Michael Gielen - Charismatiker oder Mauerblümchen?

  • Liebe Forianer,


    Der Titel ist einerseit arg übertrieben - andererseits kam er mir unwillkürlich in den Sinn, als der Name Michael Gielen im Thread über Chefdirigernten der Berliner Philharmoniker erwähnt wurde. Dieser Dirigent ist für mich ein interessanter Fall: Einerseits ist mir sein Name sehr geläufig, wenn er mal erwähnt wurde, dann war das, so ich mich richtig erinnere, durchwegs positiv bis euphorisch. Von den Covers, die ich kenne sieht mir zumeist ein sympathischer Intellektueller in fortgeschrittenem Alter entgegen, wo ich Lust habe, zu hören wie seine Sichtweise auf das Werk ist.






    Dennoch - Bis heute habe ich noch keine einzige CD von ihm in meiner Sammlung - ein Zustand der geändert werden soll.
    Ein bekannter Unbekannter, wenn ich so sagen darf, soeben lese ich, daß er 1927 in Dresden geboren wurde, und daß er Österreicher ist. Er komponiert auch, wobei mich eigentlich lediglich der Dirigent interessiert.
    Die mir zur Verfügung stehende Fachliteratur liefert widersprüchliche Aussagen über diesen Dirigenten: Von kühl bis hitzig ist da die Rede, vom Idealfall für die Moderne (so hab ihn ich bisher gesehen) bis hin zum Mozart-Spezialisten.


    Was ist Eure Meinung über diesen Dirigenten ?


    LG


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    die Erinnerungen von Michael Gielen sind unter dem o. g. Titel 2005 im Insel Verlag erschienen. Das Buch lag auf meinem Weihnachtsgabentisch - als einem Gielen-Fan. Der Titel befremdet mich ein wenig, klingt ein bißchen nach Verlagspromotion.


    Gielen schreibt ziemlich direkt zur Sache, d. h., ohne allzu viel Rücksicht auf sich selbst und auch den einen oder anderen, der seinen Weg kreuzte. Ich habe allerdings noch nicht viel daraus gelesen.


    Im Konzert habe ich ihn erst einmal gehört mit Schuberts Neunter, sie gehört indessen in meinen Ohren nicht unbedingt zu seinen stärksten Stücken.


    Bei Bruckner und Mahler schätze ich ihn sehr, wobei die oft gelobte 8. Mahler live aus der Frankfurter Alten Oper wiederum nicht zum Besten in Sachen Mahler von ihm gehört; mag aber auch mit der schlechten Aufnahmequalität zusammenhängen.


    Von anderen Komponisten fällt mir auf Anhieb eine sehr schöne 6. Beethoven ein - und Vorspiel und Liebestod aus dem Tristan. Ganz stark. Die 3. Beethoven mit dem Cincinnati SO war seinerzeit eine Sensation, das hat sich heute etwas relativiert.


    Aber ich werde mir jetzt mal wieder - auch durch das Buch angeregt - einiges von ihm anhören.


    Viele Grüße aus Bonn

  • Das Buch kenne ich leider noch nicht, dafür aber recht viel seiner Aufnahmen aus den letzten knapp 20 Jahren. Gielen gehört m.E. ziemlich klar in die Traditionslinie Scherchen, Leibowitz, Rosbaud u.a.: Einerseits großer Einsatz für zeitgenössischer Musik bzw. Schlüsselwerke des 20. Jhds., andererseits hervorragende Interpreten (in sowohl geradlinig-moderner als auch intensiver Weise) der deutsch-östereichischen Traditionsrepertoires.
    Gielen hat IIRC bei Steuermann studiert, also sehr nahe an Schönberg dran.


    Die Live-Mahler 8 aus Frankfurt sollte man in der Tat lieber nicht kaufen, was aber wohl hauptsächlich an den Aufnahmebedingungen liegt. Es gibt inzwischen eine Neuaufnahme mit dem SWF-Orchester (IIRC ebenfalls live, aber diese Reihe ist klanglich hervorragend).


    Vorbehaltlos empfehlen würde ich die bei Hänssler erschienenen Mahler- und Bruckner-Aufnahmen, teils vorher schon auf Intercord u. EMI erschienen. Ich kenne noch nicht alle, aber die Mehrzahl und einige schon seit Jahren. Der Mahler ist in mancher Hinsicht eher gemäßigt, daher vielleicht "kühl" zu nennen, aber vorbildlich klar, transparent, dabei expressiv und mit Sinn fürs Ganze, nicht für den Showeffekt. Der Beethovenzyklus bei EMI ist in etwa Leibowitz mit Wiederholungen :D Teils sehr schnelle Tempi, dabei aber ein voller großer und warmer Orchesterklang (u.a. geteilte Violinen, wie fast immer bei Gielen)
    "Mozartspezialist" scheint etwas übertrieben; ich habe je zwei Mozart- (33,39) und Haydn-Sinfonien (99,104). Die finde ich alle sehr gut. Besonders die #39 dürfte indes nicht jedermanns Sache sein, ähnlich wie Harnoncourt nimmt Gielen den Kopfsatz als teils militärisch auftrumpfende Proto-Eroica. Ich habe noch etliche andere Sachen von allen möglichen Komponisten, da handelt es sich aber oft um Musik, die ich nicht gut kenne (Janacek Glagolitische Messe, Schönbergs Pelleas, Carter, Zemlinsky usw.)
    Zwischendurch waren eine paar CDs bei ArteNova erschienen, u.a. Mozarts #39 und Schuberts Rosamunde-Auszüge, da könnte man preiswert reinhören (versch. Cover/Kopplungen). Eine m.E. sehr schöne CD (wobei mir wieder der Vergleich fehlt) ist Zemlinskys Lyrische Sinfonie (+Berg), auch bei ArteNova. Leider scheint momentan sehr viel vergriffen; allerdings hat Hänssler sogar eine Brahms 1., vielleicht kommt der Beethoven nach




    viele Grüße


    JR

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    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    Michael Gielen schätze ich am meisten als Dirigent der Werke von Zemlinsky, Schönberg ...


    Die Empfehlung von Johannes hinsichtlich der Einspielung der Lyrischen Sinfonie Zemlinskys kann ich nur unterstreichen. Gielen gelingt es m.E., das Werk dramatisch nach außen, aber dennoch in sich ruhend darzustellen.


    Die Vereinbarkeit solcher Gegensätze sind für mich stets Anzeichen von hoher Qualität; Gielen zeigt dies auch bei Schönberg; bei den Aufnahmen älterer Komponisten bin ich bisher nicht an Gielen hängengeblieben.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo Alfred,


    Als das Label WERGO in den sechziger Jahren die Studienreihe neuer
    Musik auf den Markt warf, war Michael Gielen, als Spezialist für avantgardistische Musik gehandelt, schon dabei.


    Ich habe nun das außerordentliche Glück unter meinen Schätzen
    das Werk: Heterophonie, entstanden 1959/1961, von Mauricio Kagel
    zu besitzen. Michael Gielen leitet hier das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks.


    Später, als er in Cincinatti war, hat er unter dem Label CBS einiges
    eingespielt, sich aber sich nicht unbedingt auf die Moderne beschränkt.


    :)


    Kurzer Tabellarischer Lebenslauf:


    1927 in Dresden geboren


    1940 Die Familie wandert nach Argentinien aus.
    Michael studiert an der Universität von Buenos Aires


    1950 Korrepetitor und Dirigent an der Wiener Staatsoper


    1960 Leiter der Königlichen Oper in Stockholm


    1968 Chefdirigent beim Belgischen National-Orchester


    1977 Zehn Jahre lang Direktor der Frankfurter Oper und GMD


    1978 Principal Guest Conductor beim BBC SO London


    1980 Musikdirektor des Cincinatti Symphony Orchester


    1986 Chefdirigent des SWR Baden-Baden


    Als Gastdirigent dirigierte der Deutsch-Argentinier fast alle großen Orchester der Welt.


    :angel:

  • Gielen ist einer jener Analytiker, die wirklich so kühl sind, wie man es Boulez fälschlich unterstellt. Gielen macht Partituren transparent, zweigt, wie sie aufgebaut sind, einen emotionalen Gehalt legt er indessen nicht frei.


    Die Mahler-Einspielungen sind dann interessant, wenn man Mahler sozusagen "nackt" erleben will, was in der Partitur steht, wird minutiös realisiert.


    Modellcharakter besitzt Gielens Einspielung von Schönbergs "Moses und Aron", da ist sogar Emotion dabei. Kein Wunder: Der "Moses" gehörte damals noch nicht zu den modernen Klassikern, man merkt den Kampf ums Werk - das tut der Aufnahme gut.


    Was Bruckner anlangt, muss ich passen: Ich habe in Wien die Vierte (Erstfassung) und die Achte unter Gielen gehört - und in beiden Fällen war das nur brutale Klangerzeugung, bei der Achten ging auch im Zusammenspiel ziemlich viel daneben. Bei den Einspielungen kann man ja nachbessern, aber der Live-Eindruck war IMO katastrophal.

    ...

  • So vor ungefähr 25 Jahren gab es eine Zeit, wo Michael Gielen verhindert hat, mich enttäuscht ganz von der klassischen Musik abzuwenden. Das war, als er in Frankfurt wirkte. Karajan dominierte damals nicht nur das Musikleben, sondern es schien, dass er einfach am konsequentesten alles das auslebte, wovon im Grunde auch alle anderen träumten, wenn es ihnen nur möglich gewesen wäre, es ihm gleich zu tun. Wo war eine Nachfolge von Scherchen, Leibowitz, Rosbaud u.a., die bereits Johannes genannt hat? Michael Gielen stand auf völlig einsamen Posten. Die wenigen anderen Ausnahmen wie Wand oder Celibidache waren damals auf ähnliche Weise isoliert.


