LISZT Franz: Zwei Episoden aus Lenaus Faust

  • Wenn ich es richtig gesehen habe, gibt es zu Liszts „Zwei Episoden aus Lenaus Faust“ noch keinen Thread (sollte ich mich irren, darf die Moderation gerne meinen Beitrag verschieben). Ich habe mir angelesen, dass die Keimzelle im ersten „Mephisto-Walzer“ zu sehen ist, der im Orchesterwerk als „Tanz in der Dorfschenke“ als zweite Episode erscheint. Aus Lenaus überlangem, aus vierundzwanzig Episoden bestehendem Gedicht, hat Liszt die elfte und die sechste Episode für seine Orchesterkomposition ausgewählt. Er widmete das Stück übrigens seinem Schüler Carl Tausig (1841–1871, gestorben an Typhus).


    Nikolaus Lenau war ein bedeutender, vielleicht sogar der bedeutendste österreichische Lyriker mit ungarischen Wurzeln. Kommt daher die Affinität des Komponisten zum Dichter? Ich weiß es nicht. Ich hörte das zweiteilige Stück in der untenstehenden Brilliant-Box, gespielt von den Sinfonikern aus Budapest unter Árpád Joó.


    Liszt setzt die elfte Episode „Der nächtliche Zug“ an den Beginn; musikalisch soll der nächtens mit dem Pferd durch den Wald reitenden Faust gargestellt werden. Ihm kommt ein mit feierlichen Klängen charakterisierter Pilgerzug entgegen, den er als Beobachter vorbeiziehen lässt. Ich habe vergeblich nach einem Faust-Motiv geforscht, habe es aus dem Orchesterklang nicht definieren können. Allenfalls käme da ein merkwürdig zerrissenes Motiv in Frage - weil Liszt in dem Gelehrten einen gequälten und zerrissenen Menschen sah? Wenn es aber so gedacht ist, blieb es mir nur kurz im Gedächtnis. Haften geblieben sind dagegen Holzbläserakkorde und auffällige Motive von Horn und Cello, die eine Art ‚Nocturne‘, nächtlichen Zauber nachzeichnend, musikalisch darstellen sollen.


    Danach ein Stimmungswechsel, hervorgerufen durch eine Art Klingelton (der den Gedanken an einen Mesner aufkommen lässt), und den langsam heranschreitenden Mönchen und Nonnen, denen weißgekleidete und blumengeschmückte Kinder vorangehen. Passenderweise höre ich hier keinen Marsch, sondern die Musik eines Kondukts. Es liegt ihm eine mir unbekannte gregorianische Melodie (für den Gründonnerstag oder auch Karfreitag bestimmt) auf den Text „Pange lingua gloriosi corporis mysterium“ des Thomas von Aquin (1225-1274) zugrunde. Aus dem Orchester dringt das Lob Gottes zunächst wuchtig ans Ohr, doch verhallt es dann leise. Dafür taucht noch einmal jenes zerrissene Motiv (weiter oben erwähnt und noch einmal hörend verglichen) ans Ohr - es könnte bedeuten, dass Liszt an den abseits stehenden Faust erinnern will. Aber er steht nicht nur beobachtend abseits, er steht, auf Lenau zurückkommend, auch abseits des Glaubens.


    Gegenüber dem „Nächtlichen Zug“ ist „Der Tanz in der Dorfschenke“ kürzer gefasst: Faust und Mephisto sind Teilnehmer einer feucht-fröhlichen Hochzeit mit Musik und Tanz und man hört eine rauschhafte und glänzend instrumentierte Tanzepisode. Mephisto übernimmt mit einer Geige die Führung und verbindet die Ausgelassenheit mit Spott auf die Bauernmusik mit Trillern und weiten Lagen-Sprüngen. Faust hat sich derweil eine „feurige Brünette“ gefasst und geht mit ihr im allgemeinen Liebesrasen verloren. Schließlich ist der Gesang der Nachtigall zu hören, der Faust begleitet, wenn er das Mädchen immer tiefer in den Wald führt. Den Interpreten hat Franz Liszt zwei Schlüsse zur Auswahl geführt: Der erste ist sehr effektvoll, der zweite beschreibt die erotische Leidenschaft. „Und brausend verschlingt sie das Wonnemeer“ schrieb der Komponist über diesen Schluss. Es sind die letzten Worte jener Szene aus der Dichtung Lenaus. Da ich keine Noten zur Verfügung hatte, kann ich nur dem Beschriebenen nach vermuten - und insofern gehe ich davon aus, dass Arpád Joó den „sehr effektvollen Schluss“ für seine Interpretation gewählt hat.
    :hello:

