolg an Verkaufszahlen gemessen wird, sich diese Einspielungen nicht "rechnen" und durch Aufnahmen populärerer Werke (wie z.B. das reichlich überflüssige Verdi-Requiem) "erkauft" werden mußten.


    Der Spieler
    Nicht zu verwechseln mit Schostakowitschs Fragment "Die Spieler", spielt Prokofjews "Der Spieler" in der imaginären Stadt Roulettenburg. Für die Titelfigur ist Vladimir Galuzin der bestgeeignete Sänger, ist der Tenor, der weltweit als Otello tourt, doch dann am besten, wenn er gespaltene Charaktere darstellen kann, wie z.B. Hermann in "Pique Dame" und Grischka in "Kitesch"; so auch hier als Aleksey, wo er seine ganze dramatische Ausdruckspalette zum Vorschein bringen kann. Verkaufsfördernd wirkt es sich aus, wenn Gergiev von seiner meistens praktizierten Methode abweicht, jede Partie aus dem heimischen Ensemble zu besetzen. So singt auf dieser Aufnahme imponierend Elena Obraztsova die Babulenka, die ebenso wie Ljubov Lazarnovskaya nicht zum Ensemble gehört. Fazit : Für Gergiev- und Prokofjew-Fans unverzichtbar; das Werk an sich ist nicht so interessant, daß man es unbedingt haben muß.


    Die Liebe zu den drei Orangen
    1921 in Chicago in französischer Sprache uraufgeführt. Ein witziges Stück mit ebensolcher Musik. Ein typisches Ensemblestück, so daß hier die Qualitäten des Mariinsky-Ensembles voll zum Tragen kommen und eine Anna Netrebko noch vor Beginn des Mega-Hypes die relativ kleine Rolle der Ninetta betörend schön singt und sich eine Larissa Diadkova, eine echte Kontra-Altistin, sich in den Dienst der Sache stellt und eine meistens mit Sopranen besetzte Rolle singt, in der sie ihre wahren Qualitäten nicht so vorteilhaft präsentieren kann. Viele "ältere Semester" wie Larissa Shevtchenko und Alexander Morozov, aber - wie es so schön im Fußball heißt - "Die Mannschaft ist der Star", inklusive des den ganzen Witz der Partitur voll auskostenden Gergiev. Es bleibt letzten Endes Geschmackssache, ob man diese russische Aufnahme bevorzugt oder lieber zur französischen (siehe Uraufführungssprache) unter Kent Nagano greift, bei der ich allerdings die DVD der Louis-Erlo-Inszenierung aus Lyon der CD vorziehe.


    Der feurige Engel
    Von den vorhergegangenen Werken noch keine absolute Präferenz für eine Gergiev-Aufnahme, aber "Der feurige Engel" ist ein Muß! Die David-Freeman-Inszenierung von 1993 war für die das alte Plüsch-Theater gewohnten St. Petersburger sicherlich ungewohnt (um es einmal milde auszudrücken), aber die Produktion wurde der Fortschrittlichkeit der Partitur-Vorlage vollkommen gerecht. Adäquat die musikalische Umsetzung, vor allem von Gergiev eine der besten Opern-Einspielungen, bei der sich sein Mega-Impetus auf alle Mitwirkenden überträgt. Galina Gorchakova war nie besser als als Renata; sie singt die mörderisch schwierige Partie, als wäre es die leichteste Sache von der Welt. Sergei Leiferkus als Ruprecht ist mit seinem hellen Bariton ein ebenbürtiger Partner. Die restlichen Rollen sind eigentlich nicht mehr als Staffage, aber es ist schon was, eine Diadkova, einen Galuzin, Pluzhnikov, Bezzubenkov, Alexashkin und vor allem den Inquisitor von Vladimir Ognovenko zu hören. Unbedingt habenswert; die Järvi-Aufnahme dagegen ist nur ein schwacher Abklatsch und krankt vor allem an den wenig idiomatischen Leistungen von Secunde und Lorenz.


    Semyon Kotko
    1940, also zur Zeit des 2. Weltkriegs uraufgeführt, die Handlung spielt 1918 in der Ukraine, also ein zeitgenössischer Stoff. Eine einfache, eingängige Musik, ganz im Sinne des sozialistischen Realismus, doch für den, der den "späten" Prokofjew mag, sehr hörenswert. Die Besetzung der Hauptpartien mit der leicht tremulösen Tatiana Pavlovskaya und dem durchschnittlich timbrierten Viktor Lutsiuk ist wenig attraktiv. Dafür glänzen in kleineren Rollen Sänger wie Olga Savova, Gennady Bezzubenkov und der junge Nachwuchs-Heldenbariton des Theaters, Jevgeny Nikitin - "a name to watch!"


    Die Verlobung im Kloster
    Diese Oper gibt es auf CD und auf DVD. Wer es sich leisten kann, sollte unbedingt zur DVD greifen, denn zum einen ist die Inszenierung eine Augenweide und Anna Netrebko als Luisa eine Augen- und Ohrenweide. Neben ihr "räumt" Larissa Diadkova in der urkomischen Rolle der Duenna ab, ebenso wie Sergei Alexashkin ein nie geahntes Buffo-Talent zum Vorschein bringt. Köstlich der Don Jerome Nikolai Gassievs, und auch die übrigen Liebhaber sind mit Tarasova, Akimov und Gergalov gut besetzt. Bestimmt kein Hauptwerk der Opernliteratur, aber besonders als DVD sehr zu empfehlen.


    Krieg und Frieden
    Dieses Stück jedoch zählt nach meiner Ansicht zu den wichtigsten Werken des 20. Jahrhunderts, eine hervorragende Umsetzung des Tolstoi-Romans. Die Graham-Vick-Inszenierung erschien auch auf DVD und ist ein Dokument der Zeit, in der das Mariinsky-Theater vom historisierenden Stil Abstand nahm. Heute gibt es eine neue Produktion, in der Gergiev und der Regisseur auf gewaltige Kürzungen geeinigt haben. Ich denke, daß sich die heutige Produktion noch besser verkaufen ließe, singt doch Anna Netrebko die Natascha, die der gewiß nicht schlechten Yelena Prokina insgesamt überlegen ist. Alles, was damals Stimmbänder zum Singen hatte, ist bei der Aufnahme aus dem Jahre 1991 versammelt, und obwohl ich die Mono-Einspielung unter Melik-Pashaev nicht missen möchte, kann ich Gergievs CD voll und ganz empfehlen.


