Ludwig van Beethoven. Liedmusik im Geist der Klassik

  • Beethoven hat über achtzig (85, - nach meiner Zählung) deutschsprachige Lieder für Singstimme und Klavier komponiert. Darunter finden sich zwar einige im Grunde belanglose Gelegenheits-Liedchen von nur geringem musikalischem Rang, aber die meisten stellen von ihrem liedmusikalischen Gehalt und ihrer Aussage her höchst gewichtige und bedeutsame Kompositionen dar. Von daher ist er also ganz zweifellos unter die großen Liedkomponisten zu zählen.


    Angesichts dieser Tatsache mutet es aber seltsam an, dass sein liedkompositorisches Schaffen in den ihm gewidmeten Monographien und Biographien meist eine untergeordnete Rolle spielt, vielfach nur gleichsam nebenbei erwähnt wird. Man könnte den Eindruck gewinnen: Neben seinem gewaltigen instrumentalen Werk ist das kleine Klavierlied von nur geringer historischer Bedeutung, scheint von diesem geradezu erdrückt zu werden. Das aber dürfte ein großer Irrtum sein. Und dies nicht nur wegen der schieren Quantität seiner liedmusikalischen Werke, sondern vor allem angesichts ihrer liedkompositorischen Qualität und der den historischen Ort ihrer Entstehung transzendierenden, bis in die Gegenwart reichenden musikalischen Aussage.


    Hinzukommt noch ein weiterer, das Urteil über die Lieder Beethovens tangierender Aspekt. Die Musikwissenschaft tat sich lange Zeit schwer damit, Beethoven in der Geschichte des deutschen Liedes einen inhaltlich begründeten und von daher klar definierten Ort zuzuweisen. In dem von Hans-Georg Nägeli entworfenen liedhistorischen Entwicklungskonzept der „vier Epochen“, wobei die vierte die von Schubert eingeleitete des modernen „polyrhythmischen Liedes“ ist, vermochte man Beethoven nicht so recht unterzubringen. Inzwischen scheint sich diesbezüglich eine Auffassung durchzusetzen, die mir wohlbegründet erscheint. Walter Dürr stellt sie gleichsam noch zur Diskussion, wenn er (im „Beethoven-Handbuch, Abt. „Vokalmusik und Bühnenwerke“) den Gedanken in Frageform vorbringt: „Könnte es sein, dass Beethovens Liedschaffen eine Art Scharnierfunktion zwischen der Liedtradition des 18. Jahrhunderts und der neuen (auch von Nägeli so beschriebenen) des 19. Jahrhunderts einnimmt?“


    Vertieft man sich auf dem Hintergrund einer – gewiss nur bruchstückhaften - Kenntnis der historischen Entwicklung des Klavierliedes in eben dieses „Liedschaffen“ Beethovens, dann neigt man dazu, auf diese Frage mit einem klaren „Ja“ antworten. Es sind vor allem drei Aspekte, die für diese „Scharnierfunktion“ sprechen, und sie stehen in einem inneren Zusammenhang:
    --- Die zentrale Intention, die Beethovens Liedkomposition zugrundeliegt;
    --- die Motive für seine Wahl des lyrischen Textes;
    --- und die Funktion, die bei ihm der Musik im Hinblick auf den lyrischen Text zukommt.


    Um bei dem letzten Aspekt anzusetzen: Alle vorangehenden liedkompositorischen Richtungen und Schulen, von Abraham Peter Schulz, Karl Friedrich Zelter, bis zu Johann Friedrich Reichardt und Zumsteeg, verstanden das Lied als vertonte Dichtung, wobei die Musik primär, ja ausschließlich die Funktion hatte, einen besseren Zugang zur Dichtung zu erschließen, in dem Sinne, dass sie, wie Schulz dies in höchst treffender Weise formuliert hat, „einen leichteren Eingang zum Gedächtniß und zum Herzen“ findet.“ Diese funktionale Beschränkung der Musik findet sich bei Beethoven in seinen frühen Liedkompositionen zwar vereinzelt auch noch, er hat sich davon aber alsbald emanzipiert, indem er der Musik mehr und mehr eine eigenständige Aussage zumaß, bis hin zu einer regelrechten Interpretation der lyrischen Aussage. Dies zwar nur ansatzweise und keineswegs im Sinne eines Primats, wie das dann bei Schubert der Fall ist, aber immerhin:
    Er ist damit auf dem Weg zur „polyrhythmischen Liedmusik“, wie sie für Nägeli das Endstadium der Entwicklung des Kunstliedes darstellt.


    Dass er ihn nur gleichsam eingeschlagen, aber nicht wirklich begangen und konsequent weiterverfolgt hat, ist wohl aus seinem künstlerisch-kompositorischen Grund- und Selbstverständnis zu erklären, das wesenhaft dem Geist der Klassik verpflichtet ist. Daraus resultiert ein genuines Verständnis des musikalischen Werks, was dessen innere Anlage, seine formale Grundstruktur und die künstlerische Aussage-Absicht anbelangt. Das wirkt sich auch maßgeblich auf seine Liedmusik aus, und der Titel dieses Threads beinhaltet die Verpflichtung, dies im einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen.


    Was die lyrischen Texte anbelangt, zu denen Beethoven griff, um sie in Liedmusik zu setzen, so lässt sich darin kein literarisch motiviertes Prinzip ausmachen. Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wahllos. Die Autorschaft reicht von Matthias Claudius bis Gottfried August Bürger, Lessing finden sich darunter, aber auch Sophie Mereau, Herder, Hölty, solch literaturhistorisch unbedeutende Lyriker wie Stephan von Breuning, Christoph August Tiedge oder Alois Jeitteles, aber auch Namen wie Gellert, Matthisson und Goethe. Auf den zweiten Blick, die Liedmusik auf die Texte dieser Autoren einbeziehend, zeigt sich darin aber sehr wohl ein Prinzip. Es ist in den allermeisten Fällen das personale Angesprochen-Sein, das Beethoven zu einem lyrischen Text greifen lässt, wobei er dann der Liedmusik die Aufgabe zumisst, eben diese personale Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.


    Und das ist neu, liedhistorisch betrachtet, und es weist ansatzweise in die Zukunft des Kunstliedes, - die des romantischen Klavierliedes, wie es durch Schubert erstmals maßstabgebende Gestalt annahm. Aber auch wenn sich bei Beethoven erstmals – auch das ist zukunftweisend – die Tendenz zur liedkompositorischen Zyklus-Bildung auf der Grundlage der Lyrik eines Autors findet, oder wenn er sich, wie im Falle Goethes, in mehrfacher Weise liedkompositorisch einem bestimmten Lyriker zuwendet, so darf man daraus nicht schließen, dass er das aus der Motivation heraus tat, wie sie bei den zyklischen Werken Schuberts oder denen der nachfolgenden Romantiker und Spätromantiker ausschlaggebend war.
    In allen Fällen ist es bei Beethoven primär, ja ausschließlich, das personale Sich-angespochen-Fühlen durch die jeweilige lyrische Aussage, die ihn zu einem lyrischen Text greifen lässt. Und das hat zur Folge, dass er zum Beispiel im Falle von Goethe nicht die Absicht verfolgte, dem spezifischen Wesen von dessen lyrischer Sprache liedmusikalisch nachzuspüren, sondern die Auswahl aus dessen lyrischem Werk bei den dreizehn Liedern, die er darauf komponierte, primär nach den Themen vornahm, die eine gleichsam leitmotivische Funktion in seinem liedkompositorischen Schaffen einnahmen.


    Und diese schälen sich aus dem liedmusikalischen Gesamtwerk ganz deutlich heraus und erweisen sich den existenziellen Grundfragen geschuldet, mit denen sich Beethoven als Mensch und Künstler zeitlebens, aber zunehmend in den mit 1812 einsetzenden Krisenjahren auseinandersetzen musste.
    In Begriffe gefasst würde man die zentralen unter ihnen mit „Liebe“, „Freundschaft“, „Sehnsucht“, „Hoffnung“, „Resignation“ und „Klage“ benennen. Man begegnet ihnen in seinen Liedern immer wieder, nicht nur in Gestalt der lyrischen Texte, die er dafür heranzog, sondern auch in den liedkompositorischen Akzenten, die er dabei jeweils gesetzt hat, besonders in dem von ihm dafür so oft eingesetzten Mittel der Wiederholung und – ganz besonders vielsagend – dem, was man treffenderweise einmal das „Hoffnungsallegro“ am Liedende bezeichnete.

  • Beethovens Lieder lernte ich in umfangreicher Weise kennen in der vom 14. bis 18. 4. 1966 entstandenen und bei der Deutschen Grammophon erschienenen Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus, und ich habe sie natürlich auch zur analytischen Betrachtung der einzelnen Lieder herangezogen, - als Referenz sozusagen, im Nachhinein, abends, wenn die Arbeit getan war.


    Fischer-Dieskau hat, nun mit Hartmut Höll als Begleiter, noch eine zweite, umfangreichere Aufnahme der Beethoven-Lieder vorgelegt, die 1984 bei EMI publiziert wurde. Auch sie begleitete mich.


    Als eigentliche Arbeitsgrundlage diente mir die bei Capriccio erschienene Gesamtaufnahme mit Hermann Prey, Pamela Coburn und Leonard Hokanson, - aus rein praktischen Gründen, weil mit CDs besser zu umzugehen ist als mit Schallplatte.


    Oft musste ich aber, weil die meisten Beethoven-Lieder für hohe Stimme komponiert wurden, auf entsprechende Aufnahmen mit anderen Interpreten zurückgreifen.


    Was die Vorgehensweise in diesem Thread anbelangt, so schien es mir sinnvoll, erst einmal die von Beethoven in einem Opus zusammengefassten und publizierten Lieder vorzustellen, und dies in chronologischer Reihenfolge. Daran sollen sich dann Liedkompositionen ohne Opus-Ziffer anschließen, wobei ich natürlich eine Auswahl treffen musste.


    Nach reiflichem Überlegen habe ich mich dazu entschlossen, soweit das möglich ist jeder Liedbesprechung einen Link zu einer Aufnahme beizugeben, ohne allerdings die jeweilige sängerische und pianistische Leistung zu kommentieren. Die Maßnahme soll lediglich dazu dienen, das Mithören zu erleichtern.


    Meine Hoffnung ist, dass ich in diesem Thread nicht allein bleibe und dass das, was ich zu den einzelnen Liedern ausführe, auf kritische Leser stößt, kommentiert, gegebenenfalls richtiggestellt und auf vielfältige Weise, also auch durch zusätzliche Lieder, ergänzt wird.

  • Oft musste ich aber, weil die meisten Beethoven-Lieder für hohe Stimme komponiert wurden, auf entsprechende Aufnahmen mit anderen Interpreten zurückgreifen.


    Hier gleich zwei Aufnahmen mit "hoher Stimme", die ich für exemplarisch halte:

    Beethoven: Liederzyklus "An die ferne Geliebte" op. 98
    Fritz Wunderlich (Tenor) und Heinrich Schmidt, Klavier (Aufnahme: Wien, 5/1963)


    und eine für die "einsame Insel", auf dieser CD enthalten:

    Beethoven: Adelaide, Op. 46
    Jussi Björling (Tenor) und Harry Ebert, Klavier (Aufnahme: 15.7.1939, New York).


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Überdies hat Beethoven noch 200 oder mehr "Volkslieder", nicht nur, aber hauptsächlich irisch/schottische arrangiert. Bei denen ist mir oft nicht ganz klar, wie viel Beethoven an Vorlage hatte, mutmaßlich nur "nackte Melodien". Die werden, wie auch etliche der richtigen Lieder oft als Nebenwerke oder Lohnarbeit abgetan, aber Beethoven hatte anscheinend durchaus Interesse an diesen Projekten, wie sich an den sorgfältigen Arrangements zeigt.


    Der "Geist der Klassik" ist ja bei Beethoven ein schwieriger Fall. Selbst wenn mich die entsprechenden Argumente überzeugen, dass seine Musik strukturell ohne Zweifel klassisch ist, so wurde sie ohne Zweifel seinerzeit oft auch als Provokation und Bruch mit dem "Geist der Klassik" (i.S.v. Mozart und Haydn) empfunden. Nun habe ich sicher keine feste Meinung dazu, wie die Lieder hier hineinpassen, ob und wenn ja, wie, sich in ihnen ebenso wie in den großen Instrumentalwerken dieser Doppelcharakter zeigt. Nämlich die klassische Stringenz einerseits und die unerhörte Freiheit und Radikalität, die die Zeitgenossen oft ratlos zurück ließ andererseits.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ende des Jahres 2017 habe ich aufgrund eines anderen Threads, ich meine, sogar eines Lied-Threads, verschiedene Lied-CD's Beethovens angeschafft. Eine davon ist von einer Sängerin aufgenommen, die ich sehr verehre, und sie wird begleitet von einem Pianisten, den ich ebenfalls sehr verehre. Es handelt sich um diese beiden:



    Wie das Cover andeutet, sind die Aufnahmen schon einige Jahre alt, um es genau zu sagen, 24. Sie entstanden vom 5. bis zum 8. August 1994 im Mozart-Saal des Konzerthauses Wien, und es handelt sich um italienische Lieder von Mozart (1), Schubert (10, Haydn (1) und Beethoven (6).
    Die Lieder Beethovens sind:
    Ecco quel fiero instante! (La partenza, WoO 124)
    Che fa il mio bene? (L'amante impaziente I, op. 82 Nr. 3)
    Che fa il mio bene? (L'amante impaziente II, op. 82 Nr. 4)
    T'intendo, si, mio cor (Liebesklage, op. 82 Nr. 2)
    Dimmi, ben mio (Hoffnung op. 82 Nr. 1)
    In questa tomba oscura WoO 133.


    Das erste "Che fa il mio bene?", op. 82 Nr. 3, habe ich auch in diesem YT-Video hinzugefügt:


    Liebe Grüße


    Willi


    Sir András Schiff werde ich vom 7. bis 9. September auf dem Beethovenfest in Bonn wiedererleben in einem wahren Klaviermarathon von 5 Konzerten , von denen er drei gibt und sein Landsmann Dénes Varjon zwei, in denen es hauptsächlich um die fünf letzten Sonaten Beethovens und die drei letzten Schuberts geht, ergänzt mit Werken von Bartok, Schumann, Liszt, Janacek, Berg und Kurtag.
    Eine Planung des Konzertbesuches "Viva Vivaldi" mit Cecilia Bartoli Anfang Dezember in Köln ließ sich wegen eigener musikalischer Verpflichtungen leider nicht realisieren.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Vielen Dank, nemorino, Johannes Roehl und William B.A., für diese Beiträge und die darin enthaltenen Hinweise auf bedeutende Beethoven-Lied-Interpreten. (Ich hatte schon befürchtet, es käme gar nichts, und bin deshalb sehr erleichtert).


    Was Beethovens Volksliedbearbeitungen anbelangt, lieber Johannes Roehl, so entstanden diese in den Jahren 1809 bis 1820 und umfassen insgesamt 169 Titel in verschiedenen Fassungen für eine bis vier Singstimmen, Klavier, Violine und Violoncello:
    47 Schottische Lieder
    63 Irische Lieder
    26 Wallisische Lieder
    4 Englische Lieder
    29 Kontinentale Volkslieder


    Angeregt wurde Beethoven dazu von dem schottischen Musikliebhaber George Thomson, der sich hauptberuflich beim „Board of Trustees fort the Encouragement of Art and Manufactures in Scotland“ betätigte und nebenbei als Herausgeber von Volksliedbearbeitungen wirkte. Beethoven nahm das Angebot zu solchen Bearbeitungen nicht nur des hohen Honorars wegen an, er hatte auch echtes Interesse daran. Die Bearbeitungen erfolgten auf der Grundlage einer vorgegebenen Melodie, Beethoven ließ sich dabei aber von einem kammermusikalischen Anspruch leiten, wie sich aus der eigenständigen Führung der Instrumentenstimmen ergibt. Die Vorspiele lassen oft deutlich ausgeprägte motivische Arbeit erkennen.


