Interpretation von Werken

  • Ich habe hier schon oft gelesen, dass jemand schreibt, dass diese oder jene Interpretation zu einer bestimmten Zeit das Non-Plus-Ultra war und es jetzt aber nicht mehr ist. In bezug auf J. S. Bach sagt der eine oder andere häufig, dass zum Beispiel Rilling-Einspielungen jetzt "veraltet" seien oder überholt, und dass Richter-Aufnahmen jetzt angemessener seien. Wie ist das zu verstehen?


    Mir ist bewusst, dass es verschiedene Arten gibt, ein Werk zu interpretieren, doch woran macht Ihr fest, dass eine bestimmte Aufnahme zu einer bestimmten Zeit ihre Berechtigung hatte und sie nun verloren hat?


    Mignon

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Hallo Mignon,


    grundsätzlich vorweg möchte ich sagen, dass ich persönlich nichts davon halte, Aufnahmen in irgendeiner Form ihre Berechtigung abzusprechen. Wie man hier im Forum schnell liest, gibt es zu sechs Einspielungen auch sechs verschiedene Meinungen. Wenn ich also mit Einspielung X glücklich bin, ein zweiter aber mit Version Y und den dritten Lesart Z in Wallung bringt, dann haben alle drei ihre Berechtigung, ganz egal was viele "objektiv" zu bestimmten Interpretationen sagen. Die Rezeption von Kunst ist immer noch eine höchst subjektive. Insofern entnehme ich dem Forum höchstens Anregungen, aber keine Aufforderungen.


    Stichwort Berechtigung: Ist es denn überhaupt noch berechtigt, dass, sagen wir mal übernächste Woche Dirigent B. die 55. Version Schuberts "Großer" veröffentlicht? Braucht die Welt eine weitere CD mit den Goldberg-Variationen vom Gewinner des Klavier-Wettbewerbs in O.? Manchmal hänge ich dem ketzerischen Wunsch nach, die Produktion solcher Tonträger auf der Stelle zu untersagen (es gibt einfach genug!) und die Firmen und Interpreten zu verpflichten, sich dem Zeitgenössischen, jetzt Realen zu widmen - wie es bis Mendelssohn der Fall war - und nicht zum musealen Führer durch die Musikgeschichte zu werden.


    Dann aber verwerfe ich solche Gedanken wieder, da mir oft wieder klar wird, dass die wenigsten ausgewiesene Spezialisten wie die Forianer hier sind, sondern eher solche, die gerade dieses hochgehaltene Spezialistentum abschreckt. Und gerade solche Menschen, besonders junge, finden leichter Zugang zur Musik durch immer wieder neue Identifikationsfiguren. Ich kenne Leute, die durch Hilary Hahn zum ersten Mal das Mendelssohnsche Violinkonzert gehört haben oder durch Martin Stadtfeld zum ersten Mal Bachsche Klaviermusik. Also haben die doch eine Berechtigung, ohne dass ich gleich dazwischenschreien muss: Das gibt's aber von XY aus dem Jahre 1955 viel besser!!


    Also lass dich von Leuten, die sagen was berechtigt ist und was nicht, auf keinen Fall beirren, sondern höre (und schaue!) das, was dir persönlich am nahesten geht und was dich berührt! Du wirst sehen, mit offenen Ohren ändert sich das automatisch eh in immerwährendem Fluss.


    Gruß
    B.

  • Hallo Mignon,
    gemeint ist dabei u. a., daß die Herangehensweise an ein Werk und dessen Interpretation wie vieles andere auch dem "Zeitgeschmack" unterliegt.
    Und unter diesem Aspekt empfindet der eine oder andere halt bestimmte Interpretationen als nicht mehr "zeitgemäß".
    Ansonsten bin ich auch der Meinung von Barbirolli. Wenn mir eine bestimmte Interpretation gefällt, so lasse ich sie mir normalerweise nicht vermiesen, nur weil alle anderen sie nicht so toll finden.


    Viele Grüße
    Reinhard

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo Reinhard, Barbirolli und mignon,


    Euren Worten möchte ich mich anschließen.


    Doch kann es auch vorkommen, das man jahrelang "seine" Interpretation gefunden hat und dann durch Empfehung oder Besprