Nachdem Cosima einen ähnlichen Thread auf dem Instrumentaksektor eröffnet hatte, möchte ich dies einmal für den Opernbereich versuchen und aus meiner Sicht eine Einschätzung der auf CD erhältlichen Opern-Gesamtaufnahmen unter der Leitung Valery Gergievs abgeben. Dazu eine notwendige Vorbemerkung. Es handelt sich dabei in den meisten Fällen um Mitschnitte von Aufführungen, entweder im heimischen Mariinsky-Theater oder auf Gastspielreisen. Wer Gergievs Terminkalender und die Gepflogenheiten dieses Opernhauses kennt (z.B. den Spielplan mit täglicher und abwechselnder Bespielung sowie 2 Aufführungen am Nachmittag), wird eher geneigt sein, in Sachen Genauigkeit nicht immer den allerhöchsten Maßstab anzulegen.
Borodin : Fürst Igor
Für Musikphilologen werden der Umstellung einiger Szenen (Polowzer Lager) interessant. Gergievs Leitung vereint alle seine bekannten Vorzüge : Dynamik und Ausdruck pur! Luxuriös mit Gorchakova und Borodina die Damen, Grigorians Vladimir ist seit seinem Weggang vom Mariinsky-Theater unerreicht; Kit ist mit seinem etwas trocken timbrierten hohen Baß wie immer ein solider Sänger, nicht mehr, aber auch nicht weniger, und für die anderen beiden Baßpartien sind Minzhilkiev und Ognovenko Vertreter der etwas knorrig-knarzenden Art.
Glinka : Ruslan und Lyudmila
Wie der Igor ist auch der Ruslan ungemein schwierig zu besetzen, da weder dem Bariton- noch dem Baßfach genau zuzuordnen : für einen Baß zu hoch, für einen Bariton zu tief. Dies vorausgeschickt, ist Ognovenko durchaus ein guter Ruslan. Für Anna Netrebko war die Lyudmila die Partie, die ihr auch international erste Anerkennung verschaffte. Wie gut sie als Lyudmila ist, kann man vor allem ermessen, wenn man bedenkt, von welchen dünnstimmigen weißtimbrierten "Piepsen" solche Rollen in der Sowjetunion früher gesungen wurden. Netrebko begeistert dagegen mit einer in allen Lagen ausgeglichenen, besonders in der Höhe wunderschön kopfig geführten Stimme. Großartig auch solche Spitzensänger wie Gorchakova als Gorislava, Diadkova als Ratmir und Bezzubenkov als Farlaf, mit dem durch Schaljapin bekannt gewordenen Bravourstück, dem Rondo des Farlaf.
Massenet : Hérodiade
Mitschnitt der San Francisco Opera. Natürlich unerläßlich für Fleming-, Domingo- und Gergiev- Fans; wer dagegen in erster Linie an dem Stück interessiert ist, sollte eher zur Plasson-Einspielung greifen, die idiomatischer ausgefallen ist.
Mussorgsky : Boris Godunow
Entstanden im Studio des Holländischen Rundfunks. Interessant wegen der Gegenüberstellung der 1869- und 1872-Version. Boris von zwei verschiedenen Sängern interpretiert : in der 1869-Fassung von Nikolai Putilin, der seinen Verdi-Bariton künstlich herabdrücken muß, sowie 1982 von Vladimir Vaneev, für den verstorbenen Minzhilkiev vom Maly-Theater gekommen, wegen seiner großen Ähnlichkeit mit Boris Jelzin Boris in der Salzburger Wernicke-Produktion verwendet : nicht schlecht, aber dem Vergleich mit Kipnis, Christoff, London, Ghiaurov und Co. nicht standhaltend. Marina und Dmitri kann man auf anderen Aufnahmen gleich gut, aber nicht besser als mit Borodina und Galusin hören. Bei der großen Szene zwischen beiden knistert es. Für Okhotnikov kam der Pimen in dieser Aufnahme etwas spät; dafür ist als Rangoni mit Yengeni Nikitin eine der großen Heldenbariton-Hoffnungen zu hören.
Mussorgsky : Chowanschtschina
In dem Instrumentalthread wurde Gergiev weder fehlender rhythmischer Präzision und fehlender Chor-Homogenität gerügt. "Mich kümmert's minder", dafür ist es ein Live-Mitschnitt, den es in leicht veränderter Besetzung auch auf DVD gibt. Großartige Besetzung u.a. mit Borodina (Marfa), Galusin (Andrey) und Minzhilkiev, dem kirgisischen Schaljapin als Ivan Khovansky. Diese Aufnahme enthält die sonst fast immer gestrichene Szene zwischen dem deutschen Pastor und Golitsyn; die Schluszene (bei Abbado in der Strawinsky-Version) wird hier in einer anderen Fassung gespielt. Obwohl das Werk sich in der Rimsky-Korsakow-Bearbeitung durchgesetzt hat, finde ich die hier benutzte Schostakowitsch-Instrumentierung Schostakowitsch-näher.
Fazit : Für den Gergiev-Fan sind natürlich alle Aufnahmen habenswert. Für alle anderen würde ich von diesen Stücken Igor (wegen der Besetzung), Ruslan (wegen des Stücks) und Chowanschtschina (wegen der Fassung) empfehlen, auch wenn man schon andere Aufnahmen davon hat.
Fortsetzung folgt (wird hoffentlich nicht als Drohung empfunden!)
Sune