Einfluß von Kriegsereignissen auf die Musik

  • Hallo,


    kürzlich ist mir im Internet folgende interessante Fragestellung aufgefallen:


    Welche Spuren haben die Weltkriege in der Musik hinterlassen? Wie reagiert Musik, wenn eine Gesellschaft traumatisiert ist?


    Diese Fragen stehen im Zusammenhang mit dem Hinweis auf einen Essay von Wolfgang-Andreas Schultz, "Avantgarde und Trauma - Die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege", erschienen im Jahr 2005.


    Hier ein Auszug aus Schultz' Veröffentlichung:



    Wie seht Ihr das? Welche Auswirkungen haben aus Eurer Sicht traumatische Kriegserfahrungen auf die Musik? Ich möchte das Thema nicht auf das 20. Jahrhundert beschränken, denn Seuchen, Hungersnöte und religiöser Wahnsinn - Begleiterscheinungen z.B. im 30jährigen Krieg - haben gewiß auch Einfluß auf die Musik (Heinrich Schütz?) gehabt.


    Gruß


    tom

  • Dann fang ich mal munter an:


    Die Napoleonischen Kriege (die Besetzung Österreichs durch Napoleon) hatte einen unüberhörbaren Einfluß auf Haydns missa in tempore belli (Messe zu Kriegszeiten, "Paukenmesse"). Im Agnus Dei dieser Messe findet Krieg statt. Diese Messe diente Beethovens Missa Solemnis als Vorbild, in der der Krieg im Agnus Dei noch schrecklicher wütet. (Beethoven war ja auch von der Belagerung Wiens betroffen, ich habe irgendwo gelesen, daß er im Keller saß und sich die Ohren zuhielt, weil er den Lärm der Artillerie nicht ertrug. [Stimmt das überhaupt?])

  • Salut,


    überleg mal - war er nicht ab 1818 völlig taub?


    ?(


    Aber wo wir schon bei dem Herrn von den Rübenäckern sind: Gehört denn nicht die III. Sinfonie auch dazu?


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    überleg mal - war er nicht ab 1818 völlig taub?


    Ulli,


    1818 waren die Napoleonischen Kriege lange vorbei. 1809 wurde in Wien das letzte Mal geschossen. Hast Du nicht gedient? 8)

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Ulli,


    1818 waren die Napoleonischen Kriege lange vorbei. 1809 wurde in Wien das letzte Mal geschossen. Hast Du nicht gedient? 8)


    Natürlich nicht... umso schwachsinniger die Bauhauptung, LvB habe noch Lärm während der Komposition der MS gehört, wahrscheinlich aber hab ich's falsch verstanden - wie immer.


    :D


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Mal im Ernst: Theoretisch könnte er die Schwingungen wahrgenommen haben. Irgendwo habe ich gelesen, er habe auf Teile des Klaviers gebissen, weil das eine Möglichkeit war, Töne wahrzunehmen. Auch die (fast) gehörlose Soloschlagzeugerin Evelyn Glennie nimmt den Verlauf eines Stücks vor allem durch Schwingungen des Podiums wahr, weshalb sie meist bloßfüßig auftritt.

    ...

  • Salut,


    ja, das ist richtig bzw. möglich. Das Wahrnehmen von Vibrationen [und ggfs. deren Umsetzung in Töne?] ist selbstverständlich möglich. Es gibt auch einen Film über eine Gehörlose Musikerin - irgendwo hier im Forum wurde er beschrieben:


    Klassik im Kino


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von tom


    Welche Spuren haben die Weltkriege in der Musik hinterlassen? Wie reagiert Musik, wenn eine Gesellschaft traumatisiert ist?


    Ich denke Künstler haben immer verschieden reagiert. Die einen versuchen das Traumatische zu schildern. Die zweiten versuchen, dieses Traumatische zu überwinden, der Traurigkeit und dem Entsetzen Ausdruck zu geben und dabei doch Trost zu spenden und sei es auch nur dadurch daß man der Traurigkeit Ausdruck gibt. Die dritten schließlich versuchen dem Traumatischen dadurch zu begegnen, in dem sie es völlig ignorieren.


