Gustav Leonhardt

  • Sagitt meint:


    Er wird weder 75 noch 80, aber ich hatte schon lange vor,über ihn zu schreiben. Ein so unprätentiöser Künstler. Ich lernte ihn durch einen Film kennen. 1967: Die Chronik der Anna Magdalena Bach von Jean Marie Straub. Ein FilmKauz, der sich gänzlich von irgendeiner Ästethik absetzte, den gesamten Eingangschor der Mattäus-Passion aus einer Perspektive filmte ( keiner guten).Leonhardt spielte den Bach und sprach Deutsch mit einem gewaltigen Akzent ( aber keinem sächsichen)
    Gustav Leonhardt, Jahrgang 1928, absolvierte in den Niederlanden eine kirchenmusikalische Berufsausbildung als Organist und Chorleiter. Anschließend studierte er Orgel und Cembalo in der Klasse von Eduard Müller an der Schola Cantorum in Basel und debutierte 1950 mit großem Erfolg mit Bachs Kunst der Fuge in Wien. Dort wirkte er von 1952-54 als Professor für Cembalo an der Musikakademie und in gleicher Funktion - nach seinem Konzertdebut 1953 in Amsterdam - seit 1954 am dortigen Sweelinck-Konservatorium. Sein sehr umfangreiches Repertoire als Cembalist und Organist reicht vom frühen 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Leonhardt trat in der Vergangenheit mit beachtlichem internationalen Erfolg als Dirigent in Erscheinung, sowohl im kammermusikalischen wie im vokalen Bereich - einschließlich der barocken Oper (Bach, Monteverdi, Rameau). Weiterhin edierte er Tastenmusik (Fantasien und Toccaten) Jan Pieterszoon Sweelincks innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe.
    Dem internationalen Konzertpublikum gilt er als maßgeblicher Initiator und wegweisender Protagonist einer konsequent an historisch-kritischen Maßstäben geschulten musikalischen Aufführungspraxis.
    Durch seine unprätentiöse Art stand er irgendwie immer in der zweiten Reihe. Er hat mit Harnoncourt im Wechsel die Bach-Kantaten eingespielt, aber nie seinen Bekanntheitsgrad erreicht.
    Momentan will ich nur auf eine seiner zahlreichen Aufnahmen hinweisen: die Messe h-moll, mit la petite bande, sehr guten Solisten, dem nederlands kamerkoor. Eine sehr ausgewogene Aufnahme auf höchstem Niveau.

  • Hallo,


    ja, der etwas grauhaarige distanzierte ältere Herr, immer tipp topp angezogen, so lebt Gustav Leonhardt in meinem Bewußtsein auch. Im Übrigen auch völlig uneitel, denn das Continuospiel dürfte ihm mindestens genauso wichtig sein, wie die solitische Konzerttätigkeit, ferner steht für ihn die 1 zu 1 Umsetzung des Notentextes im Vordergrund. Irgendjemand hat mal geschrieben, daß er völlig hinter den Notentext zurückgetreten sei. Das möchte ich bestätigen und verweise auf Leonhardt's 1965er Goldbergaufnahme. Abwendung von der Romantik war sein Bestreben in dem Sinne die "Alte Musik" auf die kleinstmögliche Einheit zu reduzieren. Vielfach wurde ihm vorgeworfen, dieses Konzept sei zu eindimensional, zu "monochrom koloriert", wie auch immer. Gustav Leonhardt ist für mich einer der Päpste der Bachinterpretation. Schüler wie Bob van Asperen, Ton Koopman, Christine Jaccottet zeugen davon.


    Herzliche Grüße


    tom

  • Diese Würdigung freut mich sehr, Leonhardt ist immer meine erste Wahl.


    Dass er stets den Notentext oder den Komponisten wichtiger nimmt als sich selbst, ist eine Eigenschaft, die ich mir von jedem Künstler wünschen würde.


    Die Formulierung des "hinter den Notentext Zurücktretens" oder gar der "1 zu 1 Umsetzung des Notentextes" halte ich für sehr irreführend. Man höre sich Leonhardt mit französischer Cembalomusik an, z.B. Duphly, und wird die bei dieser Musik angebrachten extremen rhythmischen Freiheiten der Interpretation (vergleichbar der Agogik in der Romantik, wenn auch natürlich anders) feststellen (das "inégale"). Der Notentext wird also nicht ohne die nötigen Gestaltungsmittel der Musizierpraxis der Epoche umgesetzt. Genau dasselbe erwarte ich natürlich von jemandem, der einen Romantiker spielt, nur dass dort die Beschleunigungen und Verzögerungen anders eingesetzt werden.


