Liebe Forianer,
in der Regel wird sich in diesem Forum ja eher bewundernd bis lobend oder doch wenigstens mit dem gebotenem Respekt über die Tastengroßmeister geäußert.
Ich würde zur Abwechslung aber liebend gerne einen Blick auf die deutlich stumpfere Rückseite der Medaille werfen wollen. Kennt ihr das auch: Einst wurde man von der phänomenalen Chopin-Platte des Interpreten XY infiziert. Von da an pilgerte man in jedes seiner Konzerte, getrieben von der Sehnsucht, auch in Natura vollends überwältigt zu werden. Doch: Sensationen blieben aus, der Mann hielt einfach nicht, was er versprach oder besser - was man sich von ihm versprochen hat.
So ging's mir bislang z.B. mit Maurizio Pollini, den ich nun schon 4 x solo & 1 x mit den Berliner Philharmonikern erlebt habe. Beim anschließenden Blick in die Presse konnte man jedes Mal den Eindruck gewinnen, Pollini habe gezaubert und alle hätten's bemerkt - nur eben nicht ich...
Dann gibt's die hoffnungsvollen Frühstarter, die aggressiv gepuscht werden,
um möglichst schnell möglichst viel Geld aus ihnen herauszupressen. Ihr "künstlerischer" Wert wird natürlich maßlos übertrieben dargestellt - die Ärmsten werden ständig an Maßstäben gemessen, denen sie niemals standhalten können. Ein Beispiel, das mir dazu ad hoc einfällt, ist der Grieche Dmitri Sgouros (korrekt?), der vor ca. 15 Jahren selbst vom Spiegel geradezu hysterisch als der Messias des Klavierspiels gefeiert wurde - Übrig geblieben ist von Sgouros freilich nichts. (von ein paar Wiederveröffenlichungen im Zwei-Euro-Preissegment mal abgesehen...)
Dann gibt es diese schlampigen Genies, die mal zaubern und mal provozieren, die wechselweise beglücken und enttäuschen. Mal möchte man sie anbeten, mal möchte man sie ohrfeigen. Einer, dessen Kunst diese Heißkaltbäder in mir auszulösen verstand, war der Klavierkauz Shura Cherkassky (um den es seit seinem Ableben vor rund 10 Jahren erschütternd still geworden ist). Ich habe Cherkassky anlässlich seines "80th Birthday Concert" in der Londoner Royal Festival zum ersten Mal gehört (reiner Zufall, ich wollte einfach in IRGENDEIN Konzert und geriet unversehens in DEN KLAVIERABEND MEINES LEBENS!) Ich habe seitdem niemals mehr ein so gesangliches Klavierspiel gehört. Jeder Ton hatte eine prächtige, sehr materielle Konsistenz und klang gleichzeitig so, als habe man ihn mildernd in eine Lage Samt geschlagen. Der Live-Eindruck von Cherkassky war unübertrefflich: Dieses Männlein mit dem viel zu großen Kopf und den für Pianisten untypisch kleinen Händen reichte mit den Füßen gerade mal so eben an die Pedale (das war weiter nicht schlimm, denn er spielte Kraftstellen eh im Stehen...). Er liebte anachronistische und bunt zusammengewürfelte Programme im Salonlöwen-Stil: Das Londoner Konzert dauerte wohl an die 3 Stunden und umfasste unter anderm, wenn ich mich recht erinnere, neben der Bach/Busoni-Chaconne auch Schumanns "Carnaval" und die "Trois Mouvements de Pétrouchka" von Strawinsky. Als (eine der vier, fünf oder sogar sechs) Zugaben gab er Morton Goulds "Boogie-Woogie-Etude"... Nein, ein großzügigeres und freigeistigeres Konzert habe ich wirklich nicht erlebt!
Seine Platten (sofern es keine Live-Mitschnitte sind) machen dagegen teilweise einen regelrecht peinlichen Eindruck - so als ob ein ganz anderer spielen würde: Es hagelt falsche Töne wie nichts Gutes und Schrulligkeiten lauern hinter jedem Taktstrich. Es ist mir aufgrund dieser "Tondokumente" bislang niemals gelungen, jemanden zum Cherkassky-Groopie zu machen - und je länger meine eigenen Eindrücke zurückliegen, desto häufiger frage ich mich, ob ich ihn nicht ganz einfach hemmungslos idealisiert habe...
Ein paar Fragen zum Thema "enttäuschte Erwartungen" an Euch:
Wurdet ihr je von einem Eurer "Lieblinge" enttäusch?
Oder hattet ihr einfach überzogene Erwartungen, die nur enttäuscht werden können?
Habt ihr schon mal eine Scheiben von einem Künstlern eures Vertrauens "blind" erworben, um zuhause festzustellen, dass es ein Fehlkauf war?
Und, anders herum: Hat Euch ein Pianist, von dem ihr vorher nichts gehalten habt, durch eine einzige Platte oder ein sensationelles Konzert über Nacht zum Fan gemacht?
Welche Pianisten sind live viel besser, als im Studio, bzw. umgekehrt?
Welches war der enttäuschendste (bzw. überraschendste) Klavierabend eures Lebens?
Herzliche Grüße
Daniel