    Zu Deiner Bemerkung „Der "Geist der Klassik" ist ja bei Beethoven ein schwieriger Fall“:
    Die Bedenken, die darin anklingen, sind berechtigt.
    Ich habe, auch weil sich eine solche Formulierung meines Wissens in der Literatur nicht findet, lange überlegt, ob ich dem Thread diesen Titel beigeben soll, habe mich aber dann doch dazu entschlossen, weil mir Beethoven tatsächlich als ein Liedkomponist begegnet ist, der sich, was die Gestalt der melodischen Linie, ihre Harmonisierung, das Verhältnis von Melodik und Klaviersatz und insbesondere den Aspekt der inneren Anlage und der Geschlossenheit des musikalischen Werks anbelangt, vom Geist der Klassik leiten lässt, diesen aber mehr und mehr in Richtung „polyrhythmische Liedmusik“ zu transzendieren beginnt.
    Er hat diesen Weg, der im Grunde ja einer hin zum romantischen Klavierlied ist, zwar eingeschlagen, indem er Liedmusik aus dem Ansatz der personalen Betroffenheit durch die lyrische Aussage schuf und ihr insofern eine textinterpretierende Funktion verlieh, er ist ihn aber, weil er sich von den den Werk-Charakter bedingenden kompositorischen Leitlinien nicht ganz lösen wollte, nicht konsequent weiter oder gar zu Ende gegangen. Was natürlich ohne Bedeutung für die kompositorische Qualität der Liedmusik und ihre musikalische Aussage ist.


    Ich möchte das in meinen Liedbetrachtungen aufzeigen und hoffe, dass mir das auch gelingt.

  • Ich weiß nicht, lieber Helmut,


    ob dir diese Beethoven-Gesamtaufnahme geläufig ist (Brillant) oder ob du sie gar in deiner Sammlung hast:

    Wenn nicht, könnte ich in den nächsten Tagen, nach meinem Besuch bei Hans (operus) mal nach und nach die Titel, Sängerinnen, Sänger, u. U. Orchester und Begleiter hier posten, die durchaus international bekannt oder sogar berühmt sind und die zahlreichen CD's mit Arien, Liedern und Volksliedbearbeitungen füllen. So kommen ja insgesamt mehrere hundert Titel zusammen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Es ist mir zwar bekannt, dass es diese "Complete Edition" gibt, lieber Willi, aber ich habe sie nicht in meiner Sammlung.
    Wenn Du hier "nach und nach die Titel, Sängerinnen, Sänger, u. U. Orchester und Begleiter hier posten" möchtest, so kannst Du das natürlich tun, ich weiß nur nicht so recht, was das für das Verständnis der Lieder Beethovens bringen soll.
    Um diese geht es ja doch hier, nicht um das Gesamtwerk Beethovens und seine Interpreten.

  • Die Ziffer 52, die dieses Opus trägt, täuscht über die Entstehungszeit der insgesamt acht Lieder hinweg, die es enthält: Sie sind allesamt vor 1793 entstanden. Es handelt sich also um frühe Kompositionen, die Beethoven 1798/99 einer Revision unterzogen und 1802/03 in dieser Form zusammengestellt hat. Aus diesem Grund sollen sie auch am Anfang der Betrachtung stehen. Freilich muss – wie das ja bei allen nachfolgenden Lied-Opera der Fall sein wird - eine Auswahl getroffen werden. Sie lässt sich bei all der Subjektivität, die ihr zwangsläufig innewohnt, von dem Prinzip leiten, das für den ganzen Thread gilt:
    Suche nach dem die Eigenart von Beethovens Liedkomposition konstituierenden, personales Angesprochen-Sein durch die lyrische Aussage vernehmen lassenden musikalischen Grundton.
    Bei den beiden ersten Liedern, „Urians Reise um die Welt“ (Text: M. Claudius) und „Feuerfarb´“ (Text: Sophie Mereau), vermag ich ihn nicht zu vernehmen, wohl aber bei diesem:


    „Das Liedchen von der Ruhe“, op.52, Nr.3


    Im Arm der Liebe ruht sich's wohl,
    Wohl auch im Schoß der Erde.
    Ob's dort noch, oder hier sein soll,
    Wo Ruh' ich finden werde:
    Das forscht mein Geist und sinnt und denkt
    Und fleht zur Vorsicht, die sie schenkt.


    In Arm der Liebe ruht sich's wohl,
    Mir winkt sie ach! vergebens.
    Bei dir, Elise, fänd ich wohl
    Die Ruhe meines Lebens.
    Dich wehrt mir harter Menschen Sinn
    Und in der Blüte welk' ich hin!


    Im Schoß der Erde ruht sich's wohl,
    So still und ungestöret,
    Hier ist das Herz so kummervoll
    Dort wird's durch nichts beschweret.
    Man schläft so sanft, schläft sich so süß
    Hinüber in das Paradies.


    Ach, wo ich wohl noch ruhen soll
    Von jeglicher Beschwerde,
    In Arm der Liebe ruht sich's wohl,
    Wohl auch im Schoß der Erde!
    Bald muß ich ruh'n, und wo es sei,
    Dies ist dem Müden einerlei.


    (H.W.F. Ueltzen)


    Bei dieser 1790 entstandenen Komposition handelt es sich um ein Strophenlied auf der Grundlage eines Viervierteltakts, F-Dur ist die Grundtonart, und die Vortragsanweisung lautet „Adagio“. Der zugrundeliegende Text stammt von dem 1759 in Celle geborenen und 1808 verstorbenen Pastor und Lyriker Hermann Wilhelm Franz Ueltzen. Dass da ein Geistlicher lyrisch am Werk war, stellt sich in der dritten Strophe heraus, wo das Bild von der Ruhe im Arm der Liebe erst wieder zurückkehrt zu der schon am Anfang angesprochenen Ruhe im Schoß der Erde, dann sich aber ausweitet zu der im Paradies. Aber eine Dimension der individuellen poetisch-lyrischen Aussage weist dieser lyrisch-sprachlich durchweg auf der Ebene der Allgemeingültigkeit verbleibende Text sehr wohl auf, wenn am Ende der letzten Strophe in den Worten „Dies ist dem Müden einerlei“ andeutungsweise ein lyrisches Ich durchschimmert. +++


    Beethoven muss sich wohl von diesen die Sehnsucht nach menschlich allumfassender Ruhe beschwörenden Versen angesprochen gefühlt haben, wie seine Liedmusik darauf vernehmen lässt. Denn bei aller durch das Strophenlied-Konzept bedingten Beschränktheit des Sich-Einlassens auf die lyrische Aussage und einer um Kantabilität bemühten Linienführung der Melodik verrät die Liedmusik doch so etwas wie Einfühlung in das emotionale Potential, das den permanent wiederkehrenden, gleichsam apostrophisch verdichteten Worten „ruht sich´s wohl“ eigen ist. Schon die ohne Vorspiel auf dem ersten Vers der vier Strophen einsetzende Melodiezeile lässt das erkennen. Nach einem vom Klavier mit Achteln im Diskant mitvollzogenen Sekundanstieg gipfelt die melodische Linie bei dem Wort „Liebe“ mit einem gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage auf und geht danach bei den Worten „ruht sich´s wohl“ in eine melismatisch wirkende, weil aus legato vorzutragenden Sekundschritten bestehende bogenförmig fallende und wieder ansteigende Bewegung über, die das Klavier nun mit Terzen begleitet. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung vom anfänglichen F-Dur zur Dominante C-Dur und wieder zurück.


    Die nachfolgende, zwar durch eine Viertelpause von ihr abgehobene, aber doch an ihr ansetzende, weil nach einem Sekundfall den letzten Ton der vorangehenden aufgreifende Melodiezeile senkt sich, die Worte „Schoß der Erde“ reflektierend, in zwei Sekundschritten langsam in tiefe Lage ab, diese nach unten gerichtete Tendenz am Ende noch einmal mit einem Sekundfall auf „Erde“ bekräftigend. Auch hier vollzieht das Klavier die melodische Bewegung synchron in Gestalt von Terzen im Diskant mit. Und weil diese Verse ja der Ruhe im Arm der Liebe jene andere im Tod zur Seite stellen, beschreibt die Harmonik hier eine Rückung in die Moll-Parallele zur Grundtonart, also d-Moll, verbleibt dort aber nicht, sondern geht beim melodischen Sekundfall am Ende der Zeile zur Dur-Dominante (A-Dur) über.


    Das ist wesenhaft schlichte, in deklamatorisch gebundener Weise ruhig sich entfaltende und dabei vom Klavier begleitete Melodik, was man da vernimmt. Aber sie wirkt in eben dieser Schlichtheit ansprechend und überzeugend, weil sie in der Art und Weise, wie sie die Semantik des lyrischen Textes reflektiert, gleichsam geradlinig auftritt und sich in den Akzenten, die sie setzt, auf das Wesentliche beschränkt. Und das gilt für die Liedmusik der ganzen Strophe, dies allerdings nicht in Gestalt einer einfachen Fortsetzung und Weiterführung der Melodik des Anfangs, sondern eines durchaus kunstvollen Arbeitens mit dem Motiv derselben.


    So steigt die melodische Linie bei den Worten „Ob's dort noch, oder hier sein soll“, wieder am Ausgangston der vorangehenden Zeile ansetzend, in repetierenden Schritten in mittlere Lage empor, wobei sie vor dem Wort „oder“, dieses auf subtile Weise mit einem Akzent versehend, eine Viertelpause einlegt, um dann beim nächsten Vers („Wo Ruh' ich finden werde“) einen Bogen zu beschreiben, der in seiner Grundstruktur ein Wiederaufgreifen der melodischen Bewegung auf ersten Vers darstellt. Und wieder rückt die Harmonik, die Ambivalenz des Wortes „Ruhe“ reflektierend, bei dieser Melodiezeile in den Bereich des Tongeschlechts Moll, hier, von D-Dur in der Zeile davor kommend, nach g-Moll.


    Wie tief das Angesprochen-Sein Beethovens durch den lyrischen Text reicht, das zeigt sich darin, dass er diesen vierten Vers wiederholen lässt, und dies auf einer expressiv gesteigerten melodischen Linie. Aus einem Sekundanstieg geht sie, nun in F-Dur harmonisiert, erst in eine Tonrepetition über und beschreibt dann zu dem Wort „finden“ hin einen Quartsprung, der sie zum höchsten Ton des Liedes (einem „F“) führt, von dem aus sie in einen Quintfall übergeht, dem ein über einen Terzsprung erfolgender Sekundfall nachfolgt. Diese melodische Bewegung entfaltet außer infolge ihrer spezifischen Struktur auch deshalb so große Expressivität, weil die Harmonik eine Rückung von F-Dur über G-Dur nach C-Dur beschreibt und das Klavier mit nun gleichsam statischen Figuren aus bitonalem Akkord und Einzelton begleitet, die am Ende der Zeile in eine zweimalige Folge von fallenden Achteln übergehen.


    Auch beim letzten Vers greift Beethoven noch einmal zum kompositorischen Mittel der Wiederholung, dieses Mal aber, neben der Absicht, die lyrische Aussage hervorzuheben, auch aus dem Grund, die Liedmusik der Strophe in eine gleichsam erweiterte Kadenz zu führen, auf diese Weise in sich zu schließen und zu einer musikalischen Einheit werden zu lassen.
    Bei den Worten „Das forscht mein Geist und sinnt und denkt“ beschreibt die melodische Linie einen fast schon leicht dramatisch anmutenden, weil in Gestalt von repetierenden Sekundschritten erfolgenden Anstieg aus tiefer Lage. Und bei den Worten des letzten Verses wiederholt sie diesen nach einem Quintfall nach dem Wort „fleht“ über größere Intervalle noch einmal, wobei das Klavier nun in seiner Begleitung zum Gestus der Akkordrepetition übergeht. Die Wiederholung dieser Worte bringt wieder eine Steigerung der melodischen Expressivität mit sich, dergestalt, dass sich nun nach einem auftaktigen Quartsprung bei dem Wort „und“ nun nach dem Wort „fleht“ ein veritabler Septfall ereignet und die melodische Linie anschließend, nach einem ruhigen Sekundanstieg in einem sie zum Grundton führenden und mit einer Rückung von der Dominante in die Tonika F-Dur verbundenen Quintfall auf den Worten „sie schenkt“ zu ihrem Ende findet.


    Es ist ein liedkompositorisches Denken in den Kategorien des Strophenliedes, das sich in dieser musikalischen Gestaltung des Strophenschlusses zeigt, und es ist darin konstitutiv für Beethovens Liedmusik ganz generell. Man kann es durchaus als Indiz dafür auffassen und verstehen, wie stark er noch der traditionellen Form des Liedes verhaftet ist und weit entfernt von der Auflösung derselben, wie sie sich im romantischen Klavierlied ereignet.


    Und um noch einen Schritt weiter zu gehen, was die Grundlagen von Beethovens Liedkomposition anbelangt: Es ist wohl auch der auf die Geschlossenheit der Form achtende Geist der Klassik, der sich darin niederschlägt. Beim chronologisch ausgerichteten Gang durch sein Liedschaffen wird darauf zu achten sein, wie weit sich darin erste Ansätze zur Aufsprengung formaler Zwänge ausmachen lassen.

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  • Zitat

    Helmut Hofmann: Vielen Dank, nemorino, Johannes Roehl und William B.A., für diese Beiträge und die darin enthaltenen Hinweise auf bedeutende Beethoven-Lied-Interpreten. (Ich hatte schon befürchtet, es käme gar nichts, und bin deshalb sehr erleichtert).


    Da hast du mich gewaltig mißverstanden, lieber Helmut, es ging mir einzig und allein um die "Hinweise bedeutender Beethoven-Liedinterpreten", deren hier begonnene Veröffentlichungen du ja in o. a. Zitat ausdrücklich begrüßt hattest. Z. B. habe ich aus den Liedern des von dir hier zuerst geposteten op. 52 die
    Nr. 1 "Urians Reise um die Welt", Nr. 2 "Feuerfarb", Nr. 3 "Das Lied von der Ruhe", Nr. 4 "Mailied", Nr. 5 "Mollys Abschied", Nr. 6 "Die Liebe" Und Nr. 7 "Marmotte", alle in der Interpretation von Peter Schreier, begleitet von Walter Olbertz. Um deine Intention, den musikalischen Grundton durch die lyrische Aussage (des Textes?) zu erspüren bzw. ihn mit dieser zu verbinden, habe ich die ersten beiden Lieder nachgehört. Dabei kam mir zugute, dass die Lieder in dieser Ausgabe nicht nach Opus-nummern geordnet sind sondern inter cvharakteritischen Überschriften.
    So kann ich dir beim ersten Lied, "Urians Reise um die Welt", zustimmen, das hier unter der Überschrift "Scherzlieder" zu finden ist, vorbehaltlos zustimmen. Beim zweiten Lied, "Feuerfarb", bin ich mir da nicht so sicher. Ich habe den Text mal herausgesucht:



    Feuerfarb (Text Sophie Mereau (1770 - 1806)


    Ich weiß eine Farbe, der bin ich so hold,
    Die achte ich höher als Silber und Gold;
    Die trag' ich so gerne um Stirn und Gewand
    Und habe sie ,,Farbe der Wahrheit`` genannt.


