(Foto ist nicht von gestern Abend!)
Programm:
Joseph Haydn, Sonate Nr. 32 g-moll Hob. XVI:44 (um 1771 bis 73)
Moderato
Allegro
Joseph Haydn, Sonate Nr. 47 h-moll Hob. XVI:32 (um 1776)
Allegro moderato
Menuet
Finale. Presto
Joseph Haydn, Sonate Nr. 49 cis-moll Hob. XVI:36 (um 1770-75?)
Moderato
Scherzando. Allegro con brio
Menuetto - Trio
Pause
Franz Schubert, Vier Impromptus op. 142 D.935 (1827)
1. Impromptu f-moll, Allegro moderato
2. Impromptu As-dur, Allegretto
3. Impromptu B-dur, Andante
4. Impromptu f-moll, Allegro scherzando
Es war einer jener Abende, wie ich sie nur erlebt habe, wenn Sokolov auf dem Podium agierte. Dabei sollte das gestern Abend schon der zweite Sokolov-Abend für mich innerhalb von 13 Tagen sein, aber der erste Abend, am 5. Mai im H1 in Münster, war schon kurz vor der Pause für mich beendet, als ich mit heftigen Blasenbeschwerden Hals über Kopfs den Saal verlassen musste und den Heimweg antrat.
Aber schon in Münster bekam ich einen Begriff davon, wie man Haydn-Cembalo-Sonaten auf einem Steinwayflügel spielen kann. (Und in einer früheren Konzertankündigung der Kölner Philharmonie stand (fast verschämt) unter dem Programm: Grigory Sokolov wird die Cembalo-Sonaten auf einem Konzertflügel spielen.
Ich bin ja der Meinung, dass die musikalische Größe der Haydn-Sonaten, speziell die der gestern gespielten drei Sonaten in Moll auf einem Steinway oder einem Bösendorfer besser abgebildet werden kann als auf einem Cembalo. Christoph Vratz, der Autor des Programmtextes, kommt an verschiedenen Stellen
So sagt er z. B. über die Sonate Nr. 32 g-moll an einer Stelle: Zitat:
ZitatEin Blick auf die Sinfonie und Streichquartette jener Zeit verrät, dass die Intensität seiner dramatische Effekt, aber auch sein Gefühl für die Verarbeitung thematischer Ideen gewachsen ist. Auch diese Sonate ist ein Beispiel für seinen weiter entwickelten oder gar neuen Stil, zumal Haydn hier den Tonumfang der damaligen Klaviere, fünf Oktaven, fast komplett ausnutzt - ein Zeichen für die neue Ausdruckskraft."
Und Grigory Sokolov tut genau das auf dem Steinway, und zwar bei allen drei Sonaten, die unter der gemeinsamen Moll-Klammer stehen: Er stellt die vielen kurzen Triller und Verzierungen sowie die Tonrepetitionen, nicht nebeneiander bzw. reiht sie nicht aneinander, sondern formt sie zu einem organischen Fluss, in den immer wieder kleine Variationen des thematischen Materials eingebaut sind, er spürt aber auch genauestens den dramatischen Steigerungen nach, die natürlich bei Haydn längst vorhanden sind. Und mit "musikalischer Größe" (s. o.) meine ich auch klangliche Größe, die natürlich auf dem großen heutigen Konzertflügel besser zur Geltung kommt als auf einem Cembalo.
Und Sokolov stellt auch jede temporale Bewegung heraus, die ihm die Partitur bietet, wobei auch berücksichtigt werden muss, was sogar mir auch sofort aufgefallen war, dass in diesen drei Sonate kein wirklich langsamer Satz vorkommt, dafür aber durchweg ein schnelleres Tempo vorherrscht.
Und wer je einmal bei Sokolov im Konzert saß und gehört hat, dass Sokolov im Allgemeinen breite Tempi spielt, weiß längst, dass Sokolov alles kann, auch schnell, sehr schnell. Er gehört- nicht nur für mich- längst zu den größten lebenden Pianisten, vielleicht ist er auch "der" größte lebende Pianist.
Und so spielt er auch den Schlusssatz der Sonate Nr. 47 h-moll derart mitreißend in Tempo, Dynamik und Rhythmus, dass das Kölner Publikum, das natürlich längst weiß, dass man bei Sokolov am besten nur nach dem letzten Stück vor der Pause und nach dem letzten Stück nach der Pause Beifall spendet, sich nach diesem Husarenritt doch spontan zu einem kurzen Beifall hinreißen lässt, aber sofort wieder innehält, als der Meister seine Hände wieder über die Tasten hält.