    Und doch teile ich sachlich durchaus die „gemischten Gefühle“ von Edwin. Was Bruckner betrifft, ist für mich seine 4. Sinfonie jedoch eine positive Ausnahme. Hier gelingt ihm die für mich gültige Einspielung der frühen Version. Ein anderes positives Beispiel sind seine Konzerte mit Mahlers 2. vor einigen Jahren.


    Gielens Trockenheit und fehlende Emotionalität sind für mich ein Zeitzeugnis und zeigen die extrem bedrängte Position, in die die von ihm vertretene Musikauffassung geraten war.


    Viele Grüße.


    Walter

  • Zitat

    Michael Gielen stand auf völlig einsamen Posten.


    Das glaube ich nicht so ganz: Zwei nennst Du selbst, weitere sind Pierre Boulez, Ernest Bour, Maurice Abravanel, David Atherton, Leif Segerstam etc. etc. Man wird schon etliche finden. Die Isolation war eine durchaus selbst gewählte und durchaus begrüßenswerte Position in Opposition zum großen Absahnen à la Karajan.
    Gielen ist nur derjenige von diesen Isolierten, der (wie Wand) eine erstaunliche Alterskarriere in Hinblick auf Wahrnehmung durch die interessierte Öffentlichkeit macht (trifft auch auf Boulez zu - ich kann mich erinnern, als er in Wien seinen "Marteu" dirigierte, muss in den 80er Jahren gewesen sein: Der kleine Saal des Konzerthauses war halb leer!)


    Unbestritten ist für mich, dass Gielen zu jenen gehört, die einen neuen Blick auf ein Werk, aber auch auf eine Zeit eröffnet haben. Ich kann mich gut einnern, wie ich mir als Geburtstagsgeschenk wünschte, nach Frankfurt zu fahren, um dort Schrekers "Gezeichnete" zu erleben. Regisseur war ein gewisser Hans Neuenfels.
    Ob Gielen als Dirigent wirklich bedeutend ist? - Ich bin mir nicht sicher. Aber er ist mit Sicherheit einer der großen Denkanstoß-Geber, ohne den die Neue Musik um vieles ärmer wäre.

    ...

  • Zitat

    Ob Gielen als Dirigent wirklich bedeutend ist? - Ich bin mir nicht sicher. Aber er ist mit Sicherheit einer der großen Denkanstoß-Geber, ohne den die Neue Musik um vieles ärmer wäre.


    Ja, so ist es. Gielen gehört zu der Garde von Dirigenten, denen ihre Affinität zur Neuen Musik auch einen neuen Blick auf das Traditionsrepertoire ermöglicht hat, und das hat der Musik unheimlich gut getan und sie womöglich am Leben erhalten.

  • Ich kann den Vorwurf der "Kühle" nur sehr bedingt nachvollziehen. Gewiß, bei Mahler mag Gielen kühl gegenüber Bernstein wirken, aber das gilt auch für Abbado, Boulez oder Nagano. Ich habe Gielen live nie gehört, aber die Aufnahmen wirken auf mich zum großen Teil nicht emotionslos. Sein Beethoven ist nicht "kühler" als Wand, Gardiner oder Leibowitz.
    Die SWF-Aufnahmen wurden teils auch live mitgeschnittenund hier kann ich (was nicht viel heißen will) keine derben Ungenauigkeiten im Orchester hören, auch ClassicsTodays Hurwitz, der bei solchen Dingen ziemlich pingelig ist, lobt etwa den Mahler-Zyklus in höchsten Tönen. Mit den Bruckner-Aufnahmen bin ich nur teilweise vertraut und beanspruche auch keinerlei Expertentum bei diesem Komponisten, aber dei 7. ist eine der wenigen die (wie einst Rosbaud) flüssige tempi in den ersten beiden Sätzen nehmen und das Finale der 5. habe ich als außerordentlich klar und auch wuchtig in Erinnerung (das sind beides Studioaufnahmen aus den 80ern)
    Seine Zeit in Frankfurt habe ich noch nicht mitgekriegt, aber seinerzeit war das dortige Opernhaus an bundesweiter Wirksamkeit, ungewöhnlichem Repertoire und Innovation wohl einzigartig. Was wirklich bedeutend ist weiß ich nicht, ich wage aber mal zu behaupten, dass wenn Abbado und Sawallisch bedeutende Dirigenten sind, es Gielen allemal ist, egal welche Posten und welche Berühmtheit wer erlangt haben mag. Dass einer von denen ein Toscanini oder Klemperer sei, wurde wohl auch nicht behauptet.


    viele Grüße


    JR

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  • Bislang habe ich mich nur wenig oder nur am Rande mit den Interpretationen und der Person Michael Gielens - das wird sich nun wohl ändern - auseinandergesetzt.


    Beschrieben wird er in diesem Thread als jemand, der einen "intellektuellen Zugang" zu einem Werk suche, der "vorbildlich klar", "transparent" "analytisch" musiziere, der einen "Sinn fürs Ganze" habe und an Schönberg interessiert sei.


    Ich lese dies und stelle auffallend viele Gemeinsamkeiten mit dem kanadischen Pianisten Glenn Gould, wobei ich dessen Absage an den Konzertsaal und gewisse Schrullen außen vor lasse, fest.