    Wohl blühet in lieblicher, sanfter Gestalt
    Die glühende Rose, doch bleichet sie bald.
    Drum weihte zur Blume der Liebe man sie;
    Ihr Reiz ist unendlich, doch welket er früh.


    Die Bläue das Himmels strahlt herrlich und mild,
    D'rum gab man der Treue dies freundliche Bild.
    Doch trübet manch' Wölkchen den Äther so rein!
    So schleichen beim Treuen oft Sorgen sich ein.


    Die Farbe des Schnees, so strahlend und licht,
    Heißt Farbe der Unschuld, doch dauert sie nicht.
    Bald ist es verdunkelt, das blendende Kleid,
    So trüben auch Unschuld Verläumdung und Neid.


    Warum ich, so fragt ihr, der Farbe so hold
    Den heiligen Namen der Wahrheit gezollt?
    Weil flammender Schimmer von ihr sich ergießt
    Und ruhige Dauer sie schützend umschließt.


    Ihr schadet der nässende Regenguß nicht,
    Noch bleicht sie der Sonne verzehrendes Licht:
    D'rum trag' ich so gern sie um Stirn' und Gewand
    Und habe sie ,,Farbe der Wahrheit`` genannt.


    Ich finde den Text wohl lyrisch und die musikalische Umsetzung Beethovens allemal, ebenso wie die ausdrucksvolle Interpretation Peter Schreiers und die Begleitung Walter Olbertz'. Überhaupt halte ich Beethoven für einen der absoluten Großmeister des lyrischen musikalischen Ausdrucks, wie ich in nunmehr fast 800 Renzensionen der Sonaten immer wieder festgestellt habe.
    Von Dietrich Feischer Dieskau habe ich übrigens die hier von dir eingestellte Nr. 3, sowie die Nr. 4, 6 und 7 aus dem Jahre 1955, begleitet von Hertha Klust und die Nr. 4 und 7 aus dem Jahre 1966, begleitet von Jörg Demus.


    Als Hörbeispiel habe ich hier Pamela Coburn, begleitet vn Lonard Hokanson:



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Tut mir leid, lieber Willi, dass ich Dich wohl falsch verstanden habe. Aber man konnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass Du den Inhalt der Beethoven-Complete-Edition zu wesentlichen Teilen hier auflisten würdest, schließlich sprachst Du von "zahlreichen CD's mit Arien, Liedern und Volksliedbearbeitungen" und davon, dass "ja insgesamt mehrere hundert Titel zusammen" kommen.
    Sei´s drum. Die Sache hat sich - mitsamt meinen Befürchtungen - erledigt.


    Hocherfreut bin ich über Deinen Beitrag, das Lied "Feuerfarb´" betreffend, und danke Dir ganz herzlich dafür.
    Nun denke ich, dass ich Dir - und natürlich auch den Lesern dieses Threads - eine Erklärung dafür schulde, warum ich meine Liedbetrachtungen mit dem dritten Lied des Opus 52, dem "Liedchen von der Ruhe", eröffnet und das erste und zweite dabei übergangen habe.
    Ich hatte die Gründe dafür ja kurz angedeutet, meine aber nun, nachdem Du mit der Bemerkung "Beim zweiten Lied, "Feuerfarb", bin ich mir da nicht so sicher." Zweifel angemeldet hast, dass ich dazu noch einiges nachtragen sollte.
    Das wird morgen geschehen.

  • Lieber Helmut,


    wie ich in meinem gestrigen Beitrag schon andeutete, fahre ich morgen ja für zwei Tage nach Heilbronn, um Hans (operus) und seine Frau zu besuchen. Da ich auf beiden Wegen, also auch auf der samstäglichen Rückfahrt, jeweils 8 Stunden im Zug zubringen werde, habe ich mir reichlich Musik auf einen USB-Reise-Stick geladen, unter anderem sämtliche Beethoven-Lieder, die Peter Schreier und Walter Olbertz zusammen aufgenommen haben. Da ich diese Lieder auch auf CD habe, nehme ich die Booklets mit den Texten auch mit und kann mich unterwegs so richtig einhören. Ich fahre oder fliege überhaupt nur noch irgendwo hin, wo ich auch eine Internetverbindung antreffe, damit ich meine Aufgaben im Forum überall erfüllen kann. Das gilt auch für meine geplante Indien-Reise im nächsten Januar.
    Übrigens stimmt das mit den zahlreichen CD's. In der Gesamtausgabe Beethoven von Brillant Classics mit 85 CD's füllen alleine die Lieder 4 CD's mit 87 Titeln, die Kanons, Epigramme und Späße 1 CD mit 72 Titeln, die Irish Songs 2 CD's mit 34 Titeln, die Folksongs 1 CD mit 19 Titeln, doe Welsh Songs 1 CD mit 26 Titeln, die Scottish Songs 37 Titel, verschiedene Volkslieder 12 Titel und Lieder veschiedenener Völker 27 Titel insgesamt 2 CD's und 19 verschiedene Folksongs 1 CD, also isngesamt 11 CD's mit 333 Titeln (wenn ich mich nicht verzählt habe). Dazu käme noch 1 CD mit 9 Arien und 1 CD mit verschiedenen Vokalwerken, alles in allem also rund 350 Vokalwerke, außerhalb der großen Messkompositionen, Kantaten, Opern und Singspiele.
    Wenn man sich das alles akribisch vornehmen würde, hätte man aber schon einen ganzen Teil seines Lebens damit zu tun. Das sehe ich ja schon an meinen Beethoven-Sonaten. Ich hoffe, dass ich so lange lebe, dass ich da noch mit fertig werde.
    So, jetzt werde ich mein Köfferchen packen, und dann geht es morgen früh los.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Was „Feuerfarb`“ anbelangt, so ist dieses Lied bei mir ein Opfer des Zwangs zur Auswahl geworden. Das wird sich bei den nachfolgenden Liedbetrachtungen noch mehrfach ereignen, aber sich in diesem Thread auf alle fünfundachtzig Klavierlieder Beethovens einzulassen, das kommt für mich nicht infrage, und es stünde auch nicht im Einklang mit der ihm zugrundeliegenden Intention. Es geht mir, wie ich einleitend zum Opus 52 anmerkte, um die Suche nach dem die Eigenart von Beethovens Liedkomposition konstituierenden, personales Angesprochen-Sein durch die lyrische Aussage vernehmen lassenden musikalischen Grundton.


    Diesen vermag ich in der Vertonung von Sophie Mereaus Gedicht „Feuerfarb´“ nicht in für mich hinreichend ausgeprägter Gestalt zu vernehmen. Und das liegt ganz wesentlich am Gehalt dieser Verse selbst, bei denen es sich im Grunde um metaphorisch sich entfaltende Gedankenlyrik handelt, in der man den starken Einfluss Friedrich Schillers vernimmt, unter dem Sophie Mereau als Lyrikerin stand, - bei all ihrer Hinneigung zur literarischen Romantik. Der „Farbe der Wahrheit“ werden andere „Farben“ vergleichend gegenübergestellt, die der Rose, des Himmels und des Schnees, und dies in der Absicht, sie in ihrer Singularität hervorzuheben, wobei bei der in der letzten Strophe sich ausdrückenden Quintessenz sogar noch ein moralischer Aspekt einfließt.


    Dass sich bei diesem lyrischen Text bei Beethoven keine personale Betroffenheit einstellen und in der Liedmusik darauf niederschlagen konnte, ist nicht weiter verwunderlich. Sie mutet zwar durchaus eingängig an, ist aber, so wie ich sie vernehme, stark von affirmativer syllabischer Dienstbarkeit geprägt. Die melodische Linie entfaltet sich auf der Basis von G-Dur-Harmonik mit Rückungen in die beiden Dominanten in silbengetreuer Deklamation und versteht sich darin als musikalische Basis und Stütze des lyrischen Textes. Sie erschöpft sich darin aber nicht ganz und gar, und das macht ihren Reiz aus. Immer wieder einmal reflektiert sie in ihrer Struktur die Metaphorik und die Aussage des lyrischen Textes. So etwa – um das an den ersten beiden Strophen zu exemplifizieren - bei der melismatisch-wellenartigen und mit Vorschlag versehenen Sechzehntelfigur auf den Worten „Silber und Gold“, bei dem auf einen Fall in tiefe Lage folgenden Quartsprung auf dem Wort „gerne“, bei dem nach unten geneigten Sechzehntelbogen auf dem Wort „lieblicher“ und – dies in besonderer Weise hervorzuheben – bei dem „calando“ in Moll-Harmonisierung erfolgenden und in eine Fermate mündenden Innehalten der Liedmusik auf den Worten „doch bleichet sie bald“.


    So viel zur Erklärung dafür, weshalb ich meinte, dieses Lied hier nicht unbedingt in meine Betrachtungen einbeziehen zu müssen. Dabei ist natürlich sehr viel Subjektivität im Spiel, und deshalb ist es ja von so großer Bedeutung, dass neben meinem Urteil, die Lieder Beethovens betreffend, auch das anderer Mitglieder des Forums Eingang in diesen Thread findet. Ich hatte in der Einleitung dazu aus guten Gründen eben darum gebeten, und prompt ist diese Bitte gleich bei der ersten Betrachtung des „Liedchens von der Ruhe“ in Erfüllung gegangen.

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    1. „Maigesang“, op.52, Nr.4


    "Maigesang", op.52, Nr.4


    Wie herrlich leuchtet
    Mir die Natur!
    Wie glänzt die Sonne!
    Wie lacht die Flur!


    Es dringen Blüten
    Aus jedem Zweig
    Und tausend Stimmen
    Aus dem Gesträuch,


    Und Freud und Wonne
    Aus jeder Brust.
    O Erd', o Sonne!
    O Glück, o Lust!


    O Lieb', o Liebe!
    So golden schön,
    Wie Morgenwolken
    Auf jenen Höhn!


    Du segnest herrlich
    Das frische Feld,
    Im Blütendampfe
    Die volle Welt.


    O Mädchen, Mädchen,
    Wie lieb ich dich!
    Wie blickt dein Auge,
    Wie liebst du mich!


    So liebt die Lerche
    Gesang und Luft,
    Und Morgenblumen
    Den Himmelsduft,


    Wie ich dich liebe
    Mit warmem Blut,
    Die du mir Jugend
    Und Freud und Mut


    Zu neuen Liedern
    Und Tänzen gibst.
    Sei ewig glücklich,
    Wie du mich liebst!


    (J. W. v. Goethe)


    Dies ist das erste liedmusikalischen Dokument der Begegnung Beethovens mit Goethes Lyrik. Man hört es und meint auf der Stelle zu wissen, dass darin, liedhistorisch betrachtet, Unerhörtes vorliegt. So hatte man Goethes Lyrik als Liedmusik bislang nicht vernommen, näherten sich doch die Komponisten ihr in einer gleichsam dienenden, auf die Bereitstellung eines das lyrische Wort tragenden musikalischen Fundaments ausgerichteten Haltung. Das aber war des äußerst selbstbewussten Menschen und Komponisten Beethoven Sache nicht. Und es wird sich zeigen, dass aus dieser Haltung, der Lyrik Goethes gegenüber, bei ihm eine tiefgreifende und die nachfolgende Liedmusik maßgeblich prägende künstlerische Inspiration hervorgeht


    Dass Beethoven ein literarisch hochgebildeter Komponist war und, daraus hervorgehend, über ein eminentes Sensorium für Lyrik verfügte, das ist in der Liedmusik auf diese Verse Goethes auf beeindruckende Weise vernehmlich. Sie atmen einen in seiner Jugendlichkeit geradezu mitreißenden Sturm und Drang-Geist. Wie durch die Emphase der einleitenden Worte „Wie herrlich“ inspiriert und beflügelt, strömt die lyrische Sprache, sich in immer neuen Anläufen in die Emphase des Ausrufs „O“ hineinsteigernd, in einer schwelgerischen Beschwörung der Liebe dahin, eine Fülle von lyrischen Frühlingsbildern gleichsam mit sich reißend, bis sie dann schließlich in den eigentlich absurden, aber doch am Ende dieser Emphase geradezu logisch-stimmig anmutenden Ausruf mündet: „Sei ewig glücklich, wie du mich liebst!“ mündet.


    Was an Beethovens Liedmusik auf diese lyrische Sprache Goethes so beeindruckt, das ist die Tatsache, dass er ihre so mitreißende Emphase gleichsam in Bann zu schlagen vermag, dies aber ohne dabei ihren Geist zu verraten. Er setzt sie in eine überaus lyrische, also eminent liedhafte musikalische Sprache um, die, weil sie vom kompositorischen Konzept des Strophenliedes gleichsam reglementiert auftritt, die über die Stränge schlagende lyrische Sprache formal einfangen und bändigen muss, ohne dabei allerdings – und das ist das Bemerkenswerte daran – ihre poetische Aussage zu verfehlen und in ihrem Potential zu schmälern. Das ist, so möchte man meinen, der Geist der musikalischen Klassik, der darin vernehmlich und fassbar wird.


    Das Lied steht in Es-Dur als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Tempoanweisung lautet „Allegro“. Das Strophenlied-Konzept ist in der Weise umgesetzt, dass die Liedmusik drei Verse umfasst, sich bei der zweiten Dreiergruppe in – bis auf geringfügige Varianten im Klaviersatz - identischer, bei der dritten aber in variierter Form wiederholt. Die Variation beschränkt sich dabei auf die letzte Gedicht-Strophe und besteht im wesentlich darin, dass die beiden letzten Verse wiederholt werden. Liedmusikalisch tiefgreifend ist sie freilich nicht, denn die Melodik generiert sich aus dem Material der vorangehenden Strophen-Gruppen, und nur der Klaviersatz nimmt eine neue Gestalt an, um mittels Akkord-Repetitionen den Gestus einer Steigerung Expressivität zu unterstützen, wie er am Ende in die Liedmusik tritt.


    Das tut sie freilich auf bemerkenswert gemäßigte, die vordergründige Emphase meidende Art und Weise. Und darin drückt sich das Wesen von Beethovens Liedmusik aus. Sie ist auf das Erfassen des innerseelischen Jubels ausgerichtet, der sich in Goethes Versen ausdrückt, und darin erfasst sie den Kern der dichterischen Aussage. Sie ist also, wie man hier in exemplarischer Weise vernehmen und erkennen kann, im interpretatorischen Sinne lyrisch-sprachlich wortorientiert, will den lyrischen Text nicht in instrumenteller Weise als Grundlage für ihre eigene Entfaltung benutzen, vielmehr ist es ihr wesentliches Anliegen, in ihn einzudringen, seine zentrale Aussage zu erfassen und dabei auch seine sprachliche Struktur aufzugreifen. Die Tatsache, dass Beethoven genau dort, wo der innere Jubel des lyrischen Ichs in der Übertragung eigenen Glücks auf das Du kulminiert, in der letzten Gedichtstrophe also, vom Strophenlied-Gestus abweicht und zum Mittel der Variation greift, ist als vielsagender Beleg für diese liedkompositorische Intention zu verstehen.


    Mit einem vierzehntaktigen Vorspiel setzt das Lied ein. Das Klavier nimmt darin die melodische Linie auf den Versen der ersten Strophe in einer sie gleichsam umspielenden Weise vorweg. In den Takten fünf bis neun erklingt die melodische Figur auf den Worten „Wie glänzt die Sonne, wie lacht die Flur“ im Diskant als exaktes Zitat. Die Melodik der einzelnen Strophen stellt in der Art und Weise, wie sie sich auf den jeweils vier Versen entfaltet, eine Einheit dar, und sie ist auch jeweils durch eine Achtelpause zwischen den Strophen als solche hervorgehoben. Gleichwohl greifen diese melodischen Einheiten ineinander und bilden auf diese Weise eine Einheit auf höherer Ebene. Das geschieht in mehrfacher Weise. Zum einen schließt die Melodik der zweiten Strophe an die der ersten dadurch, an dass die auf dem gleichen Ton einsetzt, auf dem die erste endet. Überdies ereignet sich an dieser Stelle eine harmonische Rückung von der Dominante B-Dur zur Tonika Es-Dur. Der Übergang von der zweiten zur dritten Strophe erfolgt zwar nicht in dieser Weise, , es ist aber trotzdem ein fließender, denn der Sekundanstieg auf den Worten „dem Gesträuch“ wirkt wie ein Anlauf zu dem Terzsprung, mit dem die melodische Linie auf den Worten „und Freud´ und Wonne“ einsetzt.


    Aber da ist noch ein weiteres, was einheitsstiftend wirkt. Die Liedmusik der drei Strophen wirkt wie aus dem gleichen melodischen Grundmaterial geformt. Zwar besteht keine Identität in den melodischen Figuren, sehr wohl ähneln die drei Strophen aber, strukturell betrachtet, einander in ihrer melodischen Anlage. Auf den beiden ersten Versen liegt jeweils eine melodische Linie, die in ihrer Struktur eine fallende Tendenz aufweist, die auf dem zweiten Verspaar beschreibt hingegen eine bogenförmige, erst steigende und dann wieder fallende Bewegung, wobei dies bei der zweiten und der dritten Strophe – und das macht die Melodik dieses Liedes so reizvoll, nicht einfach, wie in der ersten, ein linearer Fall ist, sondern einer, der sich in Gestalt eines erst längeren und dann kürzeren Anstiegs auf einer um eine ganze Oktave abgesenkten tonalen Ebene ereignet. So viel zur allgemeinen Anlage dieses Liedes.


    Aber da ist noch das klangliche Wesen dieser Liedmusik. Es ist ganz geprägt vom Zauber seiner melodischen Linie, und diesen bezieht sie aus den gebundenen Duolen, in denen sie sich entfaltet. Man vernimmt sie gleich am Anfang auf den Worten „wie herrlich leuchtet mir die Natur“. Nach einem Sekundanstieg geht die melodische Linie in einen bogenförmig angelegten Fall über das Intervall einer Sexte über, bei dem auf jeder Silbe, von „-lich“ bis zu dem Wort „mir“ eine Legato-Achtel-Duole liegt. Das Klavier begleitet diese Bewegung mit Viertel-Terzen im Diskant und die Harmonik verbleibt, nach einem kurzen auftaktigen B-Dur, durchweg im Bereich der Tonika Es-Dur, um am Ende wieder in die Dominante zu rücken. Die melodische Linie weist durch diese Verdichtung auf Achtel-Duolen eine starke innere Bindung auf, die aber gleichwohl strukturiert bleibt, weil es sich bei diesen Duolen ja um Sekundsprünge handelt.


    In allen drei Strophen generiert sich die melodische Linie aus diesen Achtel-Duolen und gewinnt daraus ihren so eminent ausgeprägten lyrischen Charakter. Bei den Worten „es dringen Blüten aus jedem Zweig“ beschreibt sie einen fünfmaligen, gestaffelt aufeinander folgenden Fall, der mit Ausnahme der Worte „Blüten aus“, durchweg in Gestalt solcher Duolen erfolgt, wobei das Klavier nun mit lang gehaltenen Akkorden begleitet, die dann wieder in Viertelterzen übergehen, und die Harmonik von Es-Dur nach A-Dur und dann zur Dominante rückt. Auf den Worten „und tausend Stimmen aus dem Gesträuch“ liegt dann, wie schon beschrieben, ein zweifacher, erst längerer, dann um eine Oktave tiefer ansetzender Sekundanstieg der melodischen Linie, wobei der längere, in hohe Lage führende, wieder duolisch geprägt ist. Und die Melodik der dritten Strophe entfaltet sich, mit Ausnahme der Worte „Wonne aus“ und den Viertel-Tönen auf den Worten „Erd´“ und „Glück“ durchweg in duolischen Achtelschritten. Hier begleitet das Klavier wieder vorwiegend mit lang gehaltenen, Bass und Diskant übergreifenden Akkorden.


    Man vernimmt und empfindet diese so stark in ihrer allgemeinen Legato-Gebundenheit doch starke, eben über diese duolischen Schritte erfolgende Binnendifferenzierung der Melodik als Ausdruck eines inneren Jubels, wie Beethoven ihn in Goethes „Mailied“ vernommen hat. Und man begreift dabei, wie tiefgreifend er damit dessen lyrische Aussage liedmusikalisch erfasst hat.

  • Manchmal ist es sinnvoll, sich andere Vertonungen eines lyrischen Textes anzuhören und einen Blick in ihre Faktur zu werfen, um die spezifische Art und Weise zu erfassen, in der der Liedkomponist, den man gerade vor sich hat, mit dem lyrischen Text umgeht. Beethovens „Maigesang“ ist wohl die bedeutendste Liedkomposition des Opus 52, und er muss sie selbst wohl als so bedeutsam eingeschätzt haben, dass er sie 1795 instrumentierte. Goethes Mailied wurde fast fünfzig Mal vertont, die bedeutendsten Kompositionen darunter dürften wohl die von Hans Pfitzner und Othmar Schoeck sein. Wenn man das Gefühl hat, dass Beethoven mit seiner Liedmusik den Gehalt und den Geist der lyrischen Aussage in geradezu vollkommener Weise erfasst hat, dann bringt ein vergleichendes Hören dieser beiden Vertonungen von Goethes „Mailied“ nicht nur eine Bestätigung dafür, man erfasst auch alsbald, auf welche Weise Beethoven das gelungen ist. Ganz offensichtlich liegt das an der spezifischen Eigenart seiner Melodik, die zwar durchaus in der Lage ist, die lyrische Aussage zu reflektieren, dies aber dergestalt, dass sie sich nicht in deren Details verliert, sondern auf deren Kern ausrichtet und dabei ihr Eigensein bewahrt, ihren musikalischen Geist, der sie befähigt, sich über ineinandergreifende Zeilen in gebundener Weise zu entfalten und so zu innerer Geschlossenheit zu finden.
    Gerade der unmittelbare Vergleich mit der Liedmusik von Hans Pfitzner lässt das sinnfällig werden.


    Hans Pfitzner: „Mailied“, op.26, Nr.5


    „Bewegt, froh, nicht leidenschaftlich, später sehr steigernd“ lautet die Vortragsanweisung. Das Klavier begleitet die schwärmerisch-leidenschaftliche Deklamation der Singstimme mit ebenso lebhaften Bewegungen von Achteln, die im Bass teilweise triolisch-arpeggienhafte Gestalt haben. Nur an zwei Stellen treten Akkorde in den Klaviersatz: Bei dem Vers „O Lieb, o Liebe“ und bei dem Verspaar „O Mädchen, Mädchen, wie lieb ich dich“. Die Grundtonart ist As-Dur.




    Die melodische Linie der Singstimme überlässt sich in ihrer Bewegung ganz dem Gestus der lyrischen Sprache. Das heißt, dass in der Regel eine Melodiezeile auf je einem Verspaar liegt, dass aber dort, wo große lyrische Emphase in diesen tritt – in Gestalt eines ausrufenden „wie“ oder „o“ – der Fluss der melodischen Linie durch Pausen unterbrochen wird, so dass sich kleinere Melodiezeilen bilden. Dennoch bleibt der klangliche Eindruck einer weit ausgreifenden melismatischen Phrasierung der Vokallinie erhalten, weil die einzelnen Zeilen tonal ineinandergreifen.


    Schon die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, macht all dieses in beeindruckender Weise sinnfällig. Sie durchläuft einen großen tonalen Raum und bringt durch die Sprung- und Fallbewegungen, mit denen sie das tut, inneren Jubel zum Ausdruck. Der Pfitzner-Biograph Johann Peter Vogel spricht hier von „blühender Melodik. Mit den Worten „O Lieb, o Liebe! So golden schön“ kommt ein ausgeprägt schwärmerischer Ton in das Lied. Der Viervierteltakt schlägt in einen Dreivierteltakt um, die Tonart geht von As-Dur in strahlendes C-Dur über, und die Singstimme macht erst einen Terzsprung mit nachfolgender Dehnung, danach das gleiche noch einmal, gesteigert durch einen Quintsprung, und bei dem Wort „golden“ vollzieht sie eine klanglich überaus reizvolle triolische Fallbewegung, um bei dem Wort „schön“ erst einmal mit einem gedehnten Sekundfall zur Ruhe zu kommen. Strahlend, weil in einer Aufwärtsbewegung mit nachfolgender langer melodischer Dehnung auf großer Höhenlage deklamiert, erklingt dann die Wiederholung der Worte „Im blütendampfe die volle Welt.“ Fortissimo ist das zu vernehmen.


    Bemerkenswert ist, dass bei den Worten „O Mädchen, Mädchen“ in die melodische Linie, die bei dem zweiten „Mädchen“ einen ausdrucksstarken Sextsprung vollzieht, zugleich eine leichte Moll-Trübung in den Klaviersatz kommt. Ist da Unsicherheit im Spiel, wie weit die Nähe wirklich geht? Aber schon bei dem Geständnis „Wie lieb ich dich“ ist das Moll wieder durch Dur verdrängt, und der verminderte Sextfall in der melodischen Linie an dieser Stelle wirkt wie der Inbegriff von Zärtlichkeit. Und wenn dann bei den Worten „Wie liebst du mich“ die Vokallinie einen Sextsprung mit nachfolgender langer Dehnung macht und die Harmonik nach dem As-Dur der ersten Verse des Liedes hinüber moduliert, hat der schwärmerische Ton seinen Höhepunkt erreicht.


    Bei den letzten Versen bewegt sich die melodische Linie mit permanenter Steigerung ihrer Lebhaftigkeit in der nun eingetretenen As-Dur-Harmonisierung. Im Klaviersatz steigen in z.T. triolischer Form Achtel aus tiefer Lage hoch in den Diskant und steigern damit den Eindruck der Bewegtheit, den die melodische Linie hier macht. Mit der aus großer Höhe einsetzenden Fallbewegung, die sie dann bei den Worten „Zu neuen Liedern und Tänzen gibst“ kommt die dann zur Ruhe. „Nicht mehr eilen“ lautet die Anweisung für den Vortrag des letzten Verspaares. Es wird wiederholt. Zunächst wird das „sei ewig glücklich“ mit einem Terz- und einem Quartsprung deklamiert. In der Wiederholung wird daraus aber ein in noch größere Höhe ausgreifender melodischer Bogen, der dem lyrischen Wort noch mehr Innigkeit verleiht.



    Die Liedkomposition von Othmar Schoeck (op.19a, Nr.3) entstand 1911, also fünf Jahre vor der Pfitzners




    Auch hier ist die melodische Linie der Singstimme von großem Jubel getragen, der bei den Versen „O Lieb, o Liebe! / So golden schön“ ebenfalls in großer tonaler Höhe aufgipfelt. Aber dieser Jubel wirkt musikalisch verhaltener, er ist gleichsam stärker verinnerlicht, wie zuweilen reflexiv gebrochen. Man vernimmt es etwa, wenn sich die Singstimme am Beginn der dritten Strophe („Und Freud und Wonne…“) ein wenig zurücknimmt, als wolle sie nach der Betrachtung der Naturbilder ihren Blick auf die seelische Dimension lenken. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Schoeck nach der Emphase, die Verse „Sei ewig glücklich / Wie du mich liebst“ legt, den Eingangsvers noch einmal wiederholt und das Nachspiel harmonisch offen enden lässt, - so als würde das Lied auf der Dominante verklingen.


    Pfitzners Lied wirkt musikalisch mitreißender als das Othmar Schoecks. Das ist ganz wesentlich durch die Klangflut bedingt, die der Klaviersatz mit seinen immerzu vorwärtstürmenden und von Triolen im Bass gleichsam vorangetriebenen häufig aufwärts gerichteten Achtelbewegungen entfaltet. Man hat das Gefühl, dass die Singstimme darin regelrecht eintaucht und sich erst im Verlauf des Liedes in Gestalt stärkerer Eigenständigkeit der melodischen Bewegung von der Dynamik des Klaviersatzes zu emanzipieren vermag. Der Eindruck einer ausgeprägten Integration der Vokallinie in eben diese Dynamik Klaviersatzes kommt auch dadurch zustande, dass die Vokallinie durchweg von Pausen untergliedert ist, die in der Regel drei Viertel des Taktes einnehmen und manchmal sogar zwei Takte umfassen. Das mutet an wie Atemlosigkeit in all der Artikulation inneren Jubels.


    Könnte es sein, dass sich der Eindruck, Beethovens Liedmusik bringe diesen inneren Jubel stärker zum Ausdruck, dadurch einstellt, dass er die Haltung des lyrischen Ichs mit einer melodischen Linie zu erfassen versteht, die sich, weil nicht in Einzelelemente untergliedert, in weiter Phrasierung frei entfalten und einem Aufschwung hingegeben kann, in dem sich eben dieser innere Jubel des lyrischen Ichs auf eine gleichsam unvermittelte, musikalisch ursprüngliche Weise auszudrücken vermag? Da artikuliert sich lyrisch schließlich in bester Sturm und Drang-Manier ein Ich, für das die Natur nicht einfach nur „herrlich leuchtet“, sondern dieses ihm („leuchtet mir…“) tut.

  • „Mollys Abschied“, op. 52, Nr.5


    Lebe wohl, du Mann der Lust und Schmerzen!
    Mann der Liebe, meines Lebens Stab!
    Gott mit dir, Geliebter! Tief zu Herzen
    Halle dir mein Segensruf hinab!


    Zum Gedächtnis biet' ich dir, statt Goldes --
    Was ist Gold und goldeswerter Tand? --
    Biet' ich lieber, was dein Auge Holdes,
    Was dein Herz an Molly Liebes fand.


    Vom Gesicht, der Wahlstatt deiner Küsse,
    Nimm, so lang' ich ferne von dir bin,
    Halb zum mindesten im Schattenrisse
    Für die Phantasie die Abschrift hin!


    Nimm, du süßer Schmeichler, von den Locken,
    Die du oft zerwühltest und verschobst,
    Wann du über Flachs an Pallas Rocken,
    Über Gold und Seide sie erhobst!


    Meiner Augen Denkmal sei dies blaue
    Kränzchen flehender Vergißmeinnicht,
    Oft beträufelt von der Wehmut Taue,
    Der hervor durch sie vom Herzen bricht!


    (Gottfried August Bürger)


    Die Fülle all der Gedanken, Gefühle, Empfindungen und aus dem vergangenen gemeinsamen Leben erinnerten Bilder, die dieses lyrische Ich dem Verstorbenen in die Tiefe seines Grabes hinab schickt, in eine ihnen gerecht werdende Musik zu fassen, würde wohl ein kompositorisch großes Werk erfordern. Ein Lied aber ist ein wesenhaft kleines, und Beethoven unternimmt gar den – geradezu kühnen - Versuch, diese sieben Strophen Bürgers in ihren Aussagen nicht etwa in eine durchkomponierte Liedmusik umzusetzen, sondern sie, das Wesen des Liedes in all seiner Kleinheit in gleichsam radikaler Weise ernst nehmend, in die Form eines Strophenliedes einzubringen.