An dieser Stelle noch ein weiteres Zitat aus dem Programmheft:
Zitat"Im Titel der Druckausgabe der Sonaten steht übrigens erstmals der Hinweis "für Cembalo oder Fortepiano", und die dynamischen Finessen, die Haydn einfordert, ließen sich am ehesten auf den (damals) neueren Instrumenten umsetzen".
Die letzte Haydn-Sonate des Abends, die Nr. 49 in cis-moll, scheint mir auch in der Entwicklung am weitesten zu sein. Wieder ist der dynamische Level angestiegen und der Ausdruck insgesamt kraftvoller geworden. Dazu kommt, dass die typischen spielerischen Elemente im raschen Wechsel mit den kraftvollen scharfkantigen Fortestellen für schärfere Kontraste sorgen, als man sie vorher kannte und insofern schon auf Beethoven vorausweisen. Vielleicht kann man das aber auch umgekehrt sehen, dass Beethoven diese Eindrücke durch die Kenntnisse der Haydnschen Sonate gewonnen hat bzw. in seinen eigenen Intentionen dadurch bestärkt wurde.
Auch insgesamt, im Ablauf der ganzen Sonate, schafft Haydn einen großen Kontrast dadurch dass er dem dramatischen Kopfsatz ein Menuett als Finale gegenüberstellt, vielleicht der langsamste Satz aller drei Sonaten und mit einer Stimmung, die schon auf Schubert vorausweist.
Und auch diese Sonate stellt Sokolov kongenial in diesem komponistischen Zusammenhang vor.
Die Spielzeiten:
Sonate Nr. 32: 16 Minuten;
Sonate Nr. 47: 21 Minuten;
Sonate Nr. 49: 17 Minuten;
Nach der Pause erlebte ich dann zum ersten Mal die Impromptus op. 142 D.935 von Franz Schubert, interpretiert von Grigory Sokolov, auf die ich mich schon in Münster so gefreut hatte.
Impromptu Nr. 1 f-moll D.935, Allegro moderato:
Hier merkte man schon sofort, dass Sokolov den Moll-Bogen noch weiter gespannt hatte als über die drei Haydn-Sonaten, sondern in Wirklichkeit über das ganze Programm, denn auch das letzte Impromptu dies Opus-Nummer steht ja in f-moll.
Dieses Impromptu ist seit meiner ersten Begegnung mit ihm durch Alfred Brendel vor vielen Jahren mein Lieblings-Impromptu, und hier spannt sich ein weiteren viel größerer Bogen: So, wie ich kurz nach dem Kennenlernen dieses Stückes es auch von Brendel im Konzert hörte und vor Ergriffenheit weinen musste, ging es mir auch gestern Abend, nur dass ich meinte, meine Ergriffenheit sei diesmal noch stärker gewesen. Und sie stellt sich jedes Mal beim überirdischen Seitenthema ein, das nach dem Original noch zweimal in höherer Lage wiederholt wird bzw. beim dritten Ertönen mit Verzierung im Diskant ausgeschmückt wird. Das gehört m. E. zu den stärksten melodischen Eingebungen Schuberts überhaupt, und deren hatte er ja so viele. Und Sokolov, dieser absolute Ausnahmepianist (das Wort wird m. E. viel zu oft gebraucht, hat aber hier m. E. absolut seine Berechtigung), zeigt hier, dass er auch in der Gestaltung dieser leisen, beseligenden singenden Melodien unübertroffen ist.
Und da ich eben bei Haydn von gestiegenen Kontrasten sprach, so ist hier die Kontrastierung im dramatischen und lyrischen Ausdruck nochmal gewaltig angestiegen: Zu Beginn der dramatische Auftakt mit dem markerschütternden Sforzando am Ende des Abstiegs, dann nochmal Wiederholung in der Oktavierung, dann die rhythmische und dynamische Ausweitung und das gestiegene Tempo mit einer gewaltigen Steigerung in der Überleitung zum Seitenthema und dann das Seitenthema selbst: von einem anderen Stern!
Und so wendet sich mehrmals das Blatt, und ich meine schon, dass hier eine starke Anlehnung an den Sonatensatz vorliegt, nicht nur dass der exponierte Beginn zweimal auftaucht (auch im richtigen temporalen Rahmen, auch das Seitenthema kommt nochmal in gleicher Form wieder.