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    MUSIKWANDERER

  • Lieber musikwanderer, so einen Beitrag lese ich am Sonntagmorgen sehr gern. Ich mag die "Episoden" und finde sie bei Dir sehr gut dargestellt. Interessant ist, dass sie Liszt in seiner ersten Weimarer Zeit komponierte - und sich nicht auf Goethe sondern auf Lenau bezog, der damals - Du stellst seine Bedeutung zu Recht deutlich heraus - sehr viel gelesen wurde. Er ist auch heute noch lesenswert, zumal sein Faust-Gedicht. Das ist sehr sinnlich, gar deftig über weite Strecken, und ich kann mir gut vorstellen, wie inspiriert Liszt davon war. Denn eigentlich - ich wähle mal den betreffenden Passus aus Szene vor der Dorfschenke aus - strotzt es vor Musik.


    Mephistopheles zu den Spielleuten in der Schenke:


    "Ihr lieben Leutchen, euer Bogen
    Ist viel zu schläfrig noch gezogen!
    Nach eurem Walzer mag sich drehen
    Die sieche Lust auf lahmen Zehen,
    Doch Jugend nicht voll Blut und Brand.
    Reicht eine Geige mir zur Hand,
    's wird geben gleich ein andres Klingen,
    Und in der Schenk' ein andres Springen!


    Der Spielmann dem Jäger die Fiedel reicht,
    Der Jäger die Fiedel gewaltig streicht.
    Bald wogen und schwinden die scherzenden Töne
    Wie selig hinsterbendes Lustgestöhne,
    Wie süßes Geplauder, so heimlich und sicher,
    In schwülen Nächten verliebtes Gekicher.
    Bald wieder ein Steigen und Fallen und Schwellen;
    So schmiegen sich lüsterne Badeswellen
    Um blühende nackte Mädchengestalt.
    Jetzt gellend ein Schrei ins Gemurmel schallt:
    Das Mädchen erschrickt, sie ruft nach Hilfe,
    Der Bursche, der feurige, springt aus dem Schilfe.
    Da hassen sich, fassen sich mächtig die Klänge,
    Und kämpfen verschlungen im wirren Gedränge.
    Die badende Jungfrau, die lange gerungen,
    Wird endlich vom Mann zur Umarmung gezwungen.
    Dort fleht ein Buhle, das Weib hat Erbarmen,
    Man hört sie von seinen Küssen erwarmen.
    Jetzt klingen im Dreigriff die lustigen Saiten,
    Wie wenn um ein Mädel zwei Buben sich streiten;
    Der eine, besiegte, verstummt allmählich,
    Die liebenden beiden umklammern sich selig,
    Im Doppelgetön die verschmolzenen Stimmen
    Auf rasend die Leiter der Lust erklimmen.
    Und feuriger, brausender, stürmischer immer,
    Wie Männergejauchze, Jungferngewimmer,
    Erschallen der Geige verführende Weisen,
    Und alle verschlingt ein bacchantisches Kreisen.
    Wie närrisch die Geiger des Dorfs sich gebärden!
    Sie werfen ja sämtlich die Fiedel zur Erden.
    Der zauberergriffene Wirbel bewegt,
    Was irgend die Schenke Lebendiges hegt.
    Mit bleichem Neide die dröhnenden Mauern
    Daß sie nicht mittanzen können bedauern.
    Vor allen aber der selige Faust
    Mit seiner Brünette den Tanz hinbraust;
    Er drückt ihr die Händchen, er stammelt Schwüre,
    Und tanzt sie hinaus durch die offene Türe.
    Sie tanzen durch Flur und Gartengänge,
    Und hinterher jagen die Geigenklänge;
    Sie tanzen taumelnd hinaus zum Wald,
    Und leiser und leiser die Geige verhallt.
    Die schwindenden Töne durchsäuseln die Bäume,
    Wie lüsterne, schmeichelnde Liebesträume.
    Da hebt den flötenden Wonneschall
    Aus duftigen Büschen die Nachtigall,
    Die heißer die Lust der Trunkenen schwellt,
    Als wäre der Sänger vom Teufel bestellt.
    Da zieht sie nieder die Sehnsucht schwer,
    Und brausend verschlingt sie das Wonnemeer."