    Eigentlich ist das ja angesichts dieser Vielfalt und Fülle der lyrischen Aussagen dieses eben darin so sehr beeindruckenden und poetisch geradezu artifiziell durchgestalteten Gedichts von Bürger (von dem Beethoven die beiden letzten Strophen nicht aufgenommen hat) ein liedkompositorisches Unding. Es sei denn, man findet den musikalischen Grundton, der den lyrischen Geist, die Haltung also, in der das lyrische Ich sich äußert und aus der heraus seine Ansprache an das verstorbene Du erfolgt, zu erfassen vermag. Es müsste der sein, der die Aussage der lyrischen Worte mit den Mitteln der Liedmusik zum Ausdruck zu bringen vermag, die gleichsam der Rahmen und zugleich die Basis aller lyrischen Einzelaussagen bildet: Die Worte des ersten Verses, die bei Bürger am Ende der letzten Strophe noch einmal wiederkehren.


    Ganz ohne Zweifel ist Beethoven das gelungen. Dies in Gestalt einer ruhig in gebundener Weise sich entfaltenden, volksliedhaft schlichten Melodik, die vom Klavier im Diskant mit Terzen und Einzeltönen in ihren Bewegungen mitverfolgt werden. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde, G-Dur ist die Grundtonart, und die Vortragsanweisung lautet „Adagio con espressione“. Der Grundton wird mit der geradezu klassischen melodischen Abschiedsfigur auf den Worten „Lebe wohl“ angeschlagen: Auf dem Wort „lebe“ liegt eine Figur aus Sekundsprung und gedehntem, weil aus einem punktiertem Achtel und einen Sechzehntel bestehendem Sekundfall, dem ein weiterer, in ein punktiertes Viertel mündender Sekundfall nachfolgt. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von der Tonika G-Dur zur Dominante und wieder zurück. Das ist ein ruhiger, weil in gedehnten deklamatorischen Schritten erfolgender Nachruf, dem, weil in melodisch fallenden Sekundschritten angelegt, eine leichte Anmutung von Wehmut eigen ist, aber, und das ist bemerkenswert, keine von Schmerzlichkeit. Keinen Einbruch von Chroma weist die Harmonik auf. Und auch dies ist gleichsam programmatisch zu nehmen, denn die Harmonik verbleibt fast durchgehend im Tongeschlecht Dur, mit Rückungen ausschließlich in die Dominante und einmal kurz nach E-Dur. Die Subdominante bleibt ausgespart. Nur zweimal, nämlich in Takt 6 und Takt 8, rückt kurz ein a-Moll in die Harmonisierung der melodischen Linie. Man empfindet dies aber nicht als Ausdruck von Leid und Schmerz, viel eher als einen von zärtlichen Empfindungen.


    In den Worten des lyrischen Ichs ist, so wie Beethoven sie in Liedmusik gesetzt hat, kein seelischer Schmerz im Augenblick des Abschiednehmens vom geliebten Mann zu vernehmen. Wehmütig-liebevolle Zuwendung klingt darin auf, und das entspricht ja auch voll der lyrischen Aussage. Nach dem melodischen Abschiedsmotiv am Anfang geht die melodische Linie bei den Worten „du Mann der Lust und Schmerzen“ in ein Auf und Ab in mittlerer Lage über, das am Ende dieser kleinen Zeile in einen Terzfall mündet, in den ein kleiner Achtelvorschlag eingelagert ist, wodurch das Wort „Schmerzen“ einen Akzent erhält. Auch das Wort „Lust“ trägt einen solchen, weil der Sekundsprung, der sich zu ihm hin ereignet, einer von einem deklamatorischen Sechzehntel zu einem punktierten Achtel ist. Die melodische Linie weist also eine Rhythmisierung auf, die es ihr ermöglicht, die Semantik des lyrischen Textes zu reflektieren. Das ist, neben den Legato-Achtel-Duolen, die auch hier wieder eine Rolle spielen, ein von Beethoven oft genutztes liedmusikalisches Ausdrucksmittel.


    Auf dem Wort „Schmerzen“ verharrt die melodische Linie in Gestalt einer Tonrepetition in mittlerer Lage. Es wird dadurch, aber auch weil sich hier eine Rückung in die Dominante ereignet, zwar melodisch schwergewichtig, aber – und das ist bemerkenswert – nicht im Sinne einer Akzentuierung in Richtung Schmerzlichkeit. Und daran knüpft die Melodik auf den Worten „Mann der Liebe, meines Lebens Stab“ an. Denn sie setzt zwar mit einer Kombination aus Sekundsprung und Terzfall ein, aber dieser ist wieder durch eine Folge von punktiertem Achtel und Sechzehntel rhythmisiert, und überdies geht er bei dem Wort „Liebe“ in einen gedehnten Sekundsprung über, so dass die melodische Linie durch ihren melismatischen Gestus und ihre Harmonisierung in der Dur-Dominante eine deutliche Anmutung von liebevoller Zärtlichkeit aufweist. Und so ist es denn nur konsequent, dass sie danach in ein – wiederum rhythmisiertes – Auf und Ab in Sekundschritten übergeht und am Ende einen doppelten, und im zweiten deklamatorischen Schritt legato ausgeführten Sekundfall beschreibt, der die Worte „Lebens Stab“ in zärtlich anmutende melodische Klanglichkeit bettet.


    Bei den Worten „Gott mit dir“ greift Beethoven, um ihnen Nachdruck zu verleihen, zum Mittel der Tonrepetition und nachfolgendem Sekundsprung in hoher Lage, und er lässt das Klavier sie nicht nur im Diskant mitvollziehen, sondern nutzt überdies auch noch die Harmonik in Gestalt einer durchaus markanten, weil liedmusikalisch hier singulären Rückung von G-Dur nach E-Dur. Es folgen die Worte „Geliebter, tief zu Herzen“. Und um ihren emotionalen Gehalt auszuloten geht die melodische Linie zu einem ausdruckstark melismatischen Gestus in Gestalt einer Folge von erst fallend angelegten und dann ein Auf und Ab beschreibenden Legato-Achtel-Duolen über, und die Harmonik unterstützt ihn, indem sie, nach dem vorangehenden E-Dur eine Rückung ins subdominantische Tongeschlecht Moll (a-Moll) vollzieht, bevor sie in die Dominante zur Tonika übergehen kann.


    Weil die Worte „Halle dir mein Segensruf hinab“, wie das vorangehende „Gott mit dir“, einen appellativ vorgebrachten Wunsch beinhalten, setzt sie melodische Linie zwar mit einer Tonrepetition ein, geht danach aber in einen Fall über, um anschließend das große emotionale Potential des Wortes „Segensruf“ zum Ausdruck bringen zu können. Das geschieht melodisch wieder mit dem Mittel der Achtel-Diolen, die nun sogar nach einem anfänglichen Sekundfall zu einem expressiven doppelten Terzsprung übergehen. Und die Harmonik greift erneut zur Rückung ins Tongeschlecht Moll (a-Moll), bevor sie dann am Ende die Kadenz-Rückung über die Dominante zur Tonika vollziehen kann. Auch die melodische Linie überlässt sich nun dem Kadenz-Gestus, indem sie auf dem Wort „hinab“ einen mit einem Achtel-Vorschlag eingeleiteten stark gedehnten Sekundfall hin zum Grundton „G“ vollzieht.


    Und das Klavier?
    Es ergeht sich im Zwischenspiel, das am Ende auch als Nachspiel fungiert, in einem, mit einem Anstieg aus tiefer Lage eingeleiteten und durchaus den Geist der Melodik und die Grundfigur ihrer Entfaltung reflektierenden Bogen von Zweiunddreißigsteln, in denen noch einmal das in diesem Lied zu zärtlich auftretende a-Moll aufklingt, bevor die Kette der Zweiunddreißigstel dann in Sechzehntel- und Achtelfiguren übergeht und das Nachspiel über eine Rückung von der Dominante zur Tonika ausklingt.

  • „Marmotte“, op.52, Nr.7


    Ich komme schon durch manches (Goethe: manche) Land,
    Avecque la marmotte,
    Und immer was zu essen fand
    Avecque la marmotte,
    Avecque si, avecque la,
    Avecque la marmotte.


    Ich hab' gesehn gar manchen Herrn,
    Avecque la marmotte,
    Der hätt die Jungfern gar zu gern,
    Avecque la marmotte,
    Avecque si, avecque la,
    Avecque la marmotte.


    Hab' auch gesehn die Jungfer schön,
    Avecque la marmotte,
    Die täte nach mir Kleinem sehn,
    Avecque la marmotte,
    Avecque si, avecque la,
    Avecque la marmotte.


    Nun laßt mich nicht so gehn, ihr Herrn,
    Avecque la marmotte,
    Die Burschen essen und trinken gern,
    Avecque la marmotte,
    Avecque si, avecque la,
    Avecque la marmotte.


    (J. W. v. Goethe)


    Bei diesem lyrischen Text handelt es sich den Gesang des Savoyarden-Knaben Marmotte in der zweiten Fassung (1778) von Goethes Schwank „Das Jahrmarktsfest zu Plunderweilern“. Beethoven macht daraus, im Wissen um seine gleichsam theatralische Herkunft, eine kleine Komposition, die in ihrer liedmusikalisch überaus schlichten strophenliedförmigen Anlage gleichwohl stark anzusprechen vermag und wohl deshalb zu seinen Liedern mit hohem Bekanntheitsgrad zu zählen ist. Der frühe Liedkomponist Beethoven ist darin zu vernehmen, einer, der sich noch in verschiedenen Liedstilen versucht und auslotet, was sie für ihn zu erbringen vermögen. Hier ist es wohl die französische Romanze, die er als musikalische Form vor Augen hatte, und man kann das, was dabei herausgekommen ist, sehr wohl als Versuch hören und verstehen, ihre Klanglichkeit in die Sphäre deutschen Jahrmarktsgesangs einzubringen, - im Sinne einer artifiziellen Bereicherung, könnte man denken.


    Ob dies bei Beethoven das Motiv für den Griff nach diesem Goethe-Text war? Wer weiß! Aber ein wenig klingt die Liedmusik durchaus danach. Sie atmet bänkelsängerischen Geist, als würde da einer zur Drehorgel vor sich hin singen. Es ist tatsächlich etwas musikalisch Leierndes darin zu vernehmen, denn die Liedmusik dreht sich im Gestus der Wiederholung in nur zwei, ihrer Struktur höchst einfachen und überdies darin auch noch ähnlichen Melodiezeilen, die Singstimme und Klavierdiskant gemeinsam vortragen, im Bass von schlichten, aufsteigend angelegten Achtelfiguren begleitet. Und wie zur Bekräftigung des bänkelsängerischen Refrain-Geists lässt das Klavier die „Avecque si, avecque la“-Melodik in Gestalt hüpfender Sechzehntel-Figuren im Diskant über den aufsteigenden Achteln im Bass als Zwischen- und Nachspiel noch einmal erklingen.


    Aber in all dem ist etwas, das die Liedmusik über den Geist deutscher Jahrmarktsklänge hinaushebt und sie so ansprechend zu machen vermag. Es ist nicht nur der permanente Übergang deutschsprachiger Verse in dominant auftretende französischsprachige, vor allem die Tatsache ist dafür verantwortlich, dass die Liedmusik wie von einem leichtfüßig tänzerischen Geist beflügelt daherkommt. Ein tänzerischer Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „Allegretto“ vorgetragen werden. Aber das sind nur ihre Grundlagen und Rahmenbedingungen. Ihre Melodik wirkt als solche wie von diesem Geist inspiriert. Und vielleicht überlässt sie sich ja deshalb so sehr dem Gestus der Wiederholung. Sie mutet dabei an, als würde sie ihn auf diese Weise regelrecht auskosten.


    Die Melodik auf dem ersten Verspaar wiederholt sich auf dem zweiten, nur ist dieses Mal der kleine Bogen auf „la marmotte“ durch eine aus einem Quintfall hervorgehende und mit der Rückung in die Grundtonart eine Kadenz bildende Tonrepetition mit nachfolgendem Quartsprung ersetzt. Der klangliche Reiz, der von ihr ausgeht, ist dadurch bedingt, dass sie – und das gilt auch für den „Avecque si“-Refrain – aus einer Kombination aus Tonrepetition und lebhafteren, bogenförmig oder fallend angelegten Achtelfiguren besteht. Die Tonrepetitionen wird durch eine Abfolge von deklamatorischen Viertel- und Achtelton-Schritten im Sinne des Sechsachteltakts rhythmisiert. Dadurch weist die auf der tonalen Ebene zunächst verharrende melodische Linie einen tänzerischen Schwung auf, und der kleine Achtelbogen, der nachfolgt, wirkt nun wie ein freies Sich-entfalten-Können in diesem Schwung.


    Bezeichnenderweise liegt diese Figur ja auf den französischen Worten „avecque la marmotte“, und der beschwingte Geist, der ihr innewohnt, darf sich nun im ganz und gar französischsprachigen Refrain entfalten, dies sogar noch in Gestalt einer Wiederholung. Zwar weist die melodische Linie auch hier Tonrepetitionen auf, aber nicht nur, dass sie durch den Sechzehntelsprung-Auftakt am Anfang und die doppelte Sechzehntel-Figur am Ende wie eingehegt anmuten, sie sind von diesem Geist auch selbst infiziert. Denn im Unterschied zur ersten Melodiezeile verharren die Repetitionen nun nicht auf der tonalen Ebene, vielmehr steigt diese in zwei Sekundschritten an, um dann am Ende in einen zweimaligen doppelten Sekundfall überzugehen, der dann allerdings auf der Silbe „-motte“ in eine gedehnte Tonrepetition übergeht. Bei der Wiederholung erfolgt hier, wie auch bei der ersten Zeile, eine Variation zum Zwecke der Kadenzbildung: Der zweite Teil der Achtelfigur ist nun nicht fallend, sondern bogenförmig angelegt, und die Tonrepetition erfolgt nun, verbunden mit einer Rückung in die Tonika, und nicht, wie im ersten Fall, in die Dominante, auf dem Grundton „A“.


    Auch harmonisch weicht der Refrain von der Liedmusik auf dem ersten Verspaar leicht ab. Während dort die Harmonisierung der melodischen Linie durchweg in einem Wechsel zwischen der Grundtonart a- Moll und der Dominante erfolgt, ereignet sich nun zwei Mal, nämlich bei dem Wörtchen „si“, eine punktuelle Rückung von a-Moll nach G-Dur, was der ohnehin schon so lustig-beschwingten Liedmusik noch einen kleinen Schubs verleiht.

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  • Auf der Suche nach einer Aufnahme von diesem Lied bei YouTube machte ich eine überraschende Entdeckung: Es gibt eine Fülle von Aufnahmen davon, aber keineswegs mit großen Lied-Interpreten, sondern in z.T. kurioser instrumentaler Gestalt. Wenn es nur das Klavier wäre, könnte man´s ja noch verstehen, aber das geht von der Geige bis zur Gitarre, zur Mandoline und sogar bis zum Männerchor.


    Die seltsamste Aufnahme, auf die sich stieß, war diese:




    Aber eigentlich, so denke ich nun, hätte ich gar nicht überrascht und erstaunt sein müssen. Das ist Folge und Ausdruck der großen Popularität, die diese kleine Komposition Beethovens zu gewinnen vermochte.
    Wenn man´s recht bedenkt, so gründet sie eigentlich ausschließlich in dem spezifischen Reiz ihrer Melodik.
    Denn wirklich viel zu sagen hat diese Liedmusik im Grund ja doch gar nicht.
    Das ist das wirklich Erstaunliche!