Vieles in der äußeren Form, in den thematischen Abschnitten, in den dynamischen und stimmungsmäßigen Kontrasten findet sich auch in den anderen Spätwerken Schuberts wieder, so. z. B. im "Frühlingstraum" in der Winterreise.
Spielzeit: 13 1/2 Minuten
Impromptu Nr. 2 As-dur D.935, Allegretto:
Hier beginnt es ganz anders, mit einer berührenden leisen Melodie, die jedoch nach einer Wiederholung von Fortissimo-Akkorden kontrastiert wird, nur das hier die Stimmung in den Fortissimo-Sequenzen anders ist. Sie ist nicht, wie in dem f-moll-Impromptu, dramatisch oder gar traurig, sondern weiter positiv, aber nicht mehr lyrisch, sondern eher heroisch. Dann kommt wieder der Wechsel zum Lyrischen und nochmals der Wechsel zum Heroischen, aber diesmal sind die Sequenzen kürzer.
Grigory Sokolov schöpft auch hier aus dem Vollen, macht auch hier größte Kontraste. Vielleicht ist er in den lyrischen Sequenzen noch überzeugender als Elisabeth Leonskaja, die ich während des Schreibens gegenhöre. Auf jeden Fall spielt er im triolenförmigen Mittelteil wieder mit großem Ausdruck, zugleich mit ganz "feiner Klinge", mit fließender Kontrastierung und einer großartigen Steigerung in diesem Mitteilteil und setzt auch diesen Wechsel organisch fort, ebenso wie die Wiederholung des Themas mit der Fortissimo-Kontrastierung und schließt wunderbar ab.
Spielzeit: 9 3/4 Minuten
Impromptu Nr. 3 B-dur D.935, Andante:
Hier haben wir einen Variationensatz vorliegen, das Geschehen fließt in ruhigem Andante dahin, wobei in der zweiten Variation durch sie Verkürzung der Notenwerte eine Art innere Beschleunigung entsteht, obwohl der Grundtakt gleichbleibt, aber auf diesen komponistischen Kniff habe ich auch schon in der Rezensionen der B-dur-Sonate D.960 hingewiesen (vgl. entsprechenden Thread). Auch bei Beethoven tauchte dies ja verschiedentlich auf, z. B. im Andante-Variationensatz in der Appassionata. Auf noch eine Entdeckung in dieser zweiten Variation möchte ich einweisen. An einer Stelle im Verlauf dieser Variation taucht eine Folge von Tönen auf, die identisch ist mit dem Beginn des Freudenthemas aus dem Finale der Neunten Beethoven. Auch das kam beim Vortrag Sokolovs so wunderbar zum Ausdruck.
Doch hier kommt auch eine Mollvariation daher mit einer (okatavierten) Variation mit weiten Tonintervallen und wiederum dynamischen Kontrasten. Noch zu einer anderen Variation findet Schubert am Schluss, wo auf- und abstrebenden glitzernde Läufe das Herz jedes Virtuosen höher schlagen lassen, bevor eine kurze thematische Coda abschließt.
Spielzeit: 13 1/4 Minuten
Impromptu Nr. 4 f-moll D.935, Allegro scherzando:
Hier schließt sich der Kreis des Abends mit dem letzten moll-Impromptu. Auch dies ist ein Stück voller dynamischer Kontraste, mit einem mitreißenden Rhythmus, sehr virtuos und, ja, witzig und humorvoll. Auch hier gehen die inhaltlichen, dynamischen und rhythmischen Bewegungen hin und her, und ähnlich wie in der B-dur-Sonate tauchen auch in diesem Stück verblüffende Pausen auf und ein noch verblüffenderer jäher Schluss, der im Nirwana versinkt.
Man hätte gestern Abend fast auf den Gedanken kommen können, dass Sokolov alles auf diesen Schluss zugespitzt hätte, so gigantisch war er, und das Auditorium bracht unmittelbar in enthusiastische Ovationen aus und harrte des "Konzertes nach dem Konzert".
Spielzeit: 8 1/2 Minuten
Und es ereignete sich auch wie erwartet. Ich erkannte sogar die erste Zugabe sofort: Es war kein anderes als das Impromptu Nr. 4 As-dur D.899. Die anderen habe ich nicht erkannt. Es waren aber natürlich insgesamt wieder sechs Zugaben. Das Programm war um 22:12 Uhr beendet, die Zugaben um 22:55 Uhr.
Liebe Grüße
Willi