John Neumeier - Choreograph in Hamburg

  • Ich musste es erst recherchieren, da ich es kaum glauben konnte: John Neumeier (Geburtsjahr 1939) wirkt 45 Jahre in Hamburg. Wikipedia weiss dazu:


    "Der für seine Ballettchoreografien international anerkannte und ausgezeichnete Neumeier ist seit 1973 als Ballettdirektor und Chefchoreograf des Hamburg Ballett und seit 1996 auch als Ballettintendant an der Staatsoper in Hamburg, aber auch an anderen Orten als Gastchoreograf, tätig. Er ist zudem Direktor der von ihm begründeten Ballettschule in Hamburg."


    Wenn jemand über eine so lange Zeit für das Ballett in einer Stadt wirkt, ist dies eine Lebensleistung, die erstaunlich ist.


    Diese Auswahl (!) von Choreografien Neumeiers findet man dort:


    Haiku (1966, Stuttgart)
    Separate Journeys (1968, Schwetzingen)
    Brandenburg 3 (1970, Frankfurt)
    Der Feuervogel (1970, Frankfurt)
    Romeo und Julia (1971, Frankfurt)
    Der Nussknacker (1971, Frankfurt)
    Der Kuss der Fee (1972, Frankfurt)
    Daphnis und Chloe (1972, Frankfurt)
    Dämmern (1972, Frankfurt)
    Le sacre (1972, Frankfurt)
    Désir (1973, Hamburg)
    Nacht (1973, Stuttgart)
    Dritte Sinfonie von Gustav Mahler (1975, Hamburg)
    Hamlet Connotations (1976, New York)
    Illusionen – wie Schwanensee (1976, Hamburg)
    Rückert-Lieder (1976, Hamburg)
    Der Fall Hamlet (1976, Stuttgart)
    Josephs Legende (1977, Wien)
    Vierte Sinfonie von Gustav Mahler (1977, London)
    Ein Sommernachtstraum (1977, Hamburg)
    Dornröschen (1978, Hamburg)
    Die Kameliendame (1978, Stuttgart)
    Vaslaw (1979, Hamburg)
    Matthäuspassion (1981, Hamburg)
    Artus-Sage (1982, Hamburg)
    Tristan (1982, Hamburg)
    Giselle (1983, Hamburg)
    Endstation Sehnsucht (1983, Stuttgart)
    Sechste Sinfonie von Gustav Mahler (1984, Hamburg)
    Othello (1985, Hamburg)
    Wie es euch gefällt (1985, Hamburg)
    Shall we dance? (1986, Hamburg)
    Fratres (1986, Stuttgart)
    Magnificat (1987, Orange/Paris)
    Peer Gynt (1989, Hamburg)
    Seven Haiku of the Moon (1989, Tokio)
    Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler (1989, Hamburg)
    Medea (1990)
    Fenster zu Mozart (1991, Hamburg)
    Requiem (1991, Salzburg)
    A Cinderella Story (1992, Hamburg)
    Zwischenräume – Neunte Sinfonie von Gustav Mahler (1994, Hamburg)
    Odyssee (1995, Athen/Hamburg)
    Yondering (1996, Hamburg)
    Opus 100 – For Maurice (1996, Lausanne)
    Vivaldi oder Was ihr wollt (1996, Hamburg)
    Sylvia (1997, Paris)
    Bernstein Dances (1998, Hamburg)
    Messias (1999, Hamburg)
    Nijinsky (2000, Hamburg)
    Winterreise (2001, Hamburg)
    Die Möwe (2002, Hamburg)
    Tod in Venedig (2003, Hamburg)
    Die kleine Meerjungfrau (2005, Kopenhagen)
    Parzival – Episoden und Echo (2006, Baden-Baden)
    Weihnachtsoratorium (2007, Wien)
    Le Pavillon d’Armide (2009, Hamburg)
    Purgatorio (2011, Hamburg)
    Liliom (2011, Hamburg)
    Tatjana (2014, Hamburg)
    Das Lied von der Erde (2015, Paris)
    Duse (2015, Hamburg)
    Turangalîla (2016, Hamburg)
    Anna Karenina (2017, Hamburg)
    Beethoven-Projekt (Premiere 24. Juni 2018, Hamburg)



    Letzthin erhielt ich die Blu-Ray "Nijinsky", (Spieldauer 153 min) geschenkt, welche das Leben des Tänzers Vaslav Nijinsky als Ballett beschreibt. Letzte Woche war in der Staatsoper Hamburg/Hamburg Ballett John Neumeier eine Aufführung. Seit 2000 steht das Werk immer wieder auf dem Programm. Auf der Webseite liest man:


    "Nijinskys Leben lässt sich einfach zusammenfassen: zehn Jahre Wachsen, zehn Jahre Lernen, zehn Jahre Tanzen, dreißig Jahre Finsternis", formulierte einst der Biograf Richard Buckle. Das Wirken und Leben des Jahrhunderttänzers Nijinsky ist für John Neumeier seit seiner Jugend ein unerschöpfliches Thema. In seinem 2000 über die Lichtgestalt des Tanzes erarbeiteten Ballett geht es um die Biografie einer Seele, verwoben aus Erinnerungen und Assoziationen, Empfindungen und Zuständen. John Neumeiers choreografische Annäherungen wollen eine Gegenwart aus der Vergangenheit schaffen mit neu bestimmten Kräfteverhältnissen und Spannungsfeldern, die Nijinskys Magie auf der Bühne ebenso einfangen wie seine Gefährdungen jenseits des Theaters.