  • „Das Blümchen Wunderhold“, op.52, Nr.8


    Es blüht ein Blümchen irgendwo
    In einem stillen Tal;
    Das schmeichelt Aug' und Herz so froh
    Wie Abendsonnenstrahl;
    Das ist viel köstlicher als Gold,
    Als Perl' und Diamant:
    Drum wird es "Blümchen Wunderhold"
    Mit gutem Fug genannt.


    Wohl sänge sich ein langes Lied
    Von meines Blümchens Kraft;
    Wie es am Leib' und am Gemüt
    So hohe Wunder schafft.
    Was kein geheimes Elixir
    Dir sonst gewähren kann,
    Das leistet, traun! mein Blümchen dir.
    Man säh' es ihm nicht an.


    Wer Wunderhold im Busen hegt,
    Wird wie ein Engel schön.
    Das hab' ich, inniglich bewegt,
    An Mann und Weib gesehn.
    An Mann und Weib, alt oder jung,
    Zieht's wie ein Talisman
    Der schönsten Seelen Huldigung
    Unwiderstehlich an.


    Ach! hättest du nur die gekannt,
    Die einst mein Kleinod war -
    Der Tod entriß sie meiner Hand
    Hart hinterm Traualtar --
    Dann würdest du es ganz verstehn,
    Was Wunderhold vermag,
    Und in das Licht der Wahrheit sehn,
    Wie in den hellen Tag.


    (Gottfried August Bürger)


    Von diesem Gedicht Bürgers, das insgesamt zwölf Strophen umfasst, hat Beethoven nur die ersten drei und die zehnte Strophe in seine Komposition aufgenommen, die 1792 entstand. Es handelt sich um ein Strophenlied, das in G-Dur als Grundtonart steht, einen Zweivierteltakt aufweist und mit der Tempoanweisung „Andante“ versehen ist. Seinen Hörern tritt es als Inbegriff von liedmusikalischer Schlichtheit entgegen, und es wäre hier eigentlich nicht weiter erwähnenswert, käme ihm nicht gleichsam ein dokumentarischer Wert zu: Als Zeugnis einer für die Frühzeit von Beethovens liedkompositorischem Schaffen typischen Suche nach einer gültigen Liedsprache. Die vorangehenden Lieder ließen erkennen, dass er sich offensichtlich in verschiedenen Liedsprachen und Stilen erprobte, und hier ist es ganz offensichtlich die Liedsprache der Berliner Schule, an der er sich orientierte.


    Abzulesen ist das an der Struktur der melodischen Linie und der des Klaviersatzes, aber auch an dessen liedmusikalischer Funktion und schließlich an der Art und Weise, wie die melodische Linie harmonisiert ist. Und diesbezüglich zeigt sich: Die Melodik ergeht sich in syllabisch exakter Dienstbarkeit am lyrischen Text, das Klavier folgt ihr darin ohne jegliche Reklamation von Eigenständigkeit, und die Harmonik bewegt sich im Raum der Tonika mit ihren beiden Dominanten. Liedmusik hat hier – und das ist typisch für das liedkompositorische Konzept der Berliner Schule – ausschließlich die Funktion, in affirmativer Weise klangliche Basis und Träger des lyrischen Textes zu sein.


    Auf dem ersten und dem zweiten Verspaar liegt je eine Melodiezeile, und beide kehren auf dem dritten und vierten Verspaar wieder, die erste unverändert, die zweite am Ende um der Kadenzbildung willen leicht variiert. Das ist melodisch reiner Volksliedton. Durchweg sind beide Melodiezeilen von ihrem deklamatorischen Grund-Gestus gleich angelegt, so dass die zweite wie eine Fortführung der ersten wirkt, und sie setzt ja auch aus diesem Grund ohne Pause auf dem gleichen Ton an, auf dem die erste endet. Ihre Eigenständigkeit besteht lediglich darin, dass sie im Gegensatz zur ersten keine fallende, sondern eine aufwärts gerichtete Bewegung beschreibt.


    Aber in der Art und Weise, wie diese Bewegung sich deklamatorisch entfaltet, unterscheiden sich beide Zeilen nicht. Man kann ein regelrechtes Prinzip darin ausmachen: Die melodische Linie bewegt sich in deklamatorisch gleichförmig repetierenden und syllabisch exakten Achtelschritten auf sich absenkender oder steigender tonaler Ebene, wobei dies – und das ist bemerkenswert - ausschließlich über Terzintervalle erfolgt. Im Grunde bildet sie damit also einen Akkord in ihrer jeweiligen Harmonisierung ab. Und diese wiederum ist durchweg nach einem Grundmuster angelegt: Permanent sich wiederholende Rückung von der Dominante hin zur Tonika G-Dur. Etwas anderes ereignet sich harmonisch nicht. Und dort, wo das Klavier eigentlich ein wenig Raum hätte, Eigenständigkeit in der musikalischen Aussage zu entwickeln, wiederholt es in Gestalt von repetierenden Quinten und Quarten den Grundgestus der melodischen Linie, einschließlich ihrer Harmonisierung.


    Nur eine Art kleinen Ausbruch aus seiner Hörigkeit der melodischen Linie gegenüber leistet es sich im Nachspiel: In Gestalt von zwei fallend angelegten Sechzehntel-Triolen zwischen den bitonalen Akkordrepetitionen. Und auch in der Begleitung der melodischen Linie ereignen sich drei Mal solche kleinen Ausbrüche zwischen den einzelnen Melodiezeilen. Als kleine bogenförmige Achtel- oder aufsteigend angelegte Sechzehntel-Figur, wie nach dem zweiten Verspaar, bringen sie aber keine eigene musikalische Aussage in die Liedmusik ein, sondern haben rein dekorative Funktion. Durchweg folgt das Klavier – und das ist ein wiederum bemerkenswerter Sachverhalt – in der ersten Zeile der melodischen Linie in synchroner Weise mit staccato angeschlagenen Einzeltönen. Bei der zweiten Zeile geschieht das beim zweiten Verspaar mittels Terzen, beim vierten sogar in Gestalt von Quarten und Sexten, aber allemal bleibt es ein Mitvollzug ihrer Bewegung. Darin schließt sich bei den zweiten Verspaaren sogar der Bass noch an, nachdem er bei den ersten sich darauf beschränkt hat, jeweils zwei Achtel pro Takt zur Liedmusik beizutragen.


    Das ist die Faktur dieser kleinen, dem Volksliedton mit bemerkenswerter Konsequenz huldigenden Liedkomposition. Sie entfaltet darin durchaus ihren ganz eigenen klanglichen Reiz: In ihrem schlichten und überaus lieblichen Auftritt reflektiert sie den liebevoll-verehrenden Lobpreis des Blümchens „Wunderhold“, bei dem es sich, wie die zehnte Strophe von Bürgers lyrischem Riesenopus schließlich verrät, um sein geliebtes „Kleinod“ handelt.
    Bei aller lyrisch-sprachlichen und metaphorischen Differenziertheit, in der sich dieser Lobpreis ereignet, wohnt ihm doch ein ursprünglich-naiver Gestus inne.
    Und den hat Beethovens Liedmusik treffend erfasst.

  • „Adelaide“, op.46


    Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten,
    Mild vom lieblichen Zauberlicht umflossen,
    Das durch wankende Blütenzweige zittert,
    Adelaide!


    In der spiegelnden Flut, im Schnee der Alpen,
    In des sinkenden Tages Goldgewölke,
    Im Gefilde der Sterne strahlt dein Bildnis,
    Adelaide!


    Abendlüftchen im zarten Laube flüstern,
    Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln,
    Wellen rauschen und Nachtigallen flöten:
    Adelaide!


    Einst, o Wunder! entblüht, auf meinem Grabe,
    Eine Blume der Asche meines Herzens;
    Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:
    Adelaide!


    (Friedrich von Matthisson)


    Das lyrische Ich ergeht sich hier, einsam im nächtlichen Frühlingsgarten wandelnd, in einem Lobpreis der Geliebten, der schwärmerische, sich ins Hymnische steigernde Züge annimmt. Und Matthisson erweist sich darin als Klopstock-Epigone. Die spezifische Eigenart dieses Gedichts besteht darin, dass in diesen das geliebte Du preisenden Worten gar keine direkte Aussage über dieses getroffen wird. Vielmehr reiht sich ein lyrisches Bild aneinander, alle Bilder zeichnen sich durch übergroße, manchmal ein wenig konstruiert anmutende Zartheit aus, und sie sind sowohl aus dem Raum des lyrischen Ichs genommen, wie auch der Sphäre des Du zugeordnet, verschmelzen darin sogar miteinander. Darin bekundet sich die schwärmerische Verzücktheit, die sich beim lyrischen Ich in der Imagination der Geliebten einstellt. Und diese steigert sich in der letzten Strophe bis zu dem geradezu gewagten, an die Grenze zur Süßlichkeit rührenden Bild von der der Asche des Herzens „entblühenden“ Blume mit dem Namen „Adelaide“ auf jedem „Purpurblättchen“.


    Auch wenn Schiller ihn schätzte, ein großer Lyriker war Matthisson nicht. Aber Beethoven wurde durch diese Verse zu einer wahrlich großen Lied-Komposition animiert, - wobei, das sei gleich vorweg festgestellt, es sich hier, formal betrachtet, eigentlich eher um eine Kantate handelt. Die Komposition trug auch ursprünglich diesen Titel. Matthisson war ganz entzückt von ihr. Zu der Neuausgabe des Gedichts (1825) fügte er die Anmerkung hinzu: „Mehrere Tonkünstler beseelten diese kleine lyrische Phantasie durch Musik, keiner aber stellte, nach meiner innigsten Überzeugung, gegen die Melodie den Text in tieferen Schatten als der geniale Ludwig van Beethoven.“


    Der aber muss sich seiner Sache nicht ganz so sicher gewesen sein, denn erst im Jahre 1800, also drei Jahre nach der Publikation der Komposition, sandte er sie Matthisson zu, versehen mit einem Begleitschreiben, in dem es u.a. hieß:
    „Zwar auch jetzt schicke ich Ihnen die Adelaide mit Ängstlichkeit, Sie wissen selbst, was einige Jahre bei einem Künstler, der immer weitergeht, für eine Veränderung hervorbringen, je größere Fortschritte in der Kunst man macht, desto weniger befriedigen einen die älteren Werke.“
    In diesem Schreiben finden sich allerdings auch diese Worte, die vielsagend sind, weil sie zeigen, in welch hohem Grad diese Komposition aus dem Angesprochen-Werden ihres Schöpfers durch das lyrische Wort hervorgegangen ist, es sich also im originären Sinn um eine Liedkomposition handelt:
    „Mein heißester Wunsch ist befriedigt, wenn Ihnen die musikalische Komposition Ihrer himmlischen Adelaide nicht ganz mißfällt und wenn Sie dadurch bewogen werden, bald wieder ein ähnliches Gedicht zu schaffen, und fänden Sie meine Bitte nicht unbescheiden, es mir gleich zu schicken, und ich will dann alle meine Kräfte aufbieten, Ihrer schönsten Poesie nahe zu kommen.“


    Beethoven komponierte dieses Werk für Singstimme und Klavier in den Jahren 1795/96 und veröffentlichte es ein Jahr später. Im Jahre 1803 erfolgte eine neuerliche Publikation, die sich von der ersten dadurch unterscheidet, dass ihr eine sangbare italienische Übersetzung beigegeben war, und in einer Rezension (in der „Zeitung für die elegante Welt“) hieß es damals, dass dadurch der „italienische Karakter dieser Musik“ unterstrichen würde. Was nun den Charakter dieser Komposition anbelangt, so hat sie ein Kritiker der „Berliner musikalischen Zeitung“ als „große Arie da due carattere“ bezeichnet, und damit ihr Wesen getroffen. Denn ein schlichtes Klavierlied ist das nicht, was man da vernimmt.


    Beethoven orientierte sich bei dieser „Kantate“, wie er seine Komposition im Erstdruck treffend nannte, am Modell der zweiteiligen Konzert-Arie, denn sie weist ja in der Tat mit den beiden sich musikalisch voneinander abhebenden und mit den Tempo-Bezeichnungen „Larghetto“ und „Allegro“ versehenen Teilen eine deutlich ausgeprägte Binnengliederung auf. Und nicht nur das Modell „Arie“ stand Pate, auch die musikalische Gattung „Sonate“ muss das wohl getan haben. Arienhaft wirken die vielen, in der Expressivität sich steigernden Wiederholungen, sonatenhaft aber, und zwar im Sinne der Durchführung eines musikalischen Themas, tritt das ausführliche Wieder-Aufgreifen der lyrischen Worte der dritten Strophe („Abendlüftchen im zarten Laube flüstern…“) auf, wobei die melodische Linie nun mit den vielen triolischen Achtel-Figuren, in denen sie sich entfaltet, wirkt, als sei sie wesenhaft instrumental gedacht.


    Diese Komposition steht also wahrlich zwischen den Zeiten. In ihrer Orientierung an musikalischen Gattungen der Klassik ist sie deren Tradition verhaftet, in ihrer Inspiriertheit durch die Metaphorik eines zeitgenössischen lyrischen Textes und die bis zur Tonmalerei reichenden musikalischen Ausdrucksmittel, mit denen sie diese in ihrem hohen affektiven Gehalt und ihrem evokativen Potential aufgreift, wirkt sie ausgesprochen zukunftsweisend. Mögen auch die formale äußere Anlage, die sonatenhaft strukturierte Musik und die arienhaft angelegte Melodik klassisch-kompositorischem Denken entsprungen sein, - die Art und Weise, wie melodische Linie und Klaviersatz in ihrem Bemühen, die spezifische lyrische Sprache in ihrer Metaphorik und ihrem hohen affektiven Gehalt zu erfassen, angelegt sind, ist ein höchst beeindruckender Beleg dafür, wie die Begegnung mit sprachlicher Lyrik dieses Denken zu sprengen vermag, - im Sinne einer Öffnung für den Geist und die kompositorische Gestalt des Klavierliedes der – romantisch ausgerichteten – Zukunft.



    Aber nun wäre ja noch, im Sinne einer Konkretisierung, zu belegen und einzulösen, was einleitend in allgemeiner Form zu diesem Lied (so sei es nun bezeichnet und eingestuft) ausgeführt wurde. Das soll in möglichst konzentrierter und kompakter, nur die wesentlichen Aspekte der Faktur berücksichtigender Gestalt geschehen. Im fünftaktigen Vorspiel lässt das Klavier „dolce“ und „piano“, die melodische Linie auf den Worten des ersten Verses .der ersten Strophe erklingen, - in einer für den Gestus seiner nachfolgenden Begleitung der Singstimme charakteristischen Weise. Über einem triolischen Auf und Ab von Achteln im Bass gibt es im Diskant zunächst die melodische Linie fast exakt vor, geht danach aber zur Artikulation einer Folge von zwei höchst melismatischen Sechzehntel-Figuren über, die ganz offensichtlich das „liebliche Zauberlicht“ imaginieren wollen, von dem der zweite Vers spricht. Und darin zeigt sich: Das Klavier will nicht nur begleiten, es will auf tonmalerische Weise klangliche Atmosphäre schaffen, darin die lyrische Aussage und die sie tragende Metaphorik mit seinen Mitteln reflektierend.