    Es ist noch gar nicht so lange her, daß Gergiev Prokofjews letzte Oper, Die Geschichte eines wahren Menschen, bei seinem Festival "Stars der Weißen Nächte" aufführte, doch die Zeit, in der Philips noch über genügend Geld für Operneinspielungen verfügte, war offenbar schon vorbei.


    Wenn alles klappt, werde ich Anfang Januar von meinem Wohnort, der ja nur gut 300 km von St. Petersburg entfernt liegt, in die Newa-Metropole fahren. Traditionell hält sich zur Zeit des Jahreswechsels nicht nur Gergiev "zu Hause" auf, sondern auch viele der Stars, die sonst vorwiegend im Ausland ihre Brötchen verdienen. Ich würde dann hören (ich spreche lieber im Konjunktiv, denn man weiß ja nie) das Verdi-Requiem u.a. mit Borodina, Abdrazakov, "La Bohème" mit Netrebko / Villazón sowie "Aida" u.a. mit Gordei, Diadkova. Nicht übel, nicht wahr, Cosima?


    Herzliche Grüße am finnischen Unabhängigkeitstag aus dem verschneiten Mikkeli


    Sune

  • Hallo Sune,


    schön, dass Du doch weiter gemacht hast, ich glaubte Dich schon verschollen.


    Inzwischen habe ich mir folgende Opernaufnahmen zumindest zugelegt, aber aus Zeitmangel bisher nur mehr oder weniger kurz reingehört und gesehen:


    Boris Godunow
    Mazeppa
    Pique Dame
    Ruslan und Lyudmila
    Der feurige Engel


    Ich werde mich irgendwann auch wieder zu den einzelnen Aufnahmen melden, die ersten Eindrücke waren durchaus vielversprechend.
    Aber vielleicht findet sich ja noch andere Teilnehmer, die etwas dazu schreiben möchten... wäre schön.


    Bis dahin,
    viele Grüße von Cosima


    P.S.:


    Zitat

    Nicht übel, nicht wahr, Cosima?


    Das kann man wohl sagen! Ich wünsche Dir viel Freude!

  • Hallo Sune,
    besten Dank für Deinen Hinweis auf Prokofjews Oper "Der feurige Engel". Wenn ich die fünf (natürlich subjektiv) besten Opern des 20. Jahrhunderts aufzählen müsste, wäre diese darunter (die anderen: "Lady Macbeth"/Schostakowitsch, "Billy Budd"/Britten, "Les Dialogues des Carmélites"/Poulenc" - und jetzt schummle ich als fünf A noch den "Wozzeck" dazu).
    Die Järvi-Aufnahme ist eine der grauenhaftesten Verballhornungen eines Meisterwerks: Schlampig und maßlos langweilig dirigiert, und die Sängerinnen und Sänger wissen alle zusammen nicht so genau, was sie singen.
    Wem die Gergiev-Aufnahme zu heftig ist (diese Exzessivität ist nicht jedermanns Sache), der hat kann auf die grandios musizierte und gesungene unter Charles Bruck bei Accord ausweichen. Die Aufnahme ist in französisch gesungen, die mono-Qualität ist sehr befriedigend. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, aber möglicherweise ist das sogar die Aufnahme der Uraufführung. Das Werk war in der Sowjetunion nicht willkommen (obwohl der Text dem Roman eines Vorkämpfers für die kommunistische Sache folgt, nämlich Valeri Brjussov) und wurde in Frankreich in französischer Sprache uraufgeführt.
    Gergiev ist wilder als Bruck, der die lyrischen Farben und delikaten Instrumentierungen dafür stärker in den Vordergrund rückt. Beide Aufnahmen sind meiner Meinung nach unbedingt empfehlenswert, weil sie das Werk von zwei sehr unterschiedlichen Standpunkten beleuchten. Und von dieser Musik kann man ohnedies nie genug kriegen!
    LG
    Edwin Hans

    ...

  • Als ich in Cosimas Thread "Valery Gergiev - der russische Pultstar" (wieso will ich immer schreiben "der russische Pultzar"?) einen kurzen Ausschnitt seines Terminkalenders kommentierte, wollte ich damit u.a. die besonderen Umstände verdeutlichen, unter denen vor allem die Operneinspielungen des Mariinsky-Theaters zustande gekommen sind. Sie sind eigentlich eher mit Live-Mitschnitten als mit Studio-Produktionen zu vergleichen, was (im Positiven) in einer größeren Spontaneität, aber auch (im Negativen) an mangelnder Präzision zu hören ist.


    Von den 15 Opern Nikolai Rimsky-Korsakows hat Gergiev für sein Haus-Label Philips gerade mal ein Drittel eingespielt, weitere 3 (Mlada, Die Nacht vor Weihnachten, Schneeflöckchen) sind in Konzert-Mitschnitten erhalten. Gergiev-Gegner werden im Falle der Opern Rimsky-Korsakow mit Sicherheit bei Svetlanov, Kondrashin, Lazarev usw. fündig werden; Gergiev-Anhänger hingegen alles das finden, was diesen Dirigenten auszeichnet : Impetus, Drive, leidenschaftliche Hingabe - Detailarbeit und Klangfeinheiten sind seine Sache nicht.


    Das Mädchen vpn Pskov
    Derzeit gibt es keine Alternative zu der 1994 entstandenen Aufnahme (es existiert noch ein Mitschnitt von 1969 unter Thomas Schippers mit Boris Christoff, allerdings in italienischer Sprache!). Fjodor Schaljapin als Iwan der Schreckliche machte einst diese Oper im In- und Ausland populär. Diese Rolle wird hier von Vladimir Ognovenko verkörpert, mit seinem knorrig-knarzenden Baß ganz in der Tradition großer slawischer Bassisten stehend. 1994 stand Vladimir Galuzin noch ganz zu Beginn seiner Karriere, die ihn - vor allem als Otello - an die großen Bühnen der Welt führen sollte, und auch Galina Gorchakovas Stimme ist hier noch auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit eingefangen. Diese drei Ausnahmesänger plus Gergiev machen diese CD habenswert.