    Musik: Frédéric Chopin, Nikolaj Rimskij-Korsakow, Dmitri Schostakowitsch*, Robert Schumann
    Choreografie, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier
    unter teilweiser Verwendung der Originalentwürfe von Léon Bakst und Alexandre Benoit"


    *Im 2. Akt erklingt Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11



    Ich hatte mir zuerst das Bonus-Material angeschaut, in dem John Neumeier ein Interview zu seiner Choreografie und deren Entstehungsgeschichte gibt. Er besitzt eine riesige Sammlung von Werken um und von Vaslav Nijinsky, die er in seinen privaten Räumen beherbergt. Dass der Tänzer Nijinsky auch malte, hat mich erstaunt. Neumeier hat sich Zeit seines Lebens mit diesem Tänzer auseinandergesetzt und ist wohl der profundeste Kenner des Lebens von Vaslav Nijinsky, den man sich denken kann. Erhascht man den einen oder anderen Blick auf ein Bild der Sammlung Neumeiers, hat man in der Ballettaufführung ein Déja-Vu.



    Die künstlerische Leistung der Tänzer, Solisten und Mitglieder des Ensembles hat mich aus den Socken gehauen. (Ich kann mir nicht drei Tanzschritte merken... und bin da schon enthusiastisch, was ich da zu sehen bekomme.) Die Tänzer werden nah gezeigt, wo es erforderlich ist. Die physische Anstrengung und totale Kontrolle der Bewegung und daraus resultierende Leichtigkeit erlebt der Zuschauer nah. Die Bildregie schafft es, den Blick auf das Ganze wie die Einzelleistung stimmig zu vereinen. Für den Zuschauer bekommt jede Geste und jede Haltung Bedeutung und Aussage. Die Rollen, die Vaslav Nijinsky in den Epoche machenden Balletten Scheherazade, Après midi d'un faune, Petrouschka darstellte, werden von verschiedenen Tänzern verkörpert. Nijinsky Versinken in seiner psychischen Erkrankung und wie es der Solist Alexander Riabko mit seinem Körper darstellt, hat mich tief ergriffen.


    Die Tonspur stereo/DTS-HD 5.1 lässt keine Wünsche offen.


    Eine Blu-Ray bzw. zwei DVDs nicht nur für Ballottomanen.



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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Eine zweite DVD mit einer Choreografie John Neumeiers aus dem Jahr 1976 ist in meiner Sammlung.


    Illusionen wie Schwanensee (Aufführungsdauer 171 min)



    Neumeier vereinigt das Lebensschicksal des Bayernkönigs Ludwig II mit der Musik von Peter Tschaikowskys Ballettmusik "Schwanensee" aus dem Jahr 1876/1877. Darauf muss man erst mal kommen. Die Lieblingstiere des Königs waren die Schwäne, den Schwanenritter Lohengrin begleitet dieser Vogel ebenso wie den Prinzen Siegfried in Tschaikowskys Ballett. König wie Komponist waren homosexuell. Tschaikowsky war 1886 in Deutschland, im Todesjahr des Königs.


    Der Schluss in Tschaikowskys originaler Balletthandlung, wenn eine grosse von Rotbart geschickte Welle Siegfried zu ertränken droht und Odette sich in die Flut stürzt, um Siegfried zu retten und dabei den Tod findet, weist eine Parallele auf zu Ludwigs und seines Arztes Tod im Starnberger See.



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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich musste es erst recherchieren, da ich es kaum glauben konnte: John Neumeier (Geburtsjahr 1939) wirkt 45 Jahre in Hamburg. [...] Wenn jemand über eine so lange Zeit für das Ballett in einer Stadt wirkt, ist dies eine Lebensleistung, die erstaunlich ist.

    Und inzwischen hat Neumeier seinen für 2019 geplanten Rückzug um weitere vier Jahre bis 2023 herausgezögert; siehe z.B. hier (zuletzt aufgerufen am 31.05.2018). Das mag einerseits zwar erfreulich klingen, wird aber inzwischen auch nicht mehr ganz unkritisch gesehen, macht es die Situation für seinen eventuellen Nachfolger und jetziger Stellvertreter Lloyd Riggins nicht unbedingt einfacher. - Ich habe allerdings mit der Hamburger Ballett-Szene zu wenig zu tun, als dass ich dies wirklich beurteilen könnte.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Wo lange Zeit das Gleiche wirkt, macht sich Lähmung und Verkrustung breit. Das ist in der Politik so, im Wirtschaftsleben und auch in der Kunst.


    John Neumeiers Lebensleistung ist eindrücklich und nötigt mir Respekt ab. Es ist zu hoffen, dass seine künstlerische Vitalität dem Ballett in Hamburg auch Raum zu Neuem bietet und damit Entwicklung ermöglicht.
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Auch bis zu uns in die Provinz ist der Name John Neumeier ein Begriff. Und das aus mehreren Gründen:
    - wo kommt es schon vor, daß man über einen Zeitraum von 45 Jahren ein Theater mit einer Person verbindet?
    - welcher Choreograph hat in der heutigen Zeit in Deutschland einen solchen Ruf wie John Neumeier (ich kenne natürich auch die Namen von Pausch, Cranko, Ismail Ivo u.a.)
    - wer hat schon solch herausragenden Ballettinspirationen gehabt wie er? Selbst mir als weniger ballettaffinen Theatergänger ist seine Vertanzung von Mahlers 3. unter die Haut gegangen, obwohl ich sie nie live gesehen habe, nur im TV.
    Möge er noch lange gesund und in Hamburg bleiben.


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Selbst mir als weniger ballettaffinen Theatergänger ist seine Vertanzung von Mahlers 3. unter die Haut gegangen, obwohl ich sie nie live gesehen habe, nur im TV.


    Ich habe Sie in den 1980ern dreimal live gesehen und sie gehören bis heute zu den eindrücklichsten Theaterabenden, die ich miterleben durfte. :hail:
    Auch von meiner Seite alles Gute für den Jahrhundert-Choreographen.

  • Wo lange Zeit das Gleiche wirkt, macht sich Lähmung und Verkrustung breit. Das ist in der Politik so, im Wirtschaftsleben und auch in der Kunst.


    John Neumeiers Lebensleistung ist eindrücklich und nötigt mir Respekt ab. Es ist zu hoffen, dass seine künstlerische Vitalität dem Ballett in Hamburg auch Raum zu Neuem bietet und damit Entwicklung ermöglicht.


    Ich halte auch nichts von solchen Erbhöfen. Schon gar nicht in der Kunst. Jegliches Beharrungsvermögen ist ihr abträglich. Es entstehen zwangsläufig Abhängigkeiten und Verkrustungen. So gut kann niemand sein, dass er über mehrere Jahrzehnte einen Posten mit Inspiration ausfüllen kann. Ich kenne auch im Kunstbetrieb kein Beispiel, wo das möglich gewesen wäre.


    In der Bewertung der Lebensleitung von Neumeier stimme ich Dir ausdrücklich zu, lieber moderato und auch den anderen, die sich so geäußert haben, ausdrücklich zu. Mein größtes Erlebnis, das sich mit seinem Namen verbindet und das ich wie auf einer inneren Festplatte gespeichert habe, war die "Matthäuspassion" von Bach, in der er selbst den Jesus gestaltete.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Der Bekanntheitsgrad von Choreographen erfährt noch dadurch eine höhere Wertigkeit, daß die Medien CD oder Radio ihre Arbeit nicht wiedergeben können. Damit hat ein Choreograph gegenüber Sängern oder Orchestern samt Dirigenten doch beträchtliche Nachteile in der Massenwirksamkeit.
    Um so höher sind die Leistungen dieser Künstler einzuschätzen. Es gibt keinen Grund, Neumeiers Arbeit kleinzureden, zumal es in Hamburg noch immer für volle Häuser sorgt.
    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Erfreulich ist, dass viele der Neumeier Ballette als DVD bzw. Blu-Ray vorliegen. Auf diese Weise bleibt die flüchtige Kunst des Tanzes auf einem Medium erhalten. Es kann selbstverständlich eine live erlebte Ballett-Aufführung nicht ersetzen. Ich habe einige der erhältlichen filmisch umgesetzten Choreografien bestellt. Es fällt auf, dass John Neumeier seinen Tänzern und Tänzerinnen über viele Jahre die Treue hält und sie in verschiedenen Choreografien einsetzt.
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928





  • Ich habe Sie in den 1980ern dreimal live gesehen und sie gehören bis heute zu den eindrücklichsten Theaterabenden, die ich miterleben durfte. :hail:
    Auch von meiner Seite alles Gute für den Jahrhundert-Choreographen.


    Für Gustav Mahler hat John Neumeier eine Affinität. Soweit ich es recherchiert habe, hat er ausser der 1., 2., 7. und 8. alle Sinfonien sowie Das Lied der Erde choreografiert. Auf Medienträgern habe ich sie nicht gefunden. Es gibt jedoch eine Fernsehaufzeichnung der 3. Sinfonie, wie du werter La Roche, bemerkt hast.
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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