    Bei der ersten Strophe beschränkt es sich allerdings auf die Begleitung der Singstimme mit dem Auf und Ab von Achteln, gebrochenen Akkorden also, im Diskant und Oktaven im Wert von halben Noten im Bass. Die melodische Linie entfaltet sich in weit ausgreifender Phrasierung und gebundenen Schritten. Ihre starke Ausdruckskraft gewinnt sie aus dem Übergang von ruhiger Tonrepetition in lebhaftere deklamatorische Achtel-Schritte, die jeweils die lyrische Aussage reflektieren. Bei den Worten „im Frühlingsgarten“ ist es ein zweifacher Sekundfall, bei „lieblichen Zauberlicht“ hingegen ein von Triolen geprägter und deshalb melismatisch wirkender Anstieg, der in eine Wellenbewegung mündet. Auf dem Wort „wankende“ liegt eine relativ lange Dehnung, die mit einem Quintsprung in einen doppelten Terzfall übergeht, und beeindruckend ist, wie die melodische Linie am Ende in Gestalt eines Achtel-Sekundfalls auf dem Wort „zittert“ unvermittelt abreißt, und es dem Klavier überlässt, diese so überaus reizvolle nächtliche Szene mit einer Folge von sich im Intervall verkleinernden, fallend angelegten Achtelfiguren klanglich zu imaginieren. Bei dem Quintsprung auf dem Wort „wankende“ ereignet sich eine kurze harmonische Rückung nach c-Moll, ansonsten bewegt sich die Harmonik bei dieser ersten Strophe im Raum der Tonika B-Dur und ihrer beiden Dominanten.


    Und nun erklingt zum ersten Mal der das Lied klanglich so stark prägende Ruf „Adelaide“. Das geschieht in diesem Lied insgesamt vierzehn Mal, und jedes Mal auf melodisch andere Weise und häufig auch von der Harmonisierung in Tonika und Dominante abweichender Weise. Das wäre noch nichts Ungewöhnliches, aber das Bemerkenswerte daran ist: Diese Variationen in Melodik und Harmonik sind jeweils eine Folge der vorangehenden melodischen Aussage, gleichsam ihre Quintessenz. Und das macht sie so faszinierend und zu einem herausragenden Merkmal für die singuläre musikalische Qualität dieser Komposition.
    Das kann im einzelnen gar nicht alles aufgezeigt werden, es käme eine eigenständige und umfangreiche analytische Betrachtung dabei heraus. Hier, beim ersten Mal liegt auf dem zweimaligen Ruf zunächst ein triolischer Anstieg der melodischen Linie, der am Ende in einen leicht gedehnten Sekundfall übergeht, wobei sich eine Rückung von F-Dur nach B-dur ereignet. Das Klavier begleitet mit seinen fallenden Achtelfiguren im Diskant und sich im Bass langsam absenkenden bitonalen Akkorden Bei der Wiederholung liegt dann aber auf „Adelaide“ eine weniger emphatisch, eher wie ein inniges Ansprechen wirkende triolische Fallbewegung, die aus einer Dehnung in höherer Lage hervorgeht und über einen Terzsprung wieder in den gleichen Sekundfall mündet. Hierbei geht das Klavier nun zu repetierenden Akkorden über, die zur Liedmusik der zweiten Strophe überleiten.


    In der Liedmusik der zweiten Strophe greift Beethoven erstmals zum kompositorischen Mittel der Wiederholung. Und was hier zunächst in noch sparsamer, sich zunächst auf nur wenige Worte beschränkender Weise geschieht, weitet sich in den beiden nachfolgenden Strophen zur Wiederholung ganzer Versgruppen und einzelner Wortgruppen aus. Hier aber, in der zweiten Strophe, wird bereits der kompositorische Sinn der Wiederholung ersichtlich. Zwei Ziele verfolgt Beethoven damit: Einerseits die Intensivierung des Gestus der Ansprache, der dem lyrischen Text zugrundliegt, zum andern aber, und dies in erster Linie und mit deutlicher Priorität, die musikalische Auslotung des evokativen Potentials der jeweiligen lyrischen Aussagen und Bilder.


    Die Wiederholung der Worte „dein Bildnis“ im Kontext von „Adelaide“ bringt eine Steigerung des emotionalen Gehalts der Ansprache der Geliebten mit sich. Bei ersten Mal liegt auf den Worten „strahlt dein Bildnis“ ein aus einer gedehnten Tonrepetition in oberer Mittellage hervorgehender Sekundfall, wobei das Klavier mit Akkordrepetitionen begleitet. Bei der Wiederholung der Worte „dein Bildnis“ beschreibt die melodische Linie dann aber einen in hohe Lage führenden expressiven Sextsprung, der mit einer Rückung von C-Dur nach F-Dur verbunden ist und zum Ansatz für den nachfolgenden, in G-Dur harmonisierten Quintfall auf „Adelaide“ wird, der danach in einer wellenartig-melodischen, in ein C-Dur mündenden Bewegung ausklingt. Am Ende der Strophe bewirkt die Wiederholung der Worte „dein Bildnis“ eine Intensivierung der fallenden Tendenz der melodischen Linie, die sich auf dem neuerlichen Ausruf „Adelaide“ fortsetzt und anmutet, als würde die anfängliche, gleichsam extrovertierte Emphase nun in tiefe seelische Innerlichkeit zurückgenommen.
    Vielsagend ist diesbezüglich, dass das Klavier in der halbtaktigen Pause vor der langen Dehnung, mit der die Fallbewegung auf „Adelaide“ einsetzt, die Achtelfiguren, mit denen es hier im Diskant begleitet, in verminderter Des-Harmonik erklingen lässt, bevor es zu dem F- und dem C-Dur übergeht, in dem die Achtelfiguren beim langen Sekundfall auf „Adelaide“ nun stehen.


    Bei der dritten Strophe fasziniert die Liedmusik nicht nur dadurch, dass sich in der Wiederholung nicht nur einzelner Wortgruppen, sondern des ganzen lyrischen Textes eine das lyrische Aussage-Potential in alle seinen Dimensionen aufzeigende Vielgestaltigkeit der Melodik, des Klaviersatzes und der Harmonik ereignet, sie vermag auch dadurch in Bann zu schlagen, dass das Klavier nun in höchst beeindruckender tonmalerischer Manier agiert. Aber auch die melodische Linie reflektiert in einer Weise die lyrische Aussage, die Beethoven nun endgültig zum Liedkomponisten par excellence werden lässt.
    Auf den Worten „Abendlüftchen im zarten Laube flüstern“ liegt eine melodische Linie, die überaus ruhig (halbe Noten) ansteigt, mit einem zierlichen Vorschlag in Gestalt von Tonrepetitionen in oberer Mittellage verharrt und dann in einen triolischen Achtelfall übergeht, dem bei „flüstern“ ein Quintsprung mit nachfolgendem Sekundfall nachfolgt, der dieses Wort in seinem semantischen Gehalt auf höchst beeindruckende Weise vernehmlich werden lässt. Und wenn die Singstimme die Worte „Wellen rauschen und Nachtigallen flöten“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die auf „rauschen“ zunächst einen expressiven verminderten Septfall beschreibt, um danach bei „Nachtigallen flöten“ in ein Auf und Ab überzugehen, das am Ende in eine Tonrepetition mit nachfolgend vermindertem Sekundfall mündet, wobei sich die Harmonik hier nun im Bereich von Es-Dur und As-Dur bewegt, dann lässt das Klavier im Nachtrag zu dem Wort „rauschen“ einen wahrlich rauschenden Staccato-Achtelfall in hoher Lage erklingen, und bei „flöten“, wiederum im Nachtrag, eine regelrecht tirilierend anmutende Folge von Achtelfiguren in hoher Diskantlage.


    Bei der Wiederholung dieses Verses behalten melodische Linie und Klaviersatz zwar ihren Grund-Gestus bei, aber dadurch, dass die Harmonik von Es- und As-Dur nach F-Dur rückt und die melodische Linie die Intervalle ihrer Entfaltung im Sinne größerer Ausdruckskraft verändert, einschließlich nun eines gedehnten Falls auf „flöten“, und das Klavier die Tirili-Figur nun in Gestalt von Oktaven ausführt, wirkt die Liedmusik in der Steigerung ihrer Expressivität wie eine Vorbereitung und Hinführungen zu dem melodisch weit gespannten, aus einer Kombination aus Sekundfall, gedehntem Quartsprung, neuerlich extrem gedehntem vermindertem Sekundfall und Sturz über eine Quinte bestehendem Bogen auf „Adelaide“. Er erklingt in Ges- und Ces-Dur Harmonisierung, was ihm in der Rückung aus dem vorangehenden F-Dur ganz besondere Expressivität verleiht. Und dann erklingen alle Verse dieser Strophe in einer Liedmusik noch einmal, die tatsächlich wie eine Durchführung von Melodik und Klaviersatz im Sinne des Sonatensatzes wirken. Nun liegt auf den ersten beiden Versen keine ruhig ansteigende und dann in Achtelfiguren übergehende melodische Linie mehr, vielmehr eine, die, in Des- und Ges-Dur harmonisiert und von Klavier mit repetierenden Akkorden begleitet, auf mittlerer tonaler Ebene verharrt und dort jeweils am Ende der Zeilen in ein triolisches Auf und Ab in Sekundschritten übergeht.


    Diese Melodik wirkt, als wolle sie das Leise und Zarte der beiden lyrischen Bilder stärker zum Ausdruck bringen, als dies bei der vorangehenden der Fall war. Und auch die melodische Linie auf den Worten „Wellen rauschen und Nachtigallen flöten“ lotet die Semantik der beiden lyrischen Bilder tiefer reichend aus, auch deshalb, weil hier wieder das Prinzip der Wiederholung zum Einsatz kommt. Die Worte „und Nachtigallen flöten“ werden noch einmal deklamiert, und dies auf identischer melodischer Linie, die ebenfalls aus kleinschrittig feinen, fallend angelegten triolischen Achtelfiguren besteht. Die Harmonik ist hier nun allerdings von Ges-Dur nach F-Dur und b-Moll gerückt, was die Anmutung von beseelter Innigkeit und Zartheit, die die Liedmusik hier aufweist, noch steigert.


    Und so wohnt denn dem zweifachen „Adelaide“ dieses Mal ein Ton von Verzückung inne: Die Melodik beschreibt einen lang gedehnten Halbtonschritt in hoher Lage und geht danach zu einem Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall über. Das Klavier begleitet das mit Akkordrepetitionen im Diskant, und die Harmonik beschreibt eine höchst ausdruckstarke Rückung von des-Moll über f-Moll nach F-Dur. Bei der Wiederholung wird aus dem Terzsprung auf den letzten Silben von „Adelaide“ nun ein Sekundsprung der über einen nachfolgenden Sekundfall in eine lange, mit einer Fermate versehene Dehnung auf einem hohen „Es“ mündet, wobei das Klavier mit einem F-Dominantseptakkord begleitet, der zum nachfolgenden „Allego molto“ überleitet.


    Inhalt dieses zweiten Liedteils ist die vierte Strophe, aber da er 113 Takte umfasst, kann sich die Liedmusik darin nur in umfangreichen Wiederholungen ergehen. Und so ist es auch: Die ganze Strophe wird wiederholt, und dabei ereignet sich sechzehn Mal die Wiederholung einzelner Wortgruppen und ganzer Verse, der Name „Adelaide“ nicht mitgezählt. Den melodisch stark variierenden Ausruf darauf vernimmt man insgesamt vier Mal, und allein schon darin zeigt sich die liedkompositorische Intention, die diesem „Allegro molto“ zugrunde liegt. Zum Ausdruck gebracht werden soll das in der Emphase permanent anwachsenden Sich-Hineinsteigerns des lyrischen Ichs in die mit dem zukunftsweisenden Wort „einst“ eingeleitete Vision der „Blume“, die der „Asche des Herzens“ „entblüht“. Und das gelingt Beethoven auf tief beeindruckende, geradezu mitreißende Weise, - eine Weise, die vernehmen und erkennen lässt, wie tief er als Rezipient dieser Matthisson-Verse davon emotional angerührt war. Die ungewöhnlich große Zahl der Text-Wiederholungen ist ja ihrerseits als ein Symptom des kompositorischen Sich-Hineinsteigerns in dieses lyrische Bild der letzten Strophe aufzufassen.


    Das muss nun nicht noch in detaillierter Weise liedanalytisch beschrieben werden. Nur der Aspekt der liedmusikalischen Steigerung soll noch kurz konkretisiert werden Die melodische Linie weist in ihren einzelnen Zeilen eine Grundstruktur auf, die sich in der Abfolge derselben und in den Wiederholungen variiert, wobei sich eine permanente Steigerung der Expressivität ereignet. Gleich am Anfang, bei den Worten des ersten Verses kann man dieses liedkompositorische Prinzip vernehmen und erkennen. Die Worte „o Wunder“ werden wiederholt, nun aber nicht auf der einen Sekundfall beinhaltenden Melodik ihres ersten Auftritts, sondern in Gestalt eine melodischen Sekundsprungs. Und die melodische Fallbewegung auf „blüht auf meinem Grabe“ senkt sich bei der Wiederholung um eine Sekunde tiefer ab, auf dass der Sekundsprung auf „Grabe“ nun in der Tonika B-Dur, und nicht wie vorher in der Dominante harmonisiert werden kann. Auf den Worten „Asche meines Herzens“ liegt beim ersten Mal ein auf einem „Es“ in oberer Lage ansetzender bogenförmiger Fall der melodischen Linie, der in einen Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall mündet. Bei der Wiederholung liegt auf „Asche“ aber ein expressiver, stark gedehnter melodischer Sekundanstieg, der in eine fünfschrittige, legato auszuführende und auf einem hohen „F“ ansetzende Sekundfallbewegung übergeht.


    Diesen Effekt erlebt man in diesem zweiten Liedteil in sich steigernder Weise permanent und man wird tatsächlich mitgerissen davon. Und dann ereignet sich am Ende das, was einem buchstäblich den Atem raubt.
    Nach einer zum musikalischen Höhepunkt führenden Stretta auf den wiederholten Worten „auf jedem Purpurblättchen“, die mit sich ins Fortissimo steigernder Emphase in den in lang gedehnten kleinen Sekundanstiegen erfolgenden und in Gestalt einer zwei Takte übergreifenden Dehnung auf dem Grundton in hoher Lage deklamierten Ausruf „Adelaide“ mündet, den das Klavier mit einer hochexpressiven Folge von große Intervalle einnehmenden, steigenden und fallenden Achtelketten im Diskant begleitet, tritt mit einem Mal große Ruhe in die Liedmusik. Fünf Takte lang lässt das Klavier, bei Stille im Diskant, eine bogenförmig fallende Folge von Terzen und Einzeltönen im Bass erklingen, und das „piano“ und „calando“.
    Und dann deklamiert die Singstimme in tiefer Lage und dabei wunderbare Ruhe ausstrahlend, weil auf der tonalen Ebene des Grundtons in tiefer Lage verbleibend und nur am Ende noch eine verschämte Kombination aus Quintsprung und Sekundfall wagend, pianissimo das für dieses Lied so bedeutsame, weil seinen eigentlichen Inhalt darstellende und deshalb sein musikalisches Zentrum bildende Wort:
    „Adelaide“.