    Was mich zum Beispiel sehr erstaunt hat, waren die Kriegssinfonien von Vaughan Williams, die 3., die er im ersten und die 5., die er im zweiten Weltkrieg geschrieben. Gerade die 3. ist in dieser Hinsicht völlig erstaunlich. Mitten im Weltkriegsgemetzel geschrieben ist diese Sinfonie völlig ruhig, pastoral, geradezu einschläfernd für den, der dieser Ruhe nichts abgewinnen kann. Aber auch die 5. gibt keinem Entsetzen Ausdruck. Ist dies ein Zeichen der Kälte von Vaughan Williams, daß er musikalisch darauf gar nicht zu reagieren vermochte? Oder war es ein Zeichen seiner Sensibilität, daß diese Sinfonien das Traumatische überwinden helfen sollten? Ich weiß es nicht.


    Schostakowitsch ist natürlich ganz anders, diese Musik gibt der Düsternis, dem Trauer und dem Entsetzen Ausdruck, trotzdem auf eine Weise, die für mich dieses Traumatische auch zu überwinden hilft.


    Gruß Martin

  • Hallo Tom,


    das ist vielleicht das wichtigste Thema zur Musik im 20. Jahrhundert. Jeder wird über Google leicht den ganzen Text finden. Eine überarbeitete Version ist jetzt im aktuellen Heft von "Lettre international" (Nr.71) abgedruckt. Dies Heft lohnt sich für Musikinteressierte auch wegen eines Beitrags "Walküren über dem Irak".


    Viele Grüße,


    Walter

  • Zitat

    Original von Martin
    Was mich zum Beispiel sehr erstaunt hat, waren die Kriegssinfonien von Vaughan Williams, die 3., die er im ersten und die 5., die er im zweiten Weltkrieg geschrieben. Gerade die 3. ist in dieser Hinsicht völlig erstaunlich. Mitten im Weltkriegsgemetzel geschrieben ist diese Sinfonie völlig ruhig, pastoral, geradezu einschläfernd für den, der dieser Ruhe nichts abgewinnen kann.


    Finde ich überhaupt nicht erstaunlich. Laut Homepage der RVW Society entstand die Symphonie 1921, also einige Jahre nach dem Kriege, an dem VW als Freiwilliger teilgenommen hat, und zwar als Ambulanzfahrer im Field Ambulance Service des Brit. RK.


    Steve Schwartz schreibt im Classical Net:
    "Vaughan Williams described this as "four movements, all slow" -- although not quite true, but pretty close. It's a hard work to get to know, but it's also close to the spiritual center of Vaughan Williams. Forget Beethoven's birds, brooks, and thunderstorms. The work seems to find a musical equivalent to Hardy's impersonality and otherness of nature, not inimical exactly, but on its own non-human schedule and agenda. Constant Lambert remarked (famously) that it reminded him of "a cow looking over a gate." Stravinsky (less famously) said that it was like staring at cow for a long time. For some reason, people saw it as a monument of English pastoralism, but they missed the mark. Vaughan Williams was indeed inspired by landscape, but not English landscape; rather, the landscape of wartime France. Michael Kennedy sees it as a pantheistic requiem for the dead of World War I. Its passions run very deep below a largely dispassionate surface. It seems to grant the dead eternal rest. The 2nd movement is a trumpet solo echoing the mood of "The Last Post". In the last movement, a wordless soprano floats over and through the music and time stops. The one voice turns out to be something like the voice of the wind."


    Das trifft es IMHO sehr genau. Der erste Weltkrieg wird bis heute im UK als THE GREAT WAR bezeichnet und hatte ganz erheblich tiefere Auswirkungen auf das Land als der Zweite Weltkrieg. Der Zivilisationsschock des jahrelangen Grabenkrieges an der Westfront mit all seinen Begleiterscheinungen hat nicht nur in der Malerei oder Literatur Spuren hinterlassen, sondern auch in der Musik. Ein enger Freund VWs, der engl. Komponist George Butterworth (ebenfalls Kriegsfreiwilliger und Leutnant bei der Durham Light Infantry), fiel in der Sommeschlacht am 05.08.1916. Das hat VW sehr getroffen.