    (inegale: in einer Kette gleichwertiger Noten wird der Schwerpunkt jeweils ein wenig gedehnt. Quantz: "... die dem guten Geschmacke gemäß, etwas ungleich sein müssen.")

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Die Formulierung des "hinter den Notentext Zurücktretens" oder gar der "1 zu 1 Umsetzung des Notentextes" halte ich für sehr irreführend. Man höre sich Leonhardt mit französischer Cembalomusik


    Hallo,


    Gustav Leonhardt beurteile ich möglicherweise recht eindimensional aus meiner ausgeprägten Bachsicht. Hinsichtlich Bach trifft diese Formunlierung mE zu. Wie es sich bei französischer Cembalomusik eines Duphly o.a. verhält, weiß ich schlicht nicht. Ich kenne diese Einspielungen nicht und mein Interesse geht eigentlich auch nicht in diese Richtung. Ich bin insoweit also auf fachkundige Hilfe angewiesen. Aber dafür ist ja dieses Forum da.


    Liebe Grüße


    tom

  • Sagitt meint:


    Ich möchte am Beispiel der h-moll Messe meinen Eindruck von Leonhardt noch ein wenig präszisieren. Er musiziert nicht mit plakativer Klangrede, sondern mit schlankem Klang und sehr musikantisch, nicht sportlich überdreht, aber keinesfalls pathetisch aufgeblasen- seine ganze Erscheinung und sein Aufterten widerstrebt dem schon.
    Dadurch bekommt die h-moll Messe vielleicht nicht brillianten Glanz, aber sie wird,man möchte fast schreiben, korrekt wiedergegeben. Das klingt nach Langeweile,ist aber eine Interpretation der Mitte,zwischen einem Richter oder Klemperer und einem Hengelbrock oder Gardiner.
    Wer die Extreme scheut, der greift getrost zu Leonhardt.
    Leider, das gilt nicht für die h-moll Messe, hat Leonhardt,ebenso wie Harnoncourt, viel mit Knaben gearbeitet , die natürlich mit Solopartien überfordert sind ( Harnoncourt hat dies später ja auch aufgegeben)..

  • Hallo,


    wenn Gustav Leonhard in Jean Marie Straubs Bachfilm "Die Chronik der Anna Magdalena Bach" einen überaus freundlichen asketischen Bach gibt, so spiegelt sich diese Bachsicht auch in seinem Bachschaffen und zwar im Instrumental- als auch im Vokalbereich wieder; eben ausgeprägte Askese, Nüchternheit, historisch "korrekt" im Sinne eines Antiromantizismus. Ich würde ihn deshalb nicht als Bachinterpreten der Mitte bezeichnen wollen, der einen Ausgleich der verschiedenen Stile sucht aber nicht mehr. Leonhardt's Bachauffassung stellt sich mir vielmehr sehr individuell dar, eben als typisch Leonhardtsche Lesart. Ein Bachinterpret der Mitte wäre vielleicht Karl Münchinger?


    Liebe Grüße



    tom

  • Der niederländische Cembalist Gustav Leonhardt will nicht mehr öffentlich spielen.
    Der 83-Jährige teilte nach einem Auftritt in Paris mit, dies sei sein letztes Konzert gewesen. Als Grund verwies Leonhardt auf seinen schwachen Gesundheitszustand. Der Cembalist wurde als Interpret der Werke von Johann Sebastian Bach international bekannt.
    Zusammen mit Nikolaus Harnoncourt gilt Gustav Leonhardt als einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis.


    LG

    (WDR)

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Wie ich heute im Radio hörte, ist der niederländische Cembalist, Organist und Dirigent Gustav Leonhardt gestern im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Dieser Mann gehört für mich zu den grössten Interpretenvorbildern überhaupt.
    Ich durfte so manches Konzert live mit ihm miterleben und war immer von seiner starken Persönlichkeit und seinem unverwechselbarem Stil beeindruckt.


    Es gibt manche Aufnahmen, die ich immer noch für unerreicht halte, z.B. einige der Bachschen Cembalokonzerte, einiges aus dem Bereich der Bachkantaten einige Orgel- und viele Cembaloaufnahmen z.B. von Louis Couperin und Forqueray.


    Mit ihm ist einer der wichtigsten Musiker des 20. Jahrhunderts verstorben. Sein Einfluss auf die Interpretation Alter Musik ist sowohl als Cembalist, Dirigent und Organist kaum abschätzbar.


    Möge er in Frieden ruhen.