  • Johannes Roehl hatte – freundlicherweise – in Beitrag 4 zu bedenken gegeben:
    „Der "Geist der Klassik" ist ja bei Beethoven ein schwieriger Fall. Selbst wenn mich die entsprechenden Argumente überzeugen, dass seine Musik strukturell ohne Zweifel klassisch ist, so wurde sie ohne Zweifel seinerzeit oft auch als Provokation und Bruch mit dem "Geist der Klassik" (i.S.v. Mozart und Haydn) empfunden. Nun habe ich sicher keine feste Meinung dazu, wie die Lieder hier hineinpassen, ob und wenn ja, wie, sich in ihnen ebenso wie in den großen Instrumentalwerken dieser Doppelcharakter zeigt. Nämlich die klassische Stringenz einerseits und die unerhörte Freiheit und Radikalität, die die Zeitgenossen oft ratlos zurück ließ andererseits.“


    Sollte er jetzt noch einmal einen Blick in diesen Thread werfen, so fände er, wie ich denke, in der Besprechung von „Adelaide“ und den damit einhergehenden analytisch-reflexiven Betrachtungen Antworten auf die mit seinem damaligen Beitrag indirekt aufgeworfenen Fragen. Es sollte nun eigentlich voll und ganz deutlich geworden sein, wie die im Thread-Titel mit den Worten „Liedmusik im Geist der Klassik“ vorgenommene Charakterisierung des liedkompositorischen Konzepts von Beethoven zu verstehen ist. Dieses orientiert sich, wie in der analytischen Betrachtung von „Adelaide“ aufzuzeigen versucht wurde (und auch als Aspekt bei der Betrachtung der nachfolgenden Lieder weiter Beachtung finden wird), tatsächlich noch an formalen und strukturellen Merkmalen von musikalischen Gattungen der Klassik, ist aber in ihrer Inspiriertheit durch die Metaphorik eines zeitgenössischen lyrischen Textes und die bis zur Tonmalerei reichenden musikalischen Ausdrucksmittel, mit denen sie diese in ihrem hohen affektiven Gehalt und ihrem evokativen Potential aufgreift, auf dem Weg hin zum kompositorischen Konzept des romantischen Klavierliedes.


    Wenn ein Kritiker im „Allgemeinen musikalischen Anzeiger“ 1829 über „Adelaide“ urteilte, „Beethoven würde unsterblich bleiben, hätte er auch sonst keine einzige Note geschrieben", so ist das gewiss übertrieben, enthält aber insofern doch ein Körnchen Wahrheit, als es auf den herausragenden Rang dieser Komposition verweist,- herausragend nicht nur in ihrem ihre Hörer tief ergreifenden musikalischen Reichtum, sondern vor allem in ihrem zukunftsweisenden kompositorischen Potential, - dies nicht nur für Beethoven selbst, sondern für die Liedmusik ganz allgemein.

  • Beethoven hat diese Gruppe von sechs Liedern im Jahr 1803 komponiert, während der Zeit also, als er an der „Eroica“ arbeitete und die von tiefer Niedergeschlagenheit geprägt war. Sie hatte zuvor, am 6. Oktober 1802, im sog. „Heiligenstädter Testament“ tief berührenden Ausdruck gefunden. Laut Carl Czerny soll Beethoven „um das Jahr 1802“ geäußert haben: „Ich bin nur wenig zufrieden mit meinen bisherigen Arbeiten. Von heute an will ich einen neuen Weg einschlagen:“ Vielleicht erklärt sich aus dieser existenziellen und künstlerischen Krise der Griff nach den 1757 erschienenen „Geistlichen Oden und Liedern“ von Christian Fürchtegott Gellert, die eigentlich für die Verwendung im Gottesdienst gedacht waren und sich ihrer sprachlichen Diktion an alten Choralmelodien orientieren. Beethoven hat, mit Ausnahme des letzten Liedes, die von ihm ausgewählten lyrischen Texte nicht in ihrem ganzen Umfang in den jeweiligen Notentext aufgenommen, sondern nur die erste Strophe, und einmal auch die zweite. Die Lieder wurden 1803 unter dem Titel publiziert: „Sechs Lieder von Gellert, in Musik gesetzt von L. van Beethoven. Dem Grafen Bowne gewidmet. Op.48“.


    Es handelt sich bei diesen Kompositionen um eine Gruppe, die keine sie als Zyklus ausweisende strukturelle Merkmale aufweist. Gemeinsam haben sie eine Liedsprache, die unter Einbeziehung archaisierender, aus der Kirchenmusik entlehnter Stilelemente auf Objektivität der musikalischen Aussage ausgerichtet ist. Gleichwohl ist darin - und darin unterscheiden sie sich von der Musik eines Carl Philipp Emanuel Bach, die Beethoven wohl als Vorbild vor Augen und Ohren hatte – ein eminent personaler und subjektiver Ton zu vernehmen: Niederschlag wohl der Suche nach Antworten auf existenzielle Grundfragen, wie sie sich einem Menschen und Künstler des frühen neunzehnten Jahrhunderts stellten und wesenhaft die musikalische Gattung Kunstlied hervorbrachten.



    „Bitten“, op.48, Nr.1


    Gott, deine Güte reicht so weit,
    So weit die Wolken gehen,
    Du krönst uns mit Barmherzigkeit
    Und eilst, uns beizustehen.
    Herr! Meine Burg, mein Fels, mein Hort,
    Vernimm mein Flehn, merk´ auf mein Wort;
    Denn ich will vor dir beten!


    Flehen und Bitte um Erhörung im Gebet bringen diese Verse zum Ausdruck, dies aber auf der Grundlage eines Lobpreises, der die Güte, die Barmherzigkeit aber auch die schützende Hand des „Herrn“ hervorhebt. Diese zwei Ebenen der ersten Strophe von Gellerts, noch drei weitere umfassendem Gedicht bringt Beethovens Liedmusik auf eine höchst beeindruckende, weil die sich in ihnen ausdrückende Haltung des lyrischen Ichs mit ihren Mitteln voll und ganz erfassende Weise zum Ausdruck. Das Lied steht in E-Dur als Grundtonart, es weist einen Viervierteltakt auf und soll „Feierlich und mit Andacht“ vorgetragen werden. In neuntaktigen Vorspiel lässt das Klavier im Diskant in akkordischer Gestalt die melodische Linie erklingen, die auf dem ersten Vers liegt, geht dann aber zu einer kurzen Variation derselben über und lässt diese erst in einen lang gehaltenen D-Dur-Akkord, danach in einen in der Tonika münden, - ein Vorspiel also, das im Gestus des Orgelvorspiels vor dem Einsatz der Stimmen eines Chors gehalten ist.


    Und wie vom Geist eines Chorals beseelt tritt auch die Singstimme auf. Ein pastoraler Gestus ist ihr eigen, und sie behält ihn vom Anfang bis zum Ende der Liedmusik bei, bereichert dort noch durch die Haltung des Gebets. Die Anmutung eines geistlichen, in einem sakralen Raum sich ereignenden Gesangs kommt durch die spezifische Struktur der melodischen Linie und den ihn zugeordneten Klaviersatz zustande. Durchweg ist die Melodik so angelegt, dass auf der Hebung des jambischen Versmaßes eine deklamatorische Dehnung in Gestalt einer halben und gar einer punktierten halben Note liegt. Nur der Auftakt der Verse weicht davon ab, und das musste für Beethoven zwingend sein, liegen doch auf ihm solch gewichtige Worte wie „Gott“, „Herr“ und die Anrede „Du“. Auch der Klaviersatz weist fast durchweg eine einheitliche Grundstruktur auf: Im Diskant folgen Akkorde mit zuweilen eingelagerten Vierteln der Bewegung der melodischen Linie, der Bass hingegen besteht einer Folge von Vierteln, in der sich eine melodische Linie abzeichnet, die, da sie häufig gegenläufig zu der der Singstimme angelegt ist, einen eigenständigen Beitrag zur Liedmusik darstellt und damit den Eindruck eines ruhigen und gleichförmigen Dahinfließens derselben maßgeblich prägt.


    Die Einschränkung „fast durchgehend“ muss deshalb gemacht werden, weil die Liedmusik auf dem letzten Vers Abweichungen mit sich bringt. Sie hebt sich zwar nicht im deklamatorischen Gestus der melodischen Linie, wohl aber im Klaviersatz von den vorangehenden Melodiezeilen ab. Er besteht nun, die Bereitschaft des lyrischen Ichs zum Gebet reflektierend, sowohl im Bass wie auch im Diskant aus einer synchronen Folge von Akkorden.


    Auch wenn die Komposition vom Geist sakraler Musik inspiriert und geprägt ist, so handelt es sich dabei doch um Kunstlied-Musik im genuinen Sinne. Das heißt: Sie reflektiert den lyrischen Text aus der Perspektive des personalen Angesprochen-Seins des Komponisten durch die Aussage des lyrischen Textes. Und der ganz spezifische Reiz besteht hier, wie bei all diesen Gellert-Liedern, aus der eigentümlichen Binnenspannung zwischen dieser Subjektivität der melodischen Aussage und ihrer Einbindung in eine gleichsam auf Objektivität ausgerichtete musikalische Struktur, wie sie die Tradition sakraler Musik vorgibt. In den ersten fünf Versen ergeht sich das lyrische Ich einem hymnisch anmutenden Lobpreis Gottes. Und die melodische Linie reflektiert dies nicht etwa in einer gleichsam pauschalen Weise, sondern dergestalt, dass sie die lyrischen Einzelaussagen und die damit einhergehenden Bilder aufgreift.


    Die erste Melodiezeile umfasst die beiden ersten Verse. Die melodische Linie setzt dabei mit einer ruhigen, das auftaktige Wort „Gott“ mit einer Dehnung aufgreifenden Tonrepetition ein, beschreibt dann zu dem Wort „Güte“ hin einen Quartsprung, verharrt dort, um es mit einem Akzent zu versehen, erneut in einer Tonrepetition und geht danach in einen Fall über, der auf dem Wort „weit“ in einer Dehnung endet, die aber keine Pause mit sich bringt, sondern bei den Worten „so weit“ dergestalt weitergeführt wird, dass auf ihnen eine Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene liegt. Zu den Worten „Wolken gehen“ hin ereignet sich erneut ein deklamatorischer Sprung, und wie stark die Melodik die lyrische Aussage in ihrer Semantik reflektiert, das ist hier darin zu vernehmen, dass die Ruhe, die dem Bild von den „Wolken“ innewohnt, mit melodisch-deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten und der melodischen Figur eines in einen Fall übergehenden Sprungs aufgegriffen wird. Die Harmonik bewegt sich in dieser ersten Melodiezeile im Bereich der Tonika E-Dur und ihren beiden Dominanten. Aber bemerkenswert ist, dass sie bei eben diesem Bild von den „Wolken“ eine kurze Rückung nach cis-Moll beschreibt, - Ausdruck der Innigkeit, die sich beim lyrischen Ich bei der Imagination der Größe von Gottes „Güte“ einstellt. +++


    Bei den Worten „Du krönst uns mit Barmherzigkeit“ stellt sich beim lyrischen Ich die demütige Haltung der Dankbarkeit ein. Und das drückt sich darin aus, dass die melodische Linie nicht nur auf der Ebene eines hohen „E“ verharrt, sondern dies auch in deklamatorisch durchweg gedehnten und gewichtigen Schritten im Wert von halben Noten tut, wobei das Klavier im Diskant dazu eine Folge von lang gehaltenen dreistimmigen Akkorden beiträgt. Bemerkenswert aber: Die Harmonik beschreibt dazu eine expressive Rückung von Gis-Dur über cis.Moll und Cis-Dur nach H-Dur, - vernehmlich machend, dass dieses lyrische Ich tief gerührt ist von seiner „Krönung“ durch Gottes Barmherzigkeit. Bei den nachfolgenden Worten („und eilst, uns beizustehen“) geht die melodische Linie dann zu einem Gestus über, der die Haltung des demütigen Empfängers noch intensiviert, indem sie einen auf einem Quartsprung folgenden Fall beschreibt, der am Ende wieder in eine Aufwärtsbewegung übergeht, die mit einer harmonischen Rückung in die Dominante verbunden ist, die das Klavier in seinem nachfolgenden zweitaktigen Zwischenspiel mit akkordischen Figuren aufgreift, die zur nächsten, die Verse fünf und sechs beinhaltenden Melodiezeile überleiten.


    Hier sind es offensichtlich die Worte „vernimm mein „Fleh´n“, die die melodische Linie prägen. Sie verharrt bis hin zu „mein Wort“ ausschließlich auf den tonalen Ebene eines hohen „E“, und dies in ihrem deklamatorischen Grund-Gestus der Aufeinanderfolge einer Dehnung (punktierte halbe Note) und eines kurzen Schritts (Viertel). Harmonisiert ist diese Melodiezeile, ganz der Innigkeit des Flehens gemäß, in a- Moll, mit einer Rückung nach E-Dur freilich und einer am Ende nach H-Dur. Hier weicht die melodische Linie von ihrem insistierenden Verharren auf nur einer tonalen Ebene ab und beschreibt nach einem Sekundanstieg einen Sextfall, dem ein Sekundfall mit Dehnung nachfolgt. Dem Hinweis auf das „Wort“ wird auf diese Weise sanfter Nachdruck verliehen.


    Während die melodische Linie, darin vom Klavier mit einem dreistimmigen Akkord begleitet, auf „Wort“ in Gestalt einer den ganzen Takt einehmenden Dehnung innehält, steigen im Bass aus tiefer Lage mit einem Crescendo Viertel in mittlere Lage empor und gehen danach wieder in einen leichten Fall über, - andeutend, dass sich nun melodisch Bedeutsames ereignen wird: Es ist die Bereitschaft zum Gebet, die das lyrische Ich im letzten Vers zum Ausdruck bringt. Beethoven lässt ihn wiederholen, so wichtig ist er ihm. Die melodische Linie senkt sich nun langsam Sekunde um Sekunde ab. Sie tut das in ihrem deklamatorischen Grund-Gestus, dieser erhält aber nun noch stärkere Gewichtigkeit, als ihm ohnehin schon eigen ist, denn das Klavier vollzieht jeden deklamatorischen Schritt synchron mit Bass und Diskant übergreifenden vierstimmigen Akkorden mit, und es behält diese Art der akzentuierenden Begleitung der melodische Linie bis zum Ende des Liedes bei. Auf dem Wort „beten“ liegt eine lange, den Takt in Gestalt eines Sekundanstiegs überschreitende Dehnung. Den Worten „denn ich will“ wird bei der Wiederholung Nachdruck dadurch verliehen, dass sie auf einem repetierenden „G“ in mittlerer Lage deklamiert werden.


    Auch bei der Wiederholung der Worte „vor dir beten“ bleibt die melodische Linie nun bei der tiefe Demut zum Ausdruck bringenden Geste des Verharrens auf der tonalen Ebene, wobei die Tonrepetitionen nun aber deklamatorisch gedehnt sind. Erneut liegt auf dem Wort „beten“ eine die Taktgrenze überschreitende Dehnung. Dieses Mal aber ist es kein Sekundanstieg, sondern ein Fall, - das demütige Sich-in-Gottes-Hand-Geben des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend.
    Mit vier schlichten Akkorden im Diskant, die von E-Oktaven im Bass begleitet werden und in deren Abfolge sich eine Rückung von der Tonika E-Dur zur Dominante und wieder zurück ereignet, schließt das Lied.

  • Hier ist das Lied "Bitten" in einer - wie ich finde - beeindruckenden Interpretation zu hören:


    Wie oft hatte ich Peter Schreier im Konzertsaal über die Jahre erlebt, man kennt ja »alles«, denkt man, und ist dann doch während dieser 2:27 Minuten ganz tief beeindruckt, als hätte man es noch nie gehört ...


    Aber auch wenn nicht gesungen wird, ist man in diesem Thread gut aufgehoben; ganz hervorragend ist der »Adelaide«-Beitrag!

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