    Über das Thema im allgemeinen läßt sich ketzerisch sagen, daß man darüber gerade wegen seiner Unverbindlichlichkeit und Allgemeinheit wunderbar schwafeln kann, vor allem ,wenn man alles mit Psychoanalyse würzt. Wie es in dem Essay selbst heißt, ist die Quellenlage nicht sehr ergiebig. Mit anderen Worten, nichts genaues weiß man nicht. Ich muß da immer an des alten Meisters Goethe Bemerkung über uns Juristen denken: Seid beim auslegen frisch und munter! Legt Ihr's nicht aus, so legt was unter! :D
    Will heißen: Wenn man sich um Fakten nicht zu kümmern braucht, kann man sich mühsame Quellenforschung sparen und einfach drauflos schreiben.


    Das hat das von Tom aufgeworfene Thema aber überhaupt nicht verdient!
    IMHO muß man das anders anpacken. Nicht von allgemeinen Erwägungen ausgehen, sondern von der konkreten Biographie eines Musikers. Über Schönbergs Kriegsdienst weiß ich nichts, mit ihm habe ich mich überhaupt noch nicht beschäftigt. Aber der Mann hier sollte ein Paradefall sein:


    Ivor Gurney (1890-1937), wie so viele auch er Kriegsfreiwilliger der ersten Stunde. Im August 1914 zunächst wegen seiner schlechten Augen abgelehnt, meldet er sich im Februar 1915 erneut freiwillig und wird diesmal akzeptiert. Er dient als Gefreiter und ist fast nur in vorderster Front eingesetzt, wo er mehrfach verwundet und im September 1917 gasvergiftet wird. Ohnehin von schwächlicher Gesundheit, quält er sich den Rest seines Lebens mit den Krankheitssymptomen herum, verschlechtert durch die Folgen der Gasvergiftung. Gurney ist nicht nur Komponist, sondern auch Dichter. Im engl. Sprachraum haben nur wenige künstlerisch so hochwertige Auseinandersetzungen mit dem Krieg und dessen Einfluß auf den Soldaten geschaffen, etwa Wilfred Owen oder Siegfried Sassoon.


    Auf der Homepage wehwehweh.geneva.edu/~dksmith/gurney/biography.html


    finden sich eine Menge Informationen über diesen interessanten Mann mit einem tragischen Leben. Bringt mehr als alle theoretischen Essays!


    Etliche seiner Lieder sind auf CD erhältlich. Jotpehzeh listet zwar nur drei, aber bei cduniverse sind deutlich mehr aufgeführt, ebenso zB bei Amazon.uk.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Lieber Robert,


    ich habe glaube ich ähnliches im Klappentext oder den Klappentexten meiner 3. ( habe Handley und Naxos) auch gelesen. Ich denke, daß mich das Werk vor diesem Hintergrund auch bewegt hat. Trotzdem muß ich sagen, daß mir dies Werk einfach zu schön ist. Ich glaube nicht, daß überhaupt irgend jemand, der dieses Werk, ohne Hintergrundinformation zu kennen, hörte, auf den Gedanken käme, daß dies ein Requiem darstellen soll.


    Daß man die Quellenlage studieren soll, wie Du sagst, ist ja schön und gut, aber es wird wohl noch erlaubt sein, zu sagen, wie ein Werk auf einen gewirkt hat.


    Gruß Martin

  • Sagitt meint:


    1618 bis 1648 war Krieg in Deutschland. Viel dieser Zeit war Heinrich Schütz anwesend. Der Krieg hat sein Wirken stark beeinflusst. Erstens dadurch, dass einfach keine Musiker vorhanden waren und er über Jahrzehnte nur für Kleinstbesetzung komponieren konnte. Zweitens dadurch, dass Schütz das da nobis pacem mehrfach vertont hat. Drittens , dass durch das Kriegsende an die Kompositionen von 1619 angeknüft werden konnte und die geistliche Chormusik von 1648 und die sinfoniae sacrae III- 1650 wieder chorische Werke entstanden.
    Günther Grass beschreibt in seiner Erzählung Das Treffen in Telgte, 1647, die Rolle von Schütz. In wirrer Zeit eine unverrückbare Autorität.

  • Zitat

    Original von Martin
    Daß man die Quellenlage studieren soll, wie Du sagst, ist ja schön und gut, aber es wird wohl noch erlaubt sein, zu sagen, wie ein Werk auf einen gewirkt hat.


    Hat doch keiner bestritten! Peace, Bruder :beatnik:
    (Kann es sein, daß Du leicht vorschnell eingeschnappt bist?)


    Mein Hinweis auf die Quellenlage bezog sich nicht auf Deine Anmerkung, wie das Werk auf Dich gewirkt hat, sondern auf den theoretischen Essay, der nach meinem Gefühl der im modernen Feuilleton so verbreiteten Neigung zu schön klingenden Ausführungen ohne fundierte inhaltliche Substanz nachgibt.


    Als pantheistisches Requiem verstanden, ist gerade die Ruhe, das vermeintlich Lyrische IMHO das richtige Ausdrucksmittel. Ein Requiem im traditionellen christlichen Sinne wäre auf eine personifizierten Gott bezogen, da paßt die Stimmung nicht. VW wollte jedoch der tiefen Trauer über den Tod seiner Freunde, vor allem aber über den Untergang seiner gesamten bisherigen Welt Ausdruck verleihen. Das Überzeugung, mit den Grabenschlachten von 1914-18 sei das alte Europa untergegangen und mit ihm endgültig eine bestimmte Lebensweise, war in gebildeten Kreisen nicht nur des UK sehr verbreitet.

  • Krieg ist in der Musik immer ein Thema gewesen - zahlreiche Barockkomponisten schrieben "Battaglien" (Schlachtenmusiken), eine Urform der Symphonischen Dichtung. In dieser Tradition steht auch Beethovens "Wellingtons Sieg" und Tschaikowskijs "1812". Über den Wert dieser Werke äußere ich mich jetzt einmal lieber nicht.


    Mit dem Grauen des Ersten Weltkriegs wurde das Heroisieren des Krieges bzw. der Schlacht für intellektuell denkende Menschen (zu denen auch viele Komponisten gehörten) unmöglich. Elgar war ein anderes Kapitel: Er schrieb Tapferkeitskantaten, die heute sogar in England scheel angesehen werden.


    Traumatische Kriegserfahrungen schlagen sich dann im Laufe des und nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Werken nieder:
    Dmitri Schostakowitsch: 7. und 8. Symphonie
    Benjamin Britten: "Ballad of Heroes", "War Requiem"
    Ralph Vaughan-Williams: 6. Symphonie


    Verschiedentlich wurde aber auch wieder die Heroisierung betrieben:
    Sergej Prokofjew: "Krieg und Frieden", "Geschichte vom wahren Menschen"
    Dmitri Kabalewski: Requiem
    Yuri Schaporin: "Die Schlacht um Russland"


    Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg haben "Halil" von Leonard Bernstein ausgelöst, eine Trauermusik über einen im Kampf getöteten israelischen Flötisten. Auch in "Mass" desselben Komponisten ist das Trauma des Vietnamkrieges permanent im Hintergrund vorhanden.

    ...

  • Ich möchte die "Tapferkeitsmusiken" und "Schlachtenmusiken" in Schutz nehmen:


    Aus meiner Sicht handelt es sich hiebei nicht um TATSÄCHLICHE Verherrlichungen des Krieges, nein man macht aus der Not eine Tugend. Meine Mutter hat mir berichtet, daß man in den Kriegsjahren
    (Sie war vbei Kriegsende grade mal 18) die jungen Burschen direkt von der Maturafeier weg an die Front geschickt habe. Es wurde "Kriegsbegeisterung" geheuchelt - die war aber lediglich dazu da die schreckliche Angst zu verbergen, die alle hatten. Manch Mächedn heirateten ihen Freund noch ganz kurz bevor der an die Front geschickt wurde - und waren 2 Wochen später bereits Witwe.
    Niemand sagte damls, sein Sohn, Freund , Ehemann etc wäre einen sinnlosen Tod gestorben, verursacht durch ein paar wahnsinnige Poitiker.
    Nein jeder meinte - die niedergemnetzelten wären Helden im Auftrag des Vaterlandes.
    Auch die EU rüstet - natürlich (wie immer) aus den edelsten Motiven.
    Und kaum einer kann entrinnen. Desertiert einer ist er zunächst ein Verräter am Vaterland - zum heldenhaften Widerstandskämpfer mutiert er erst dann, wenn der Krieg vorbei ist - aber auch dann dauert es 20 Jahre......
    So sollte man auch die "Schlachtengemälde" der Vergangenheit sehen, als Mittel das Grauen durch Pomp zu verdrängen.
    Ich würde hier nicht moralisch werten und zudem die Propagandawert solcher Musik nicht überschätzen.