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Transparenz, Durchsichtigkeit, Bescheidenheit fallen mir ein, wenn ich Gustav Leonhardts Interpretationen beschreiben sollte. Ich besitze die Gesamtaufnahme des Bachschen Werkes, wo Leonhardt gewichtige Beiträge geliefert hat. Zusammen mit Harnoncourt hatte er das sakrale Kantatenwerk eingespielt, das heute in dieser Box enthalten ist.

    Ich gestehe, Leonhardts Beiträge gefallen mir besser.

    Das Bild auf dem Cover zeichnet Leonhardts Persönlichkeit gut: Ein Musiker, nobel, der uneitel dem Werk dient. Zeit seines Lebens hat er sich mit Barocker Musik auseinandergesetzt, vor allem mit Bach, von dem er sagte, er könne sich vorstellen, sich in einem zweiten Leben gedanklich nur mit ihm zu beschäftigen.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Heute hätte der im letzten Jahr verstorbene Künstler seinen 85. Geburtstag:



    Gustav Leonhardt (* 30. Mai 1928 in ’s-Graveland; † 16. Januar 2012[1] in Amsterdam) war ein niederländischer Dirigent, Cembalist und Organist. Er war mit der Violinistin Marie Leonhardt-Amsler verheiratet.



    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Gustav Leonhardt hat heute wieder Geburtstag. Zu seinem Ehrentag habe ich seine Edition ausgesucht:



    Gustav Leonhardt, der vor gut drei Jahren starb, wurde am 30. Mai 1928 geboren.


    Heute wäre er 87 Jahre alt geworden.



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Gustav Leonhardt, der vor gut drei Jahren starb, wurde am 30. Mai 1928 geboren.
    Heute wäre er 87 Jahre alt geworden.


    Kaum zu glauben, daß es schon wieder mehr als 3 Jahre her ist, daß GUSTAV LEONHARDT tot ist. Diese Todesnachricht ging mir damals sehr nahe.


    Es fällt mir nicht leicht, aus seinem umfangreichen Schaffen und seinen zahlreichen Einspielungen nur ein Beispiel der mir besonders lieb gewonnenen Aufnahmen mit ihm auszuwählen.


    Da zu gehört sicher seine Aufnahme auf Originalinstrumenten der Doppelkonzerte von JOHANN CHRISTIAN BACH, CARL PHILIPP EMANUEL BACH und WILHELM FRIEDEMANN BACH mit seinem verstärkten LEONHARDT-CONSORT und dem CONCENTUS MUSICUS WIEN, und mit seinen erstklassigen Solisten: ANNEKE UITTENBOSCH und ALAN CURTIS , Cembalo, JEAN ANTONIETTI, Hammerklavier, JÜRG SCHAEFTLEIN und KARL GRUBER, Barockoboe FRANS BRÜGGEN, FRANS VESTER, Traversflöte, HERMANN SCHOBER und JOSEF SPINDLER, Trompete, ANNER BYLSMA, Barockcello und CAROL HOLDEN + THOMAS HOLDEN, Naturhorn; es ist die mich am meisten überzeugende Interpretation dieser Werke der BACH-Söhne. Es gibt gewiß "reißendere" Aufnahmen, doch hat sich GUSTAV LEONHARDT sehr intensiv mit dieser Musik beschäftigt, so daß man annehmen darf, daß diese Musik zu Zeiten der Komponisten annähernd so geklungen haben könnte, und dies ist für mich das wichtigste Kriterium, wobei man bei dieser künstlerischen Besetzung der Aufnahme natürlich auch die Gewähr hat, daß hier auch Meister ihrer Instrumente am Werke sind.


    wok


  • Meine Lieblings-Rameau-Oper, "Zais", wird von Leonhardt dirigiert. Dort ist auch René Jacobs als Altus zu hören. "Die Chronik der Anna Magdalena Bach" von Jean-Marie Straub (sprich Stroob) ist ein entsetzlich langweiliges Machwerk, das zu meiner Zeit in Bonn aber im Studentenkino in Endenich (der Stadtteil, in dem Schumanns letztes Domizil lag) zum Kultfilm wurde, weil wir uns dazu neue Dialoge ausgedacht hatten. Es begann immer so, dass vorne jemand bellte, dann rief die eine Gruppe "Der Hund muss raus!", die andere "Der Hund bleibt drin!". Danach ging es dem Film an den Kragen. Von Robert Gernhardt gibt es zu diesem Film eine köstliche Parodie, wonach ein Ehepaar, das eigentlich die "Schlacht um Tobruk" sehen will, in diesen Film gerät. Wie da der alte Bach (Gustav Leonhardt) zu Rommel wird, ist absolut lesenswert.
    Ansonsten war Leonhardt natürlich ein toller Dirigent.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)