    Sadko
    CD und DVD lassen alle Nachteile einer mitgeschnittenen Bühnenaufführung hören bzw. sehen; besonders das Klangbild läßt zu wünschen übrig, allzu sehr fallen einzelne Chor- oder Orchesterstimmen aus dem Gesamtklang heraus. Vladimir Galuzins nimmt durch die bei ihm immanente Leidenschaftlichkeit (sien Markenzeichen) für sich ein, auch wenn die Tonqualität durch den Überdruck leidet. Valentina Tsydipova (Volkhova) hatte beim Mariinsky nur eine kurze Karriere, angesichts ihres beängstigenden Tremolos wird das verständlich. Da klingt Sergei Alexashkin als Wasserfürst doch viel sonorer. Marianna Tarasova als Sadkos Frau bleibt hier (1993) noch unauffällig. Erst später wurde klar, was das Theater an ihr und an der eine kleinere Rolle singenden Larissa Diadkova hatte. Gegam Grigorian säuselt das berühmte Hindu-Lied weniger als im Westen üblich, und Bulat Minzhilkiev, der kirgisische Schaljapin, macht seinem Beinamen alle Ehre.
    Wer Sadko in Stereo haben möchte, kommt an dieser Aufnahme nicht vorbei. Die alte Golovanov-Aufnahme ist trotz der Mono-Qualität (1950)sehr empfehlenswert und nennt immerhin solche damaligen Größen wie Nelepp, Lisitsian und Reizen als Mitwirkende.


    Die Zarenbraut
    Ein großartiges Stück voller leidenschaftlicher Arien und großer Ensembles. Für das Mariinsky kam die Aufnahme (1998) etwas früh, denn heute ist Anna Netrebko (wie in San Francisco und St. Petersburg zu erleben gewesen) eine hochklassige Marfa. Was wäre das für ein Verkaufschlager : Anna Netrebko, Olga Borodina und Dmitry Hvorostovsky in einer Aufnahme vereint? Marina Shaguch ist keine Sängerin, bei der man die Ohren unwillkürlich öffnet; eben guter Durchschnitt. Borodina natürlich eine Klasse für sich, ebenso Hvorostovsky, obwohl hier vielleicht mehr durch sein Samttimbre als durch die Stimmfülle auffallend, denn diese Partie war damals noch ein bißchen zu dramatisch für ihn. Evgeny Akimov Tenor klang 1998 noch etwas zu quäkend; erst heute hat sie mehr Körper bekommen.
    Fazit : Keine schlechte Aufnahme, aber ich werde immer zur Einspielung Fuat Mansurovs mit einem Spitzenquintett zurückkehren : Vishnevskaya, Arkhipova, Atlantov, Valaitis, Nesterenko.


    Der unsterbliche Kaschtschej
    Vom Stoff her Strawinskys Feuervogel verwandt, paßt das Stück mit seiner Länge von 70 Minuten ideal auf eine CD. Gergievs Aufnahme stammt ausnahmsweise einmal nicht von der Bühne des Mariinsky-Theaters, sondern wurde im Großen Saal der Philharmonie aufgenommen. Das Stück ist es wert, auf CD eingespielt zu werden, wartet aber noch auf ein optimales Solistenquartett. Alexander Morozov wurde unverständlicherweise einem Ognovenko vorgezogen, und es ist kein Genuß, seinem abgesungenen Baß zuzuhören. Zu Shaguch : siehe oben. Konstantin Pluzhnikov ist ein exzellenter Charaktertenor, dessen Exaltiertheit gut zu seiner Rolle als Kaschtschej paßt, während Alexander Gergalovs Prinz guten Durchschnitt prässentiert. Bleibt noch Larissa Diadkova mit ihrem pastosen Alt.


    Die Legende der unsichtbaren Stadt Kitezh und der Jungfrau Fevronia
    Warum ist diese Oper nur in dieser Besetzung erschienen bzw. zu diesem Zeitpunkt aufgenommen worden? Galina Gorchakova, in Amsterdam und Hamburg, eine geradezu himmlische Fevorina, ist nicht besonders vorteilhaft aufgenommen worden, und Alt-Star Yuri Marusin, auch heute noch einer der Publikumslieblinge am Mariinsky, zeigte als Vsevolod sein übliches Selbst : wenn er eine Höhe bekam, setzte er sich drauf, aber darunter enerviert sein ständiges Distonieren. Großartig dagegen Vladimir Galuzin und Nikolai Putilin, während Nikolai Okhotnikovs Baß dem Alter langsam Tribut zollen mußte. Ein merkwürdige Mischung aus altem (Marusin und Okhotnikov) und neuem (Gorchakova, Galuzin, Putilin) Mariinsky.
    Und die Alternativen? Fedoseyevs Bregenz-Mitschnitt ist leider keine, denn damit Regisseur Harry Kupfer das Stück seinen Intentionen zuliebe "zuschneidern" konnte, wurde es erheblichen Kürzungen unterworfen (Was kann schließlich Kupfer dafür, daß Rimsky-Korsakow zu seiner Inszenierung keine Musik eingefallen ist?) Und auch Nebolsin oder Svetlanov sind nur für diejenigen etwas, die größerer orchestraler Präzision zuliebe auf Sänger wie Gorchakova oder Galuzin verzichten möchten.
    Eine Idealbesetzung wäre gewesen : Gorchakova, Grigorian, Galuzin, Putulin, Bezzubenkov (gehört in Amsterdam bzw. z.T. in Hamburg).