    Auch mir wirde als Kind das Lied "Wer will unter die Soldaten...." beigebracht, mit dem kümmerlichen Ergebnis. daß ich als es soweit war .....nicht wollte.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Desertiert einer ist er zunächst ein Verräter am Vaterland - zum heldenhaften Widerstandskämpfer mutiert er erst dann, wenn der Krieg vorbei ist - aber auch dann dauert es 20 Jahre......


    Ist zwar jetzt offtopic, aber ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob dies - zumindestens in der Bundesrepublik - heute schon der Fall ist. Ich erinnere mich noch vor einigen Jahren gelesen zu haben, daß Soldaten, die unter der Naziära desertiert hatten, auch in der heutigen Bundesrublik noch als vorbestraft gelten. Die Tageszeitung "Die Welt" fand das übrigens noch sehr richtig so, ein Grund für mich, dieses Blatt dann weitestgehend zu ignorieren. Also länger als 10 Jahre kann das eigentlich nicht her sein.


    Gruß Martin

  • Hallo Alfred!
    Etwas off-topic, weil's kein Komponist ist, dafür aber von Wiener zu Wiener: Man konnte als Intellektueller sehr wohl wissen, was Krieg bedeutet - ich denke vor allem an Karl Kraus.


    In Großbritannien war der von Britten im "War Requiem" vertonte Wilfred Owen ein Antikriegslyriker; der Dichter Siegfried Sassoon mutierte vom Kriegsverherrlicher zum Kriegsgegner.
    In Russland schrieb Artjom Wjassjolyj (das Pseudonym bedeutet ironischer weise "Artjom der Lustige) den grandios grauenhaften Roman "Russland in Blut gewaschen".
    Und wenn ich an den Schostakowitsch der 7. und der 8. Symphonie denke, dann wußte auch er, was Krieg bedeutet. Wenn ein Prokofjew eine Heroisierung à la "Geschichte vom wahren Menschen" schreibt, ist das für einen denkenden Menschen in meinen Augen schon eher peinlich.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    In Großbritannien war der von Britten im "War Requiem" vertonte Wilfred Owen ein Antikriegslyriker; der Dichter Siegfried Sassoon mutierte vom Kriegsverherrlicher zum Kriegsgegner.


    Bei den meisten Engländern habe ich erhebliche Zweifel, ob man sie als Antikriegslyriker sehen kann. Ich meine damit in dem Sinne, wie der Begriff "Antikrieg-" in Deutschland nach 1945 gebraucht wird. In der Regel kann man überhaupt nicht über das Phänomen diskutieren, denn die meisten haben dazu nicht mehr zu sagen als ein "Krieg ist Scheiße" und dann hören sie auch schon mit dem Denken auf. Diese Haltung ist sehr einfach und oberflächlich, aber leicht zu verteidigen, denn man ersetzt die ernsthafte Auseinandersetzung mit der gezielten Moralkeule. Schließlich: Wer ist schon ernsthaft für den Krieg? Deshalb gibt es in D auch nur noch Antikriegsfilme oder Antikriegsromane, alle anderen sind tabu.


    In anderen Ländern hat man das Denken noch nicht eingestellt. So im UK. Dort hat man nie für ein totalitäres System gekämpft und weder 1914-18 noch 1939-45 verloren. Ein anderer Ausgangspunkt also. Man darf getrost davon ausgehen, daß überzeugt Pazifisten wie Britten oder Tippett gewußt haben, was sie taten, als sie den Wehrdienst auch im Kriege ablehnten, daß sie lange darüber nachgedacht haben.


    Leute wie Owen, Sassoon und etliche andere der "lost generation" (bis heute ein fester Begriff in der englischen Literatur) haben sich meines Erachtens weniger gegen den Krieg als solchen gewandt, als vielmehr gegen die Vereinnahmung der Frontsoldaten, ihres Leidens, Sterbens und Erlebens, durch Politik und Presse zu durchsichtigen Motiven. Auch stritten sie den in der Heimat Gebliebenen überhaupt das Recht ab, das Fronterlebnis der Soldaten beurteilen zu dürfen. Die Mehrzahl waren Kriegsfreiwillige. Nahezu alle waren Frontsoldaten, d.h. sie lagen ganz vorn im Graben und haben den Krieg aus erster Hand miterlebt, oder sie waren - wie VW - im Sanitätsdienst. Jedenfalls haben sie den Krieg nicht zu Hause hinterm Ofen erlebt. Diese spezielle Art von Literatur findet sich nicht bei Zivilisten.


    Weiter wußte jeder gebildete Mensch lange vor 1914 über die Schrecken des Krieges Bescheid. Krankheiten, Elend, Verwüstungen, das Leid der Witwen und Waisen, Verwundungen, das kannte alle und alle konnten sich informieren. Nicht nur in Büchern, sondern auch anhand von Fotos, die aus dem Krimkrieg, dem Burenkrieg und dem Krieg für die Unabhängigkeit der Konföderierten Staaten in hinreichender Zahl existierten.


    Man darf davon ausgehen, daß den doch gebildeten Freiwilligen bekannt war, auf was sie sich mit ihrer Meldung einließen, auch wenn den Stellungskrieg von 1914-18 so keiner vorausgeahnt hat. Und doch haben sie sich gemeldet.


    Auch möchte ich Britten auf keinen Fall auf eine Stufe stellen mit der eingangs von mir erwähnten Persongruppe. Dazu war der Mann - nach allem was ich bisher gelesen habe - zu intelligent, zu feinfühlig, und zu gebildet. Britten war ein Gentleman und hatte Stil, und deshalb hat er Owens Verse für das War Requiem ausgesucht.

  • Lieber Edwin,


    Prokovjews "Krieg und Frieden" ist jedenfalls eine wirklich tolle Oper ( und das sage ich, der sonst Opern häufig nichts abgewinnen kann). Allerdings ist diese Oper schon reichlich patriotisch, das läßt sich nicht übersehen.


    Ich empfinde diese Oper jedenfalls nicht als ausschließlich als patriotisch oder heroisierend, wie Du das nennst, der Krieg ist schon da, etwa bei den durch die brennende Stadt Moskau laufenden Wahnsinnigen, oder beim Soldaten, der im Fieberwahn stirbt.


    Gruß Martin

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Wir sind jetzt fast bei einem Ableger des Threads mit der Musik als Propaganda. Die Qualität von Prokofjews Musik zweifle ich nicht an (obwohl mir die "Geschichte" als schwächer vorkommt als etwa der "Engel" oder "Krieg und Frieden").
    Was das Libretto macht, ist brillant: Nicht der Krieg an sich ist schlecht, sondern der von der Hitler-Armee geführte Krieg ist schlecht und hat die grauenhaftesten Auswirkungen, die entsprechend geschildert werden. Dem stellt sich ein Held der Sowjetarmee entgegen, den nicht einmal der Verlust beider Beine daran hindern kann, gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass der Held der Oper eine historische Gestalt ist. Es ist Heroisierung und meilenweit entfernt von der Klage und der Depression, die Schostakowitsch in seinen Kriegssymphonien anstimmt. (Wobei mir schon klar ist, dass man Opern und Symphonien nicht vergleichen kann - es geht nur um den Umgang mit dem Thema.)

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Wir sind jetzt fast bei einem Ableger des Threads mit der Musik als Propaganda. Die Qualität von Prokofjews Musik zweifle ich nicht an (obwohl mir die "Geschichte" als schwächer vorkommt als etwa der "Engel" oder "Krieg und Frieden").


    Lieber Edwin,


    könnte es sein, daß wir hier aneinander vorbei geredet haben? Du schreibst, die Geschichte käme Dir schwächer vor als die von "Krieg und Frieden". Wovon redest Du denn da überhaupt? Ich hatte über Krieg und Frieden geredet, Du mußt da irgend etwas verwechselt haben. Vielleicht redest Du von der "Geschichte von wahren Menschen", die kenne ich aber nicht.