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Danke, lieber Rheingold1876, für Deine Antwort. Meine Beschreibung, so dürftig sie ist, hat mich manchen gedanklichen Schweiß gekostet. Einiges aus dem Lenau-Epos habe ich gelesen (nicht nur die sechste und elfte Episode), allerdings nach einer gewissen Zeit doch abgebrochen. Es war mir zu lang. Und ich kann mir selbst die Ungeduld dabei nicht erklären. Vielleicht ist es der Zug der Zeit (oder der meines Alters), der meint, alles was "zu" ist, ist schlecht: Zu viel, zu lang, zu kurz, zu weit, zu laut, zu leise, etc. Zu lang hieße hier: Die Konzentration lässt nach. Vielleicht lag es auch an Liszts Musik und dem Wunsch, Empfindungen oder Erklärungen für das Gehörte zu finden. Ich werde dem inneren Rätsel aber jetzt nicht weiter nachspüren, dafür ist noch etliches von Liszt zu hören.


    Was ich sagen/schreiben wollte, wird möglicherweise nicht so verstanden, deshalb ein kurzes Resümee: Die zwei Episoden aus Lenaus Faust sind bei mir als hörenswert angekommen!
    :hello:

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    MUSIKWANDERER

  • Die zwei Episoden aus Lenaus Faust sind bei mir als hörenswert angekommen!


    Es freut mich, Lieber Musikwanderer, dass Du diese (noch unbekannteren als die Sinf.Dichtungen) Liszt-Orchesterwerke aufgreifst, denn sowohl
    Der nächliche Zug - 1.Episode (Spieldauer mit Masur = 14:55) wie auch der
    Der Tanz in der Dorfschänke (Mephisto Walzer Nr.1) - 2. Episode (Spieldauer mit Masur = 10:57)
    sind wirklich gute Musik, die einfach in der Versenkung verschwinden würde, ;) wenn nicht zumindest wir diese mal wieder ausgraben und für alle Leser bekannt machen würden.


    Wenn ich mir überlege, was man auf Konzertplänen für Werke findet, dann muss man feststellen, dass diese Zwei Episoden aus Lenaus Faust allemal interessanteres Musikrepertoire wären, als so manche Langeweiler, die dort in der Regel als Standardrepertoire präsentiert werden ...


    Ich habe mich dann doch gewundert, dass beide Stücke öfter als von mir vermutet auf dem CD-Markt zu finden sind. Passenderweise auf CD-Aufnahmen mit der Faust-Sinfonie.
    Allerdings wird der Mephistowalzer Nr.1 sehr oft alleine gespielt (sowohl bei Haitink, wie auch bei Solti) und in findet sich auch allgemein öfter auf CD.



    Decca, ADD




    Philips, 1970-71, ADD



    *** Nur hier bei Masur findet sich die 2 Lenau-Episoden - Der nächliche Zug mit dem Dorfschänkentanz (Mephistowalzer Nr.1),
    aber auch der Mephistowalzer Nr.2 (1880/81).
    Diesen Mephistowalzer Nr.2 schrieb Liszt in Widmung für Camile Saint-Saens, dessen Danse Macabre Liszt als extravagante Klavierfassung transkribiert hatte.


    - ältere Ausgabe =
    EMI, 1977-80, ADD



    :!: Im EMI-Textheft ist folgende denkenswerte INFO angegeben:
    Das einzige bleibend Denkmal des armen Lenau scheint Liszts vorliegende Musik zu sein ... er starb mit 48 Jahren an einem psychischen Zusammenbruch ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Auch Herbert von Karajan hat leider nur den Mephisto-Walzer Nr. 1 eingespielt, und zwar im September 1971 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche:



    Die Zwei Episoden aus Lenaus Faust plus den Mephisto-Walzer Nr. 2 (der ziemlich im Schatten des ersten zu stehen scheint) findet man auch in der schon angesprochenen Gesamtaufnahme von Árpád Joó von 1984/85:



    Weitere Aufnahmen der Zwei Episoden aus Lenaus Faust legten Ernest Ansermet 1967, James Conlon 1983, Yutaka Sado 1999 und Ivan Volkov 2010 vor:




    Speziell der 2. Mephisto-Walzer wurde ansonsten so gut wie überhaupt nicht eingespielt. Über die Gründe könnte man jetzt spekulieren.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões