Über die Authentizität mittelalterlicher Melodien

  • Zugegebenermaßen ein etwas laienhafter und holpriger Titel.
    Angeregt durch ein Statement im "Originalen Carmina Burana Thread"

    aber das Meiste darf man eigentlich nicht als Rekonstruktion bezeichnen sondern müsste es als (durch hohe Fachkenntnis gestützte) Mutmaßung deklarieren


    habe ich mir die Frage gestellt, inwieweit das, was man uns heute als mittelalterliche Melodien verkauft auch nur annähernd so geklungen hat, oder anders ausgedrück: Ab welchem Zeitraum verwendete man Notenschriften die eine einigermaßen getreue Aufführung in unserer Zeit erlauben ?


    Hört man nämlich mittelalterliche Musik, dargeboten von verschiedenen (wissenschaftlich gestützten) Ensembles, dan fragt man sich gelegentlich ob es sich da eigentlich um das gleiche Werk handelt, manches klingt ziemlich schräg - im Gegensatz beispielsweise zu uralten Volksliedern.
    Vobei man sich natürlich hier die Frage stellen muß, was unter "uralt" zu verstehen ist, vieles wurde erst im 17. oder 18. Jahrhundert schriftlich festgehalten und galt damals schon als "alt". Das Jahrhundert der Quelle ist allerding zumeist unbekannt.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es ist kein Wunder, daß keine Resonanz auf dieses Thema kommt, denn das kommten eventuell Musikwissenschaftler beantworten - und das wahrscheinlich jeweils auf Konfrontationskurs mit der "anderen Schule"

    Mir wurde das wieder bewusst, seit ich die Threadserie

    Die Protagonisten der Alten Musik (O) ein etwas verspäteter Trailer

    wieder zu aktivieren begonnen habe.

    Da sind ganz alte. berühmte Ensembles dabei, deren Interpretationen teilweise als Referenz galten (und teilweise immer noch gelten (?) )

    sowie solche die heut vermutlich als überholt gelten (?)

    Dazu kommen Aufnahmen, die von unbekannten Ensembels gemacht wurdenm teilweise bei Billiglabels.

    Letzteres sagt allerdings nicht viel aus, denn auf Grund des (Achtung Euphemismus !!)eher durchwachsenen Interesses an Früher und alter Musik gibt es ein Überangebot - teilweise von erstklassigem Gruppierungen dieses Genres.

    Die Bewertung kann indes nur von Spzialisten erfolgen....

    Daher habe ich mich entschlossen, die Vorstellungen all dieser Ensemblesohne Rücksicht darauf vorzunehmen ob sie dem heutigen wissenschaftlichen Stand oder Zeitgeist entsprechen....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hört man nämlich mittelalterliche Musik, dargeboten von verschiedenen (wissenschaftlich gestützten) Ensembles, dan fragt man sich gelegentlich ob es sich da eigentlich um das gleiche Werk handelt, manches klingt ziemlich schräg - im Gegensatz beispielsweise zu uralten Volksliedern.

    Das einzige, das authentisch ist dabei, sind die Melodien. Deshalb ist der Threadtitel ziemlich verkehrt.

  • Das einzige, das authentisch ist dabei, sind die Melodien. Deshalb ist der Threadtitel ziemlich verkehrt.

    Hier stimme ich nicht mir Dir überein, denn ich habe gelegentlich Aufnahmen ein und desselben Stückes gehört, die kaum wiederzuerkennen waren.

    Aber als Moderator bist DU eigentlich in der Lage Threadtitel zu ändern. Wenn Du einen treffenderen weiss - Dann mache es....


    Lg

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Worauf kann man sich berufen, wenn es darum geht, wie es vor 800 Jahren geklungen haben könnte? Niemand wird diese Antwort zweifelsfrei geben können. Oder doch?


    Bischof Isidor von Sevilla bringt es im 7. Jahrhundert schlicht und ergreifend auf den Punkt


    „Wenn sie (die Melodien) nämlich nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, vergehen die Töne, weil sie sich nicht aufschreiben lassen.“


    In einer Handschrift aus dem 12. Jahrhundert (Kloster Melk) ist eine Notation von Kirchengesängen erhalten. Die sogenannten Neumen, die oberhalb des Textes notiert sind, geben Hinweise.

    Wikipedia weiss dazu: "Sie (die Neumen) stellten die Verbildlichung der Winkbewegungen des Chorleiters oder des Sängers (griechisch νεύμα neuma, deutsch ‚Wink‘) dar. So stand eine einzelne Neume für eine bestimmte melodische Floskel. In verschiedenen Ländern und Klöstern wurden allerdings unterschiedliche grafische Zeichen verwendet." Es besteht somit eine uneinheitliche Zeichensetzung, die Interpretationsraum zulässt. Da muss man wohl Musikwissenschaftler mit Sachverstand sein, um dies in Gesang umsetzen zu können.



    Neumen-Lambacher_Messe.jpg


    Die Überlieferung der Melodien ist somit eng mit der Notation verbunden, die uns schriftlich überliefert sind. Liest man sich in die Geschichte der Notensysteme ein, ist das eine erhellende und spannende Angelegenheit.


    https://de.wikipedia.org/wiki/Notation_(Musik)


    Dass die gleiche Melodie in den verschiedenen Interpretationen nicht wiederzuerkennen ist, wie du lieber Alfred Schmdt in Beitrag 4 schreibst, liegt in der Natur der Sache. Authentizität (Echtheit, Glaubwürdigkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Wahrheit, Zuverlässigkeit) gibt es nicht. Was wir heute von den Ensembles Alter Musik gespielt wird, kann nur eine Annäherung sein.


    Das Coverbild dieser Box mit gregorianischen Gesängen aus der Stiftsbibliothek in St. Gallen versinnbildlicht, dass vieles erforscht werden kann, manches nicht eindeutig ist und unbeantwortet bleiben muss.



    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Lieber kurzstueckmeister


    Auch über den Minnegesang des 13./14. Jahrhunderts wird die Aussage eine ähnliche sein. Es lässt sich wenig Verifiziertes darüber sagen, wie es geklungen haben könnte. Überlieferte Illustrationen geben vage Hinweise zum Instrumentarium. Die Notationen sind auch nicht eindeutig zu lesen und lassen viel Raum für Interpretation.


    LG moderato

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ab welchem Zeitraum verwendete man Notenschriften die eine einigermaßen getreue Aufführung in unserer Zeit erlauben ?

    Ich denke, dass das bei geistlicher Musik eher funktioniert als bei weltlicher, bei der man davon ausgeht, dass auch Instrumente verwendet wurden, die aber nicht notiert waren. Außerdem geht es bei mehrstimmiger Musik besser, einfach, weil der Fokus auf die Mehrstimmigkeit gerichtet ist, die - im Gegensatz zur Instrumentation - eben notiert ist.

    Das sind aber Fragen, die mit den Melodien nicht so viel zu tun haben.


    Was bei heutiger Aufführungspraxis auffällt, ist ein überbordender Gestaltungswille, der sich in "Intro", Zwischenspielen, "fetzigen" Schlagzeugbegleitungen austobt, alles gerne aus geographischen Räumen inspiriert (Arabien?), die gar nicht mit den Quellen (Italien, Deutschland, Frankreich) übereinstimmen. Ich denke, dass einigermaßen getreue Aufführungen von Minnesang nicht möglich sind.


    Bei geistlicher Mehrstimmigkeit ab ca. 1200 ist durch die Fixierung von Tonhöhen, Rhythmen und Zusammenklang wohl genug des Wesentlichen da, dass man sich nicht so zu sorgen braucht. Die Mehrstimmigkeit ab dem 14. Jahrhunderts in der weltlichen Musik lässt abgesehen vom Instrumenteneinsatz auch nicht so viel zu wünschen übrig, was die Fixierung betrifft - obwohl natürlich schon diverse Mehrdeutigkeiten bestehen - in der Trecentomusik rhythmischer Natur, generell bezüglich der "Leittöne", was schon große Unterschiede ausmachen kann.


    Der nächste Punkt ist dann der Basso continuo, der ab Vorstufen im 16. Jahrhundert bis zur Frage der Praxis bei Haydn sich einer genauen Notation entzieht.


    Sollte es aber wirklich um die Melodien selbst gehen, dann kann man wieder viele Jahrhunderte zurückgehen. Dabei sind aber von vielen Minnesängern überhaupt nur die Texte überliefert. Und der nächste Punkt ist, dass im Mittelalter in der Regel die Quellen deutlich jünger sind als die Werke und sich die Überlieferungen derselben Stücke deutlich unterscheiden können, was damit zu tun haben kann, dass man eine veränderte Notationspraxis hatte, aber auch, dass das Stück in der praktischen Ausführung sich verändert hat.


    Also einigermaßen genau im engeren Sinn ab Beethoven, würde ich sagen, der notiert wirklich präzise.

    ;)

  • Auch über den Minnegesang des 13./14. Jahrhunderts wird die Aussage eine ähnliche sein. Es lässt sich wenig Verifiziertes darüber sagen, wie es geklungen haben könnte. Überlieferte Illustrationen geben vage Hinweise zum Instrumentarium. Die Notationen sind auch nicht eindeutig zu lesen und lassen viel Raum für Interpretation.

    Ich war ja etwas spitzfindig - denn gerade die Melodien sind ja in der einstimmigen Musik früher Epochen (Antike bis Minnesang) quasi das einzige, das überliefert ist, das Problem besteht vor allem im "Rest", der doch viel ausmacht in Hinblick darauf, wie es geklungen hat (eben die Instrumentation auch). Deshalb habe ich den Threadtitel kritisiert, der genau das Gegenteil suggeriert.


    Ich höre praktisch nur mehrstimmige Musik. Am ehesten habe ich das Gefühl, mich in "Gregorianik" einhören zu sollen, das Übrige ist mir zu spekulativ, um daran Freude zu haben.


    Von Oswald von Wolkenstein gibt es 3-stimmige Sätze, die ich gerne höre.

  • Hört man nämlich mittelalterliche Musik, dargeboten von verschiedenen (wissenschaftlich gestützten) Ensembles, dan fragt man sich gelegentlich ob es sich da eigentlich um das gleiche Werk handelt, manches klingt ziemlich schräg - im Gegensatz beispielsweise zu uralten Volksliedern.
    Vobei man sich natürlich hier die Frage stellen muß, was unter "uralt" zu verstehen ist, vieles wurde erst im 17. oder 18. Jahrhundert schriftlich festgehalten und galt damals schon als "alt". Das Jahrhundert der Quelle ist allerding zumeist unbekannt.

    Nur als Anmerkung: Die "Quelle" ist in dem Fall aus dem 17./18. Jahrhundert, also der Text, in dem überliefert wird. Unbekannt ist das Jahrhundert, aus dem das überlieferte Stück stammt.


    Es gibt allerdings ethnographische Untersuchungen von Volksmusikrepertoires (außerhalb Europas), bei denen festgestellt wurde, dass wenige Jahrzehnte nach der ersten Untersuchung nur mehr wenige Stücke übrig waren, stattdessen viele neue üblich waren. Vielleicht ist "uralt" auch nur eine Zeitspanne von 50 Jahren - so wie heute die Musik der Beatles "uralt" ist.

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