    "Krieg und Frieden" betreibt allerdings Heroisierung. Das hattest Du ja auch gesagt, und es damit sozusagen gegen Schostakowitsch abgegrenzt. Ich glaube persönlich nicht, daß "Krieg und Frieden" als Propagandawerk in Frage kommt. Es ist ja ein historischer Stoff. Zwar durfte sich die sowjetische Gesellschaft mit Sicherheit in ihrem heroischen Kampf gegen den Hitlerfaschismus spiegeln. Das ist aber nicht Propaganda, sondern denke ich ein übliches Verfahren, wie Komponisten in der Sowjetunion überlebt haben, ohne allzu plumpe Propaganda zu treiben.


    Ich habe übrigens "Krieg und Frieden" in den letzten Tagen mal wieder gehört. Grandiose Oper. Allerdings sehr wohl heroisch. Und zwar - ich kann es trotz meiner Liebe zu dieser Oper nicht verleugnen - teilweise schon ein Heroismus einer sehr üblen Sorte.


    Ein Zitat aus dem "Chor der Partisanen".


    "Der Feind zertrampelt unsere Heimaterde, aber niemals wird er die russische Kraft brechen. (...) Der Feind wird zerstört, der schwarze Feind wird zerstört. Raben und Wölfe werden die einzigen sein, die um ihn trauern. Sie werden nichts übrige lassen und wir werden ihre Knochen zerstreuen."


    Der Feind in dieser Oper sind übrigens die napoleonischen Armeen. Es entbehrt für mich nicht einer gewissen Pikanterie, daß auf meiner Aufnahme ( der mit Rostropowitsch am Dirigentenpult), solche wunderbaren "patriotischen" Gesängen von einem französischen Chor und Orchester hingebungsvoll dargeboten werden.


    Ich bin mir ziemlich sicher, ein Schostakowitsch hätte im Leben nicht solchen pietätlos sadistischen "Heldengesängen" seine Musik verliehen. Prokovjew allerdings tut es, und er tut es teilweise mit aufpeitschender Musik. Sehr problematisch. Aber die Musik ist teilweise hervorragend.


    Allerdings, der erste Teil der Oper ist nicht nur wunderbar, sondern in dieser Hinsicht auch unproblematisch. Schließlich spielt er im Frieden.


    Gruß Martin

  • Zitat

    Vielleicht redest Du von der "Geschichte von wahren Menschen"


    Das kommt davon, wenn die eine Oper gerade auf der CD-Anlage läuft, während man versucht, zur anderen etwas Vernünftiges zu Internet zu bringen.
    Du hast natürlich recht: Ich meinte mit der schwächeren Oper "Die Geschichte vom wahren Menschen" - gibt's als leidlich gute Aufnahme bei Chandos. (Identisch mit der alten Melodiya-Aufnahme; ich weiß nicht, ob das Werk nachher je wieder gespielt worden ist. Der einzige, dem ich das Wagnis zutrauen würde, wäre Gergiev).


    Jetzt ganz eindeutig zu "Krieg und Frieden": Prokofjew ist natürlich ein großartiger Melodiker, und diese Oper ist wirklich ein Äquivalent zu Tolstojs Roman: Weit ausgreifend, teilweise episodisch, mit immer neuen Brennpunkten. Wenn man will: Ein ungeschlachter Koloss. Oder: Eine grandiose Roman-Oper mit allen Höhen und Tiefen, die solch ein Unternehmen mit sich bringt.


    Es ist aber eines ganz klar: Es ist politische Kriegsverherrlichung. Der zweite Weltkrieg heißt in Russland nur "der große vaterländische Krieg". Stalins Verdienst, sich quasi an der Spitze des russischen Volkes Hitler entgegengestellt zu haben, wird auch heute kaum hinterfragt. (Umso mehr musste Schostakowitschs "Achte" mit ihrer hemmungslosen, unstillbaren Trauer als Verrat wirken.) Stalin sah sich als neuer Kutusow - und dementsprechend hat Prokofjew, dem Schostakowitschs Gabe für Verschlüsselung und Satire fehlte, komponiert. Tolstojs Roman ist zwar ebenfalls nicht unpatriotisch, aber Prokofjew verschiebt die Akzente eindeutig zugunsten der "Haupt- und Staatsaktion".


    Dennoch (da ich Pazifist bin, ganz leise geflüstert): Aber was für ein Werk, was für ein Werk...!

    ...