    Wird dieser Eindruck geteilt? Liege ich völlig falsch?

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Gielen ist einer jener Analytiker, die wirklich so kühl sind, wie man es Boulez fälschlich unterstellt.


    Hallo Edwin,


    eine interessante Aussage. Ich sehe es exakt anders herum... ;)


    Zitat

    Gielen macht Partituren transparent, zweigt, wie sie aufgebaut sind, einen emotionalen Gehalt legt er indessen nicht frei.


    Die Mahler-Einspielungen sind dann interessant, wenn man Mahler sozusagen "nackt" erleben will, was in der Partitur steht, wird minutiös realisiert.


    Dazu zitiere ich Gielen selbst und zwar aus dem Beiheft zu Mahlers 2. Sinfonie:


    "Jetzt, mit dem SWR-Orchester, nach dieser langen Arbeit: wir haben ausgiebig probiert, das Stück zweimal gespielt, dann haben wir es aufgenommen, danach kamen drei weitere Konzerte - was ja ein glücklicher Rhythmus ist, dass das Ganze sich so organisch entwickeln kann; jetzt waren wir beim fünften Konzert schon alle ganz traurig, daß es nicht weitergehen wird. Und am Schluß hatten nicht nur im Publikum viele Leute Tränen in den Augen, wir auch. Alle waren wir hingerissen von der Tiefe der sehr einfachen, gegen Schluß immer noch einfacher werdenden Musik."


    Kann "nüchterne Analyse" zu Tränen rühren?


    Weiter von Gielen:


    "Wichtig für die Interpretation ist die Organik: dass alles selbstverständlich erscheint, nichts forciert ist, nichts als ein Effekt gedacht ist, nie die Orchesterfarbe ihr Eigenleben führt, sondern alles integriert ist in den großen Zusammenhang des Werks. Wenigstens ist es das, was ich vorhatte; was ich meine, dass man verfolgen muß.


    Bei einem Stück, das die Kapellmeister verlockt zu zeigen, was sie alles für Stückerln spielen können, weil es sehr viele Effekte bietet, ist das Vermeiden auch nur des Gedankens an Effekt entscheidend - wenn man an Effekt denkt, ist es schon falsch. Man darf nur an Inhalte denken. Und in diesem Sinne ist die Wahl der Mittel bei Mahler sehr meisterhaft. Es gibt ja im ersten Satz schon Eruptionen, sehr laute Stellen, große Fortissimi, das sind aber ganz andere Fortissimi als die, die als Katastrophe dann eintreten."


    Gielen läßt die Musik "für sich selbst" sprechen. Er ist also im besten Sinne Kapellmeister.
    Und gerade, weil er die Musik für sich selbst sprechen läßt, erscheint sie stellenweise großartiger als wenn ein Dirigent mit dem erhobenen Zeigefinger herkommt und sagt: "Schau mal, so hat er es gemeint".


    Exemplarisch für diese Sichtweise sind für mich ibs. Mahlers 2. und Bruckners 5, die, sofern überhaupt eine gültige Aussage zu treffen ist, wohl meine Lieblins-CD in meiner Sammlung darstellt. Keine andere mir bekannte Aufnahme deckt die Akzente für die Blechbläser ("Keil-Akzente", siehe Eugen Jochum: "Zur Interpretation der Symphonien Anton Bruckners") so akribisch auf wie es Gielen vermag.


    Alleine schon wegen dieser Akribie in der Offenlegung der Partitur ist für mich Gielen sehr wohl ein bedeutender Dirigent.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • m.E. liegst du eher falsch.
    Gielens Interpretationen sind überhaupt nicht idiosynkratisch, sondern eigentlich ziemlich "normal", eher nüchtern. Extrem könnte höchstens der Beethoven wirken, nach Scherchen und Leibowitz eigentlich auch gar nicht mehr. An "Schönberg interessiert" trifft es auch nicht; wie (IIRC) Scherchen und Leibowitz kommt er sozusagen aus dem unmittelbaren Dunstkreis dieses Komponisten, studierte wie gesagt bei Steuermann, hat selbst komponiert und früher hauptsächlich zeitgenössische oder jedenfalls ziemlich neue Musik für Wergo u.ä. Labels eingespielt.
    Am ehesten vergleichen könnte man ihn wohl mit Leibowitz, seinen Vorgängern beim SWF Rosbaud und Bour, oder eben Scherchen in seinen weniger wilden Momenten.

    viele Grüße


    JR

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  • Hallo Norbert,
    dann muss ich einmal Tacheles reden: Ich hatte auch schon Tränen in den Augen bei Gielen, und zwar Tränen des Lachens.
    Und zwar in Wien, als er Bruckners Achte exekutierte. Ich weiß nicht mehr, welches Orchester es war, ich glaube, es waren die Wiener Symphoniker. Gielen ließ sie Bruckner aufsagen, und das in einer Lautstärke, die jeder Beschreibung spottet. Das Blech brüllte wie eine Herde Stiere in Todesangst, dazu pfiffen die Holzbläser wahrlich auf dem letzten Loch, und die Streicher gaben ihr Äußerstes jenseits aller Tonschönheit, um in diesem Hexenkessel mitzuhalten.
    Dazu ging's drunter und drüber, als habe der Dirigent die Devise ausgegeben, es sei nur wichtig, auf 1 zusammen zu sein, was innerhalb des Taktes passiert, sei Nebensache. Für mich war es die groteskeste Bruckner-Aufführung, die ich je erlebt habe.
    Nachher sprach ich mit einem der Geiger - und der sagte etwas, was ich zuerst nich glauben konnte, was mir dann aber verschiedentlich als Gerücht wieder unter die Ohren kam: Dass Gielen einfach schlecht hört und nicht in der Lage ist, Lautstärken in den exakten Relationen wahrzunehmen bzw. das Orchester auszubalancieren.
    Die Bestätigung kam in einem Interview. Gielen im Originaltext: "Was sich im Alter allmählich einstellt, ist der Verlust der Höhenschwingung. Ob ein Triangel zu laut oder zu leise erklingt, höre ich nicht mehr, da muss ich schon hinschauen. Manchmal passe ich einfach nicht auf: Wenn man sich auf eine Ecke konzentriert, hört man andere Sektionen nicht. Es ist auch richtig, dass ich mich heute nicht mehr darum kümmere, ob irgendwo in einer Schönberg-Partitur eine falsche Note steht."
    Mir persönlich ist die Triangel-Lautstärke gleichgültig. Ich meine nur, wenn das Richtungsgehör nachlässt und man offen zugeben muss, dass man ein Orchester nicht mehr ausbalancieren kann, dann wäre in meinen Augen der Moment gekommen, mit dem Dirigieren aufzuhören und vielleicht wieder etwas mehr zu komponieren. Denn dafür braucht's das innere Ohr, das sicherlich noch funktioniert.

    ...

  • Hallo Edwin,


    zugegeben, ich habe Gielen leider nicht live erlebt, ich habe auch noch keine medizinischen Abhandlungen über den Zustand seines Gehörs gelesen; mein Maßstab ist einzig und alleine "die Konserve", so wie bei fast allen anderen Dirigenten auch.


    Zum Zeitpunkt der Aufnahmen schien er mir noch sehr gut hören zu können; wenn sich dieser Zustand inzwischen geändert haben sollte, dann täte es mir zwar leid, würde aber an meiner Sichtweise des Dirigenten Gielen nichts ändern.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Norbert,
    ich will Deine Sicht auf Gielen gar nicht ändern. Ich selbst habe ein paar sehr schöne Aufnahmen unter ihm (vor allem zeitgenössische Musik), und mir ist eine spannende Neunte Beethoven in Wien in Erinnerung, bei der er vor dem vierten Satz Schönbergs "Überlebenden aus Warschau" platzierte und damit den ganzen Freudenhymnus relativierte. Er ist sicherlich einer jener denkenden Musiker, von denen es ohnedies viel zu wenige gibt. Nur, wie gesagt, ich bin halt seit jener Achten Bruckner ein gebranntes Kind.
    Ich verspreche aber, dass ich in seinen Bruckner hineinhören werde, vielleicht sind die Aufnahmen wirklich anders als die Live-Aufführungen.
    Die Mahler-Aufnahmen habe ich komplett, da gibt es viele faszinierende Momente. Als Ganzes überzeugen mich allerdings nur die Siebente, die Neunte und die Zehnte in der nachträglichen Einspielung in der Cooke-Version. Aber, wie gesagt: Der Bruckner liegt noch vor mir, und ich bin jetzt sozusagen erst recht gespannt.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Norbert,
    ich will Deine Sicht auf Gielen gar nicht ändern. Ich selbst habe ein paar sehr schöne Aufnahmen unter ihm (vor allem zeitgenössische Musik), und mir ist eine spannende Neunte Beethoven in Wien in Erinnerung, bei der er vor dem vierten Satz Schönbergs "Überlebenden aus Warschau" platzierte und damit den ganzen Freudenhymnus relativierte. Er ist sicherlich einer jener denkenden Musiker, von denen es ohnedies viel zu wenige gibt. Nur, wie gesagt, ich bin halt seit jener Achten Bruckner ein gebranntes Kind.
    Ich verspreche aber, dass ich in seinen Bruckner hineinhören werde, vielleicht sind die Aufnahmen wirklich anders als die Live-Aufführungen.
    Die Mahler-Aufnahmen habe ich komplett, da gibt es viele faszinierende Momente. Als Ganzes überzeugen mich allerdings nur die Siebente, die Neunte und die Zehnte in der nachträglichen Einspielung in der Cooke-Version. Aber, wie gesagt: Der Bruckner liegt noch vor mir, und ich bin jetzt sozusagen erst recht gespannt.


    Hallo Edwin,
    ich habe mindestens ein halbes Dutzend (Rundfunk-)Aufnahmen der Achten mit Gielen; zwar ist darunter keine wie das Panoptikum, das du aus Wien beschreibst, aber auf die 'Richtige' warte ich in der Tat auch noch. Vielleicht geht einem 'Analytiker' wie Gielen der Sinn für das überaus Sinnliche dieser Musik ab...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Norbert,
    ich will Deine Sicht auf Gielen gar nicht ändern. Ich selbst habe ein paar sehr schöne Aufnahmen unter ihm (vor allem zeitgenössische Musik), und mir ist eine spannende Neunte Beethoven in Wien in Erinnerung, bei der er vor dem vierten Satz Schönbergs "Überlebenden aus Warschau" platzierte und damit den ganzen Freudenhymnus relativierte. Er ist sicherlich einer jener denkenden Musiker, von denen es ohnedies viel zu wenige gibt. Nur, wie gesagt, ich bin halt seit jener Achten Bruckner ein gebranntes Kind.


    Hallo Edwin,


    okay, dann hatten wir uns mißverstanden.


    Zitat

    Ich verspreche aber, dass ich in seinen Bruckner hineinhören werde, vielleicht sind die Aufnahmen wirklich anders als die Live-Aufführungen.
    Die Mahler-Aufnahmen habe ich komplett, da gibt es viele faszinierende Momente. Als Ganzes überzeugen mich allerdings nur die Siebente, die Neunte und die Zehnte in der nachträglichen Einspielung in der Cooke-Version. Aber, wie gesagt: Der Bruckner liegt noch vor mir, und ich bin jetzt sozusagen erst recht gespannt.


    Ich bin ebenfalls gespannt, zu welchen Ergebnissen Du gelangen wirst.


    Bruckners 8. ist seinerzeit in den Kritiken nicht sehr gut weg gekommen, ich selbst kenne die Aufnahme leider nicht, kann mir also kein Urteil erlauben.


    Gielen hat imo seine stärksten Momente, wenn er Bruckner von übermäßigem Pathos befreien kann. Johannes erwähnte bereits die 7., ich persönlich schätze zudem besonders (wie erwähnt) die 5. und die 9. Sinfonie (wenngleich diese Aufnahme zwei unschöne Schnittfehler im ersten Satz enthält) .

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo,


    wie wird denn allgemein Mahlers 4. unter Gielen eingeschätzt? Das ist nämlich die einzige Aufnahme, die kenne, zudem ohne Vergleichsmöglichkeit bei Mahler. Unmöglich für mich, unter diesen Umständen ein Urteil abzugeben. Allerdings verlangte es mich bislang nicht nach einer Alternative, was ja eher positiv zu werten wäre.


    Gruß, Cosima

  • Zitat

    Original von Cosima
    wie wird denn allgemein Mahlers 4. unter Gielen eingeschätzt? Das ist nämlich die einzige Aufnahme, die kenne, zudem ohne Vergleichsmöglichkeit bei Mahler. Unmöglich für mich, unter diesen Umständen ein Urteil abzugeben. Allerdings verlangte es mich bislang nicht nach einer Alternative, was ja eher positiv zu werten wäre.


    Hurwitz (der den Gesamtzyklus als einen der besten erhältlichen empfiehlt, ebenso kürzlich die nachgelieferte Cooke-10.) hält sie für die schwächste Lieferung des Zylus (sie ist auch eine der ältesten). Ich finde sie eigentlich ziemlich gut, muß jedoch gestehen mich lange nicht mehr mit dem Stück oder dieser Aufnahme befaßt zu haben. Es war auch eine der ersten, die ich kennenlernte (die erste war Bernsteins mit dem Knaben, was ich für verfehlt halte). Die Sängerin ist nicht optimal, aber ordentlich (gilt indes wohl für die meisten Einspielungen), den Rest finde ich sehr gut, z.B. geteilte Violinen, flüssiges tempo im Finale, angemessen groteskes Scherzo.


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    (die erste war Bernsteins mit dem Knaben, was ich für verfehlt halte)


    Sagen wir so: Bernsteins Gründe, einen Knaben einzusetzen, waren nicht unbedingt musikalischer Natur.
    Auch mir vergällt dieser Unsinn eine der bezauberndsten Einspielungen des Werkes.


    Die Gielen-Aufnahme finde ich o.k., sie ist weder überragend gut noch abgrundtief schlecht. Gut ist, wie schon gesagt, das Scherzo. Eher schwach finde ich den langsamen Satz, da er zu kurzatmig disponiert ist und gerade dadurch die Länge viel stärker ins Gewicht fällt. Im ersten Satz höre ich minimale Unsauberkeiten, was mir aber nicht einmal unsympathisch ist - besser etwas unsauber lassen, als die nachträgliche Studio-Kosmetik!
    Was mir beim Gielen-Zyklus insgesamt weniger gefällt, ist der Klang des Orchesters, der auf mich völlig neutral wirkt. Das finde ich besonders in der Neunten störend, in der Vierten eigentlich noch am wenigsten.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Die Gielen-Aufnahme finde ich o.k., sie ist weder überragend gut noch abgrundtief schlecht. Gut ist, wie schon gesagt, das Scherzo. Eher schwach finde ich den langsamen Satz, da er zu kurzatmig disponiert ist und gerade dadurch die Länge viel stärker ins Gewicht fällt. Im ersten Satz höre ich minimale Unsauberkeiten, was mir aber nicht einmal unsympathisch ist - besser etwas unsauber lassen, als die nachträgliche Studio-Kosmetik!
    Was mir beim Gielen-Zyklus insgesamt weniger gefällt, ist der Klang des Orchesters, der auf mich völlig neutral wirkt. Das finde ich besonders in der Neunten störend, in der Vierten eigentlich noch am wenigsten.


    Nur mal am Rande, welche Mahler (und meinethalben auch Bruckner-)Interpretationen hältst Du für herausragend?


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Sagen wir so: Bernsteins Gründe, einen Knaben einzusetzen, waren nicht unbedingt musikalischer Natur.
    Auch mir vergällt dieser Unsinn eine der bezauberndsten Einspielungen des Werkes.


    Hallo Edwin,


    gehört zwar in einen anderen Thread, aber ich würde auch gerne wissen, welche 4. Mahler von Dir rundum als überragend eingestuft wird. Nicht falsch verstehen bitte: Mich würde einfach Deine Meinung interessieren, damit ich u.U. eine Vergleichmöglichkeit zu der Gielen-Aufnahme habe.


    Das ist mit dem Knaben bei Bernstein finde ich doch sehr einleuchtend. Zu dem Liedfinale sagte Mahler selber: „Im letzten Satz erklärt das Kind […], wie alles gemeint sei.“


    Gruß, Cosima

  • Zitat

    Original von Cosima


    gehört zwar in einen anderen Thread, aber ich würde auch gerne wissen, welche 4. Mahler von Dir rundum als überragend eingestuft wird. Nicht falsch verstehen bitte: Mich würde einfach Deine Meinung interessieren, damit ich u.U. eine Vergleichmöglichkeit zu der Gielen-Aufnahme habe.


    Das ist mit dem Knaben bei Bernstein finde ich doch sehr einleuchtend. Zu dem Liedfinale sagte Mahler selber: „Im letzten Satz erklärt das Kind […], wie alles gemeint sei.“


    Der Punkt ist, dass hier (wie auch anderswo etwa in "Urlicht") ein erwachsener Sänger singen soll "wie ein Kind, das meint im Himmel zu sein" oder so ähnlich. Diese Kindlichkeit ist bei Mahler immer eine herbeigewünschte, aber eben gerade nicht unmittelbare Naivität. Abgesehen davon, ist diese Naivität in den ersten Strophen des himmlischen Lebens ziemlich deutlich gebrochen: dieser Himmel ist wie Schlachtfest im Schlaraffenland!
    m.E. handelt es sich hier also um einen ähnlichen Fall wie "Hosenrollen", nur etwas abstrakter. Niemand käme auf den Gedanken, Cherubino oder Octavian mit einem 18jährigen männlichen Falsettisten zu besetzen (vielleicht schon auf die Idee, aber das wäre ähnlich falsch)


    viele Grüße


    JR

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  • Stimmt, Johannes, ich habe meinen Fehler eben erkannt. Bislang habe ich mich überhaupt nicht mit dieser Sinfonie weitergehend beschäftigt, gerade zum ersten Mal las ich darüber etwas in einem Konzertführer. Und gerade erkenne ich auch erst, was für ein grandioses Meisterwerk Mahler hier geschaffen hat! Wieso habe ich das nicht eher erkannt? Manchmal braucht man wohl einen Anstoß…


    Folgerichtig muss natürlich eine erwachsene Person singen. Er selber gab in seiner Partitur die Anweisung, dass eine Frauenstimme mit „kindlich heiterem Ausdruck“ zu singen habe.


    Gerade höre ich die Gielen-Aufnahme: Eigentlich gefällt sie mir gut. Sie bringt IMO den hinter- und tiefgründigen Charakter (sie wirkt ja nur oberflächlich so naiv und heiter) der Sinfonie gut zur Geltung, schön transparent und mit den richtigen Akzenten. Aber ich kann mich irren – eine Vergleichsaufnahme muss jetzt unbedingt her, ich habe mich nämlich gerade in diese Sinfonie verliebt!


    Gruß, Cosima


    P.S.: Ich bleibe mal eben off topic: Kennt jemand die von Hurwitz sehr positiv besprochene Aufnahme unter Tilson Thomas?

  • Zitat

    Nur mal am Rande, welche Mahler (und meinethalben auch Bruckner-)Interpretationen hältst Du für herausragend?


    ...dem wird geantwortet, auch wenn's wahrscheinlich nicht in diesen Thread passt.


    Mahler 1: Bruno Walter; Herbert Kegel
    Mahler 2: Leonard Bernstein, CBS; Otto Klemperer; Abbado, letzte Einspielung
    Mahler 3: Leonard Bernstein, CBS; Bernard Haitink, erste Einspielung; Pierre Boulez
    Mahler 4: George Szell, Herbert Kegel
    Mahler 5: Vacláv Neumann + Gewandhaus Orchester
    Mahler 6: Bernstein, Boulez, Jewgenij Swetlanow
    Mahler 7: Michael Gielen, Maurice Abravanel
    Mahler 8: Colin Davis, Swetlanow
    Mahler 9: Bernstein + Berlin (1979); Boulez; Abbado, letzte Aufnahme
    Mahler 10: Abravanel; Boulez; Rattle (für die Cooke-Version; erste Einspielung mit Bournemouth); (Anm.: Boulez ist sensationell, wurde von der CBS aber nie auf CD veröffentlicht, ich habe das Adagio als Ergänzung der zwei LPs umfassenden Ersteinspielung vom "Klagenden Lied" in der vollständigen Version.)
    Lied von der Erde: Jascha Horenstein, Boulez


    Meine Bruckner-Präferenzen habe ich in dem Alles-Bruckner-Thread deponiert. Ich fürchte, sie sind ähnlich extravagant...


    Als Gesamteinspielungen unter einem Dirigenten: Bernstein, Neumann (obwohl die 5. in der Supraphon-Aufnahme harmloser ist), Swetlanow. Boulez ist ja noch nicht fertig, wird es angesichts seiner Aversion gegen die 8. wohl auch nicht.



    Weil ich eben direkt nach der Vierten gefragt werde: Ich halte die Vierte für Mahlers Versuch einer absichtlichen Naivität, also Naivität unter Anführungszeichen. Eigentlich vollzieht sich damit der Bruch mit der Romantik: Sie wird nur noch als Kulisse wahrgenommen, zusammengesetzt aus Erinnerungsstücken an eine vergangene Zeit.
    Daher finde ich es nicht ideal, wenn Dirigenten dieses "so als ob" dirigieren als wäre es ein "das ist".


    Abravanel macht das ziemlich gut, nur wird er leider von seinem tüchtigen, aber eben nicht wirklich guten Orchester in Stich gelassen.
    Bei Bernstein stört mich, dass er eben dieses "so als ob" völlig ignoriert.
    Eine sehr schöne Interpretation der Vierten habe ich unter Benjamin Britten, der das Werk wirklich aus diesem Abschiednehmen von etwas Verlorenem heraus erfasst, man darf sich nur nicht an kleinen Fehlern im Orchester stoßen und an einem falschen Einsatz der Solistin im letzten Satz.


    Für mich die schönsten Vierten dirigieren Szell in einer unnachahmlichen Verbindung von Klangkultur und Ausdruck. (Boulez, der ja nicht umsonst von Szell gefördert wurde, scheint mir ebenfalls in diese Richtung zu gehen, aber ob Mahler das Werk wirklich als Vorboten der Postmoderne gemeint hat, wage ich zu bezweifeln - kurz: Ich liebe Boulez' Interpretation, aber ich würde sie niemandem wirklich empfehlen.)
    Kegel, der meiner Meinung nach einer der unterschätztesten Dirigenten unserer Zeit war, bringt die Doppelbödigkeit ideal zum Ausdruck, und kein anderer schafft es IMO, das Adagio zugleich so innig und so gebrochen darzustellen. Obendrein ist die Casapietra im Finale wirklich eine "gefälschte" Kinderstimme. Insgesamt für mich einfach DIE Vierte Mahler.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Daher finde ich es nicht ideal, wenn Dirigenten dieses "so als ob" dirigieren als wäre es ein "das ist".


    Fantastisch! Ja, das ist es. Du hast mein Gefühl ganz genau in Worte gefasst!


    Herzlichen Dank für Deine Ausführungen, Edwin, ich werde es dann mal mit Szell versuchen, falls keine Meinungen mehr zu Tilson Thomas kommen.


    Gruß, Cosima

  • Hallo Cosima!
    Sollte man im Plattengeschäft auch den Kegel haben, hör' Dir hintereinander den Anfang des ersten Satzes mit Kegel / Szell an, ein Stück aus dem langsamen Satz und das Finale, damit Du merkst, welche Solistin Dir eher entgegen kommt. Die Interpretationen sind ziemlich unterschiedlich und für mich absolut gleichwertig.
    Tilson-Thomas hingegen scheint mir einfach Manierismen anderer Dirigenten zu übertreiben (noch langsamer als Bernstein, noch mehr staccato als Walter, noch mehr Bläserbass als Boulez etc.) - ABER: Die Vierte kenne ich nicht, ich kenne 2, 6, 9, letztere auch Live, und es war für mich in höchstem Maße uninteressant bis geschmacklos, wenn Trauergesten dermaßen übertrieben wurden, dass man schon fast schmunzeln musste.

    ...

  • Okay, Edwin, ich werde schauen was sich machen lässt. Den Szell hätte ich aber in jedem Falle gerne.


    So, jetzt verschwinde ich wieder aus diesem Thread, der ja eigentlich Gielen gewidmet sein soll. Vielen Dank für die kleine Unterbrechung… war mir wichtig.


    Gruß, Cosima

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