    Sune

  • Sune hat hier in Achtung gebietender Objektivität zuletzt Gergievs Einspielungen der Opern Rimskij-Korsakows besprochen. Dazu noch ein paar Anmerkungen.
    Sowohl "Der unsterbliche Kaschtschei" als auch "Kitesch" sind einzigartige Opern. Rimskij war in seinen Bühnenwerken oft ein relativ fantasieloser Handwerker, nicht zu vergleichen mit Mussorgskij oder Borodin.
    "Kaschtschei" und "Kitesch" stehen aber auf einem völlig anderen Niveau: Beide Opern basieren auf einer stark chromatischen Musik, die oft modal gefärbt ist und auf einer Skala beruht, in der jeweils ein Ganzton und ein Halbtonschritt abwechseln, also beispielsweise c-des-es-e-fis-g-a-b. Diesen Modus verwendet später auch Messiaen.
    Sowohl "Kaschtschei" als auch "Kitesch" verlieren dadurch über weite Strecken die Bindung an eine Funktionsharmonik, Dreiklänge und tonal deutbare Akkorde sind als Eigenwert nur auf sich selbst bezogen. Rimskij wird dieses Verfahren in der Oper "Der goldene Hahn" weiter perfektionieren - ewig schade, dass dieser Geniestreich von Gergiev nicht aufgenommen wurde. Jedenfalls ist es von "Kaschtschei" und "Kitesch" nur ein kleiner Schritt zum frühen Strawinskij, dessen "Petruschka" mitunter frappant an "Kitesch" erinnert.


    Den "Kaschtschei" besitze ich auch in einer Mono-Aufnahme mit Kräften des Bolschoj unter Samossud aus dem Jahr 1948. Trotz einer Gesamtspielzeit von nur rund 70 Minuten hat Melodija das Werk auf 4 Langspielplaten-Seiten verteilt. Die Aufnahme ist technisch verblüffend gut, gesungen wird hinreißend (wesentlich besser als bei Gergiev), und das Orchester funkelt in allen Farben. Gergiev macht vielleicht mehr Druck als Samossud, aber gegen die Streicher, die das Bolschoj damals zur Verfügung hatte, kommt kein Opernhaus so leicht an.


    "Kitesch" ist ein besonderer Liebling von mir - und deshalb finde ich vielleicht noch härtere Worte als Sune für das Verbrechen, das man in Bregenz an dieser Oper begangen hat: Die Striche sind völlig unsinnig, musikalische und textliche Entwicklungen wurden verkrüppelt, es ging ausschließlich darum, Harry Kupfer eine Begleitmusik für seine höchst unnotwendige Inszenierung zu liefern. Die größte Frechheit war dabei das Argument, man könne "Kitesch" einem westlichen Publikum nicht ungekürzt vorsetzen, die Oper sei für ein westliches Publikum viel zu lang und in der Substanz zu dünn, die Kürzungen kämen einer Rettung des Werkes gleich.
    Dazu kommt eine inferiore Leistung des Orchesters, und wirklich begeistern konnte sich Dirigent Vladimir Fedoseyev offenbar auch nicht für die übrigens auch gesanglich extrem uneinheitliche Produktion.


    Wesentlich besser klingt da die Bolschoj-Aufnahme unter Svetlanov, der für unglaubliche Dramatik sorgt und rhythmische Stürme entfesselt, als ginge es um Strawinskijs "Sacre". Allerdings ist auch die Bolschoj-Aufnahme nicht in allen Facetten einwandfrei gesungen - es ist ein Mitschnitt, und Svetlanovs Dynamik fordert Opfer. Dass das Publikum mitunter rücksichtslos in die Musik hineinapplaudiert, mag man als Atmosphäre akzeptieren, mich persönlich stört's ein wenig. Insoferne bin ich froh, auch die Gergiev-Aufnahme zu haben. Ich würde die Aufnahmen als etwa gleichwertig bezeichnen.
    Es soll auch eine ältere Bolschoj-Aufnahme existieren, sie ist mir allerdings noch nicht in natura untergekommen.


    Die "Zarenbraut" ist eine von jenen Opern, die mit dem Ensemble triumphieren oder untergehen - eine Art "Große Oper" auf der Basis der Ästhetik des Mächtigen Häufleins. Die von Sune genannte Aufnahme Mansurovs ist bis heute konkurrenzlos - obwohl das Tremolo der Archipova meiner Meinung nach gewöhnungsbedürftig ist und die Ensembles in der Balance auch nicht ganz stimmen, weil die Frauen fast immer eine merkliche Nuance lauter singen als die Männer.


    Was ich mir wünschen würde: Schostakowitschs "Lady Macbeth" entweder in der Erstfassung oder in der "Katerina Ismailova"-Version unter Gergiev mit Netrebko (hier wäre sie passend) und dem Mariinskij-Ensemble. Die beiden russischen Aufnahmen des Werkes sind nämlich längst in den Melodija-Katakomben begraben. Und es ist einfach schade, dass es zur Rostropowitsch-Aufnahme, die in einigen kleineren Rollen nicht ideal besetzt ist und deren Orchester die emotionale Bandbreite russischer Orchester vermissen lässt, keine ernst zu nehmende Alternative gibt.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Was ich mir wünschen würde: Schostakowitschs "Lady Macbeth" entweder in der Erstfassung oder in der "Katerina Ismailova"-Version unter Gergiev mit Netrebko (hier wäre sie passend) und dem Mariinskij-Ensemble. Die beiden russischen Aufnahmen des Werkes sind nämlich längst in den Melodija-Katakomben begraben. Und es ist einfach schade, dass es zur Rostropowitsch-Aufnahme, die in einigen kleineren Rollen nicht ideal besetzt ist und deren Orchester die emotionale Bandbreite russischer Orchester vermissen lässt, keine ernst zu nehmende Alternative gibt.


    Auch ich bin der Meinung, daß es zu der Rostropowitsch-Aufnahme der "Lady Macbeth von Mzensk" keine ernst zu nehmende Alternative gibt; in der Chung-Einspielung sehe ich jedenfalls keine. Dazu ist mir die Titelpartie mit Maria Ewing zu schwach und die ganze Produktion wieder einmal zu "international", also zu wenig idiomatisch besetzt. Im Gegensatz zu Edwin kann ich bei Rostropowitsch "die in einigen kleineren Rollen nicht ideal besetzt" nicht erkennen oder für nicht so bedeutsam halten. Natürlich sind Gedda und Krenn als Sergej bzw. Sinowy typische Studio-Besetzungen und wären auf der Bühne kaum zu hören gewesen, aber dies sind doch keine "kleineren Rollen". Also wer dann? Tear? Mroz? Finnilä? Valjakka?


    Natürlich hielte auch ich eine Einspielung unter Gergiev für wünschenswert. Darf ich mal meine Idealbesetzung liefern? In der Titelrolle Galina Gorchakova (in der Form zur Zeit der Renata; die Katerina hat sie in Vor-Mariinsky-Zeiten in Novosibirsk gesungen, danach nie wieder) oder heute Olga Sergeyeva (singt heute Brünnhilde und Isolde), als Sergej Vladimir Galuzin, als Sinowy Evgeny Akimov, als Boris Gennady Bezzubenkov, als Schäbiger Konstantin Pluzhnikov usw.


    Aus meiner Erwähnung der Damen Gorchakova bzw. Sergeyeva kann man leicht entnehmen, daß ich eine Besetzung mit Anna Netrebko für höchst abwegig finde, es sei denn, jemand wünscht ihr einen baldigen Stimmtod. Diese Partie muß zwar auch schön gesungen werden, ist aber (wie die Renata) ein richtiger Stimmkiller. Abgesehen von Netrebkos fehlender stimmlicher Eignung halte ich sie auch vom Typ her fehlbesetzt, zu sehr in der Opferrolle. IMO muß Katerina jedoch ambivalent gezeichnet werden; man muß ihr abnehmen, daß sie Täterin und Opfer zugleich ist.


    In Deutschland habe ich als Katerina (mit Ausnahme Renate Behles in Hamburg und Hannover sowie Marilyn Schmieges in Stuttgart) immer nur abgetakelte Charaktersoprane wie Karan Armstrong oder Olivia Stapp gehört. In diesem Stadium befindet sich Netrebko zum Glück noch nicht.


    Zum Schluß : Welche beiden Melodya-Aufnahmen meinst Du? Die unter Provatorov ist tatsächlich nie auf CD erschienen, jedoch die unter Tourtchak (jedoch in der Katerina Ismailowa-Version) gibt es auf CD.


    Prost Neujahr (Ich melde mich nach meiner Rückkehr aus Petersburg wieder)!


    Sune

  • Hallo Sune,
    Die Tourtchak-"Katerina" ist mir nur als Schallplatte bekannt. Auf welchem CD-Label ist sie erschienen? Mein an sich sehr williges und in der Regel gut informiertes Fachgeschäft in Wien hat nie etwas in dieser Art gefunden.


    Du hast völlig recht mit den ausgesungenen Opernscharteken, die sich auf die Katerina werfen, weil sie glauben, da genügt es, laut zu singen (und die falschen Töne hört ja keiner...).
    Gerade deshalb würde mich die Netrebko in dieser Rolle interessieren.
    Du darfst nicht vergessen, welche Rollen die Netrebko laut Interview in der österreichischen Illustrierten "News" anpeilt, u.a. Isolde (oder war's die Brünnhilde? - Jedenfalls eine von den beiden.)
    Wobei die Katerina sicherlich schwer zu singen ist, aber nicht an die Grenze zur Unsingbarkeit geht: Sie hat zwar oft in der hohen Lage zu singen, aber selten gegen das volle Orchester; und sie wird vom Orchester gut gestützt. Und eine lyrisch singende Katerina wäre ideal, etwa im Liebesduett mit Sergej. Abgesehen davon könnte man der Netrebko die pralle Erotik abkaufen. Nicht vergessen: Leskows Katerina ist keine alternde Frau, die noch einmal was erleben will, sondern ein junges Ding, das an der Seite eines älteren Mannes versauert und lieber selbst bestimmen möchte, mit wem es Sex hat.
    Wie die Gorchakova heute bei Stimme ist, weiß ich nicht, als Renata ist sie grandios (in Wien glaubte Anja Silja, das noch singen zu können, Du kannst Dir vorstellen, mit welchen Ergebnis, mehr als "tapfer" war nicht drin), wenn sie immer noch so singt, dann würde es schon passen. Obwohl, wie gesagt, mir persönlich eine lyrischere Katerina lieber ist.


    Zur Rostropowtsch-"Katerina": Mit den kleineren Rollen meine ich z.B. Alexander Malta als Alten Strafgefangenen, der es an Volumen doch sehr mangeln lässt (da wäre wohl Aage Haugland besser gewesen, der den Sergeanten singt), ich meine, völlig richtig, Robert Tear als Bauer, der meiner Meinung nach keine Ahnung hat, was er singt.
    Für mich ist aber auch der Klang des Orchesters ein Problem. Russische Orchester haben eine gewaltige Bandbreite von zarten Streicherkantilenen bis zur brutalen Blechbläserentladung. Was das London Philharmonic liefert, ist sehr, sehr schön, aber zum Beispiel dieses dunkel-nervöse Vibrieren der Fagotte und der Posaunen-Bässe, diese Körnigkeit der Oboen und diese klar konturierten Hörner fehlen dem London Philharmonic. Für mich klingt diese Aufnahme einfach etwas zu romantisch.
    Aber natürlich muss man die Vischnevskaya in dieser Rolle gehört haben und man muss auch gehört haben, mit welcher Logik Rostropowitsch bei der Tempo- und Steigerungsdramaturgie vorgeht - das ist und bleibt, trotz meiner kleinen Einwände, eine Referenz-Aufnahme, bei der Chung und die Bastille-Partie nicht mitkommt.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Wie die Gorchakova heute bei Stimme ist, weiß ich nicht, als Renata ist sie grandios (in Wien glaubte Anja Silja, das noch singen zu können, Du kannst Dir vorstellen, mit welchen Ergebnis, mehr als "tapfer" war nicht drin), wenn sie immer noch so singt, dann würde es schon passen. Obwohl, wie gesagt, mir persönlich eine lyrischere Katerina lieber ist.


    Prost Neujahr, Edwin und "Taminonianer"!


    Zunächst einmal : Die Tourtchak-Aufnahme besitze ich von Le Chant du Monde (Nr. 278 1021/23). Zwar bin ich von morgen einige Tage in Petersburg, aber da ich die ganze Zeit im und am Theater herumhängen werde, wird mir die Zeit fehlen, um die paar mir bekannten Geschäfte mit (preiswerten) CDs aufzusuchen. Versuche es doch einmal über http://www.russiandvd.com.


    Dann zur Gorchakova. Ja, sie singt noch, doch : "In dem (Wo und) Wie, da liegt der ganze Unterschied." Sie, die früher an wirklich allen großen Bühnen der westlichen Welt sang, muß heute schon froh sein, wenn sie z.B. in Dublin einen konzertanten "Trovatore" oder in Tallinn einen Arienabend bekommt. Nachdem sie Gergiev in einem Interview vorgeworfen hatte, ihre Karriere ruinieren zu wollen, wird ihr auch das Mariinsky-Theater in der Zukunft wohl verschlossen bleiben.


    Gorchakova besitzt (leider) nicht das natürliche Phlegma einer Olga Borodina, das verhindert hat, in der westlichen Welt verheizt zu werden. Sie wollte zu schnell zuviel, und das machte die Stimme nicht mit. Dazu kamen diverse persönliche Probleme. Sie, die in russischen Partien (Renata, Iolanta, Lisa, Tatjana u.a.) einzigartig war, besaß prinzipiell natürlich das Format, die Spinto-Partien im Westen zu singen, doch sie bzw. ihr Management ließen zu, daß sie von einer Tosca zur nächsten eilte und so die lyrischen Qualitäten ihrer Stimme verlor.


    Ich hörte via Internet die beiden Aufführungen in Dublin und Tallinn. Die Stimme hat nach wie vor ein wahnsinnig interessantes Timbre; Probleme hat Gorchakova jetzt mit der Technik und den Nerven. In der ersten "Trovatore"-Arie begann sich einem schon beim Zuhören die Kehle zuzuschnüren, und in der Kadenz vor der Kabaletta "kiekste" die Stimme.


    Vor 10 Jahren wurde bei uns in Mikkeli ihr erstes Arien-Recital aufgenommen, und Gorchakova war unüberhörbar nicht in bester Stimme und hatte schreckliche Probleme mit der Mittellage, die ein riesiges "Loch" von Baltsa-Ausmaßen besaß. Das Beste wäre es gewesen, die Aufnahme abzublasen, doch es wurde weiter aufgenommen (Gorchakova und auch der Zuhörer litten), und als die CD kurze Zeit später erschien, war von den Problemen nichts zu bemerken. Es war also nachgebessert worden, entweder durch Korrektursitzungen (doch die fanden dann nicht mehr in Mikkeli statt) oder durch freundliche Nachhilfe des Tontechnikers.


    Jeder Künstler (besonders wenn er sich als Russe in der westlichen Welt mit íhrer Ex und hopp-Mentalität bewegt) sollte in seinem Sprachschatz das kleine Wort "Nein" so oft wie möglich anwenden, und deshalb halte ich den abgeblich Isolden-Wunsch der Netrebko für eine der üblichen Sprechblasen, die sie (leider) bei Interviews im Westen abzusondern pflegt. Daran ist nun wirklich nicht zu denken (und zum Glück ist sie - rein altersmäßig - kein Teenager mehr).


    Weiterhin so rege Diskussionen wünscht sich


    Sune

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Iolanta
    Daß diese Oper nicht häufiger gespielt wird, liegt m.E. an ihrer Länge bzw. Kürze; sie hat die problematische Länge von ca. 80 Minuten, d.h. zu kurz, um alleine gespielt zu werden, zu lang, um mit einem zweiten Werk kombiniert zu werden. Bei der Uraufführung hat man dies jedoch getan und nach ihr den Nußknacker aufgeführt.


    Dabei verdiente es diese Oper, zumindest von der Musik her bekannter zu sein. Lyrisch-schwelgerischer Tschaikowsky mit Arien für die fünf Protagonisten und einem wunderschönen ausgedehnten Liebesduett. In konzertanter Form erlebt man "Iolanta" häufiger, u.a. gab es kürzlich in Ö 1 den Mitschnitt einer konzertanten Aufführung 1993 in Wien, zwar unter Gergiev, aber mit einer von dieser nur ein Jahr später entstandenen Aufnahme vollkommen abweichenden Besetzung.


    Diese hier ist vom Feinsten : Galina Gorchakova auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit mit einer dunkel timbrierten Stimme voller Höhenstrahl, sehr gut ihr Tenorpartner Gegam Grigorian, bevor er sich am Otello und vielen Auftritten im Westen verhob, luxuriös Dmitry Hvorostovsky mit seinem samtigen Bariton, auchNikolai Putilin und der sonore Sergey Alexashkin. Unbedingt empfehlenswert.


    Mazeppa
    Eine Wiener Zeitung schrieb kürzlich in ihrer Vorschau auf das Schostakowitsch-Jahr sinngemäß : Wer es laut und üppig mag, für den sei Gergiev etwas. Nun, dann ist "Mazeppa" das richtige Stück für ihn, bei dem er die Klangmassen leidenschaftlich aufwallen und bei Bühnenaufführungen bei der Schlacht zu Poltava die Bühnenmusik an der Rampe aufmarschieren lassen kann.


    Um mit dem Positiven anzufangen : Larissa Diadkova, Nikolai Putilin und Sergey Alexashkin waren zu keinem Zeitpunkt besser zu hören als bei dieser Aufnahme, obwohl der Kochubej für Alexashkin unangenehm hoch liegt. Viktor Lutsiuk ist ein recht "dröger" Tenor, und Irina Loskutova erwies sich leider nicht als der Gorchakova-Ersatz, als der sie kurze Zeit gehandelt wurde. Als Katarina Ismailova (ein Jahr zuvor vom Maly- ans Mariinsky-Theater geholt) war sie überzeugender, und sie konnte durch ihr gekonntes Spiel übertünchen, daß ihre Stimme technische Mängel hatte. Diese fallen nun als Maria stark ins Gewicht - ihre unruhige Stimmführung mit diversen Intonationstrübungen nervt doch stark.


    Hier ist die Järvi-Aufnahme, bei der die DG in den Hauptpartien (Gorchakova, Leiferkus, Kotcherga) russische Kräfte verpflichtet hatte, ein starker Konkurrent, obwohl nicht zu überhören ist, daß Gorchakova die Partie nur für diese Aufnahme gelernt hatte und nicht wirklich "drin ist".


    Pique Dame
    Von dieser Oper gibt es so viele Aufnahmen, und trotzdem würde ich diesen frühen Gergiev (1992) mit leichten Einschränkungen empfehlen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme besaß das Mariinsky-Theater keine eigene Lisa (Schewtschenko war nicht gut genug, Gorchakova noch nicht auf der Bildfläche erschienen), und so nahm man die international erfahreneMaria Guleghina, eine Stimme von apartem Timbre mit einigen Höhenschärfen. Auch Irina Arkhipova, die große Dame der russischen Opernszene, gehörte nicht zum Ensemble. Wen's stört, der sollte zur DVD greifen, bei dem das Ensemblemitglied Ludmila Filatova mehr darstellerisch als stimmlich überzeugt. Olga Borodina und Dmitry Hvorostovsky (auch er "Gast") sind natürlich Luxusbesetzungen, wie auch Nikolai Putilin, und mit Gegam Grigorian hat man einen Hermann in der Rolle seines Lebens (sowohl auif CD als auch auf DVD).


    Interessantes Detail am Rande. Im Schäferspiel singt hier Borodina Prilepa/Chloe, normalerweise von einer Sopranistin gesungen, und Guleghina übernimmt Milovzor/Daphnis, normalerweise von einem Mezzo (Borodina) interpretiert. Mir ist bisher nicht aufgegangen, welcher Sinn dahinter steckt.


    Hätte Philips einige wenige Jahre mit der Aufnahme gewartet, hätte man mit Gorchakova - Galuzin eine m.E. Traum-Konstellation gehabt. Doch auch so sind sowohl CD als auch DVD (hier singen Gergalov statt Hvorostovsky und Leiferkus statt Putilin) sehr zu empfehlen.


    Der abschließende Beitrag "Gergiev mit Verdi-Einspielungen" wird mangels Masse recht kurz ausfallen.

  • Hallo Sune


    Zitat

    ...sie hat die problematische Länge von ca. 80 Minuten, d.h. zu kurz, um alleine gespielt zu werden, zu lang, um mit einem zweiten Werk kombiniert zu werden.


    Meinst du wirklich? Cavalleria und Pagliacci dauern zwischen 70 und 80 Minuten, beim Tryptichon sind es dreimal über 50 Minuten, und von den langen Opern will ich erst gar nicht erst anfangen. Die Länge kann es also eigentlich nicht sein. Wenn, dann schon eher das Problem, womit sie sinnvollerweise kombiniert werden kann. Da muss also nach etwas Passendem oder nach einem bewußten Gegenstück gesucht werden...



    Prosit 2006

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Sune, Du bist ein As! Danke für die Adresse! Zwar wäre es nur recht und billig, Dich an den Kosten mitzubeteiligen, die jetzt auch durch die DVD-Ankäufe erwachsen, aber ich will mal nicht so sein...! :D


    Ad Theophilus und "Iolanta": Ein Hauptgrund, dass diese sehr interessante Oper nicht gespielt wird, ist auch meiner Meinung nach die Dauer: Das Stück ist zu kurz, um einen Abend allein zu bestreiten, aber nicht zu lang, sondern zu gewichtig, um eine ideale Kombination abzugeben. Eine freie Operngruppe in Wien wollte das Stück einmal machen und fragte mich, was ich als Kombination vorschlagen würde - und ich muss gestehen, ich war ziemlich ratlos. Am besten geeignet sind mir Cuis "Nachtlager", Rachmaninows "Geiziger Ritter" oder Flejschmanns "Rothschilds Geige" erschienen; dann verfiel man auf Menottis "Telefon" - und dann wurde gar nichts daraus.


    Ich finde, man muss den Mut haben, "Iolanta" allein zu spielen - ist halt ein kurzer Abend, aber nicht so viel kürzer als "Salome". Und das Werk ist wirklich fabelhaft!


    ad "Pique Dame": Ich habe da eine Aufnahme mit Rostropowitsch und der Vishnevskaya, die auch nicht übel ist. Was mir an der Gergiev-Aufnahme so imponiert, ist, wie modern das Werk im Vergleich klingt. Gergiev bringt eine Härte in den Klang und eine Unerbittlichkeit in den Rhythmus, die das Stück jeder Sentimentalität oder Salonhaftigkeit entkleiden. Rostropowitsch ist wesentlich lyrischer, entspricht viel eher dem Klischee, das man von Tschaikowskij halt hat. Allerdings ist die Vishnevskaya wieder fabelhaft. Ich muss sagen, dass ich keine der beiden Aufnahmen missen will.

    ...

  • Das St. Petersburger Mariinsky-Theater ist fast eine touring company, das - während der Betrieb zu Hause weiterläuft - zu ausgedehnten Tourneen unterwegs ist. Im Sommer 1999 feierte man in London mit russischen Opern wahre Triumphe, während es zwei Jahre später in derselben Stadt ein Desaster gab. Gergiev war so waghalsig gewesen, das verwöhnte Londoner Publikum mit Verdi statt mit russischem Repertoire - und das zu horrenden Presen! - beglücken zu wollen. Und auf einmal stellte die englische Presse fest, daß an der Newa auch nur mit Wasser gekocht wird, zumal in nicht heimischem Reperoire.


    Ich vermute, Gergiev schloß von sich auf seine Gesamt-Truppe (ich halte ihn für einen Dirigenten, der dem Zuhörer auch bei Verdi etwas zu sagen hat), außer Acht lassend, daß man in St. Petersburg nur dann, wenn alles Stars ausnahmsweise einmal zur selben Zeit versammelt sind, Verdi auf hohem Niveau aufführen kann / konnte.


    Wie gut Gergiev als Verdi-Dirigent ist, kann man neben einem (durch die Besetzung) eher mittelprächtigen Requiem an einer interessanten Aufnahme der Oper "La forza del destino" erfahren, interessant deshalb, weil hier auf die Uraufführungsversion zurückgegriffen wurde (die "Forza" war 1862 in St. Petersburg uraufgeführt worden) und nicht auf die Umarbeitung von 1869. Dafür hatte Verdi statt des kurzen Vorspiels von 1862 eine komplette Ouvertüre komponiert, viele Passagen überarbeitet, den 3. Akt neu instrumentiert und - vor allem - eine völlig neue Schlußszene geschaffen.


    Doch nicht nur aus philologischen Gründen ist diese im Dezember 1995 entstandene Einspielung interessant, sondern auch weil sich an ihr deutlich ablesen läßt, wie ein damals noch intaktes Ensemble sich mit einem Werk der westlichen Musikliteratur im Vergleich mit den großen Sängern der Welt zu behaupten versucht. Und dies gelingt durchaus respaktabel.


    Galina Gorchakova hat das richtige Spinto-Material für die Leonora, wenn auch schon damals nicht zu überhören war, daß ihr Sopran technisch nicht immer sauber geführt ist. Olga Borodina ist natürlich eine Luxus-Preziosilla, wunderschön timbriert, temperamentvoll; sie hat diese Partie allerdings nie zu Hause gesungen (wie man auf einem Video dieser Inszenierung feststellen kann, tat dies in St. Petersburg ihre Kollegin Marianna Tarasova). In dieser frühen Fassung ist der Alvaro teuflisch schwer, meist in einer für die Tenöre höchst unbequemen Tessitura gehalten. Dies in Rechnung gestellt, wird Gegam Grigorian respektabel mit den Schwierigkeiten der Partie fertig, die die meisten anderen Tenöre wohl davon abhalten würde, diese Version einzustudieren. 1995 stand Nikolai Putilin noch am Anfang einer Karriere, die ihn an die großen Bühnen der westlichen Welt führte. Später sang er mit Holländer, Rheingold-Wotan und Boris Partien, für die er seinen Bariton künstlich abdunkeln, ihm mehr Gewicht in der Tiefe verleihen mußte, was ihm nicht allzu gut bekam, so daß sein sonst so imposantes Material dumpf zu klingen begann. Zum Glück ist davon noch nichts zu spüren; ein großartiger Don Carlos, ebenbürtig den großen Baritonen des Westens. Mikhail Kits Guardiano ist mir zu trocken geraten, Georgy Zastavnys Melitone ohne die nötige vis comica. Für beide Rollen wäre der an den Alcade vetschwendete Gennady Bezzubenkov die passendere Besetzung gewesen.


    Genauso anfeuernd und Energie geladen wie hier in der "Forza" dirigiert Gergiev auch eine "Aida", einen "Ballo", einen "Macbeth", einen "Don Carlo" ("Falstaff" hat jetzt am 15./16. Februar Doppelpremiere am Mariinsky-Theater), doch - so bedauerlich es ist, daß gerade seine Interpretation dieser Verdi-Opern nicht für die Nachwelt festgehalten wurde - ich kann es keinem Firma verdenken, daß sie die Chance zu einer Aufnahme versteichen ließ. Bedauerlicherweise hat das Mariinsky-Theater heute (auch wenn alle Stars einmal versammelt sind) keine Besetzung der Gesangspartien, mit der man einem Vergleich mit den sich auf dem Markt befindlichen Aufnahmen standhalten kann.


    Die "Forza" jedoch ist sehr empfehlenswert.


    Sune

  • Hallo,
    etwas weiter vorn war von Gergievs Spontanität die Rede:
    Vor ein paar Jahren haben wir in Baden-Baden das Verdi-Requiem mit ihm gemacht - Die Probe mit ihm vor dem Konzert dauerte knapp 30 Minuten und beschränkte sich auf die ppp-Stellen. Unser Chor (Extrachor des Karlsruher Staatstheaters) war ihm völlig fremd bis dahin, und so hat uns das schon etwas verwundert. Aber es "kam was rüber" von ihm, so daß die Sache auch in den Hochgeschwindigkeitsbereichen gut geklappt hat.
    Gruß
    Niels

  • Zitat

    Original von archos
    Hallo,
    etwas weiter vorn war von Gergievs Spontanität die Rede:
    Vor ein paar Jahren haben wir in Baden-Baden das Verdi-Requiem mit ihm gemacht - Die Probe mit ihm vor dem Konzert dauerte knapp 30 Minuten und beschränkte sich auf die ppp-Stellen. Unser Chor (Extrachor des Karlsruher Staatstheaters) war ihm völlig fremd bis dahin, und so hat uns das schon etwas verwundert. Aber es "kam was rüber" von ihm, so daß die Sache auch in den Hochgeschwindigkeitsbereichen gut geklappt hat.
    Gruß
    Niels


    Hallo Niels!


    Was Du hier beschreibst, ist die Regel und nicht die Ausnahme. Als Gergiev vor wenigen Jahren hier in Helsinki das Verdi-Requiem dirigierte, kam er erst 55 Minuten vor Konzertbeginn in der Domkirche an, wo die Aufführung stattfinden sollte (sein Flugzeug aus Italien hatte Verspätung). Der ganze Mariinsky-Troß war erst 1 1/2 Stunden vor Beginn eingetroffen, und als ich den Chorleiter fragte, wo denn der Chor postiert werden würde, meinte er : "Keine Ahnung!". Der Chor sang dann schließlich auf der Empore. In Gergievs Abwesenheit begann der Chorleiter mit der Probe, die dann von Gergiev genau in der Art, wie Du sie beschriebst, fortgesetzt wurde. Er experimentierte lediglich mit der Aufstellung der Solisten, die er zunächst hinter dem Orchester haben wollte, schließlich dann aber doch neben dem Dirigentenpult postierte.


    Danke für den Eindruck, "daß was 'rüber kam". So ist es meistens!


    Schöne Grüße aus Finnland


    Sune

  • Hallo Sune,
    weißt Du zufällig, wie Gergiev Roschdestwenskij einschätzt?
    Genau diese Proben kenne ich von Roschdestwenskij, der damit in seiner viel zu unterbewerteten Zeit als Chefdirigent die Wiener Symphoniker zur Verzweiflung trieb. Schostakowitschs "Zweite" probte er nur in ein paar Ausschnitten, vor allem einige Chorstellen. Die Aufführung funktionierte dennoch - und hatte eine ungeheure Spannung. Kein Wunder, die Musiker hatten Angstschweiß im Gesicht.
    Im Handumdrehen konnte Roschdestwenskij zum Probenfanatiker werden: Schnittkes Kantate "Seid nüchtern und wachet" wurde mit Zusatzproben und Orchestergruppen-Proben so genau einstudiert, dass die Musiker das Werk fast auswendig kannten.
    Das scheint mir eine etwas ähnliche Art zu sein: Spontanität, wenn möglich, Dressur, wenn notwendig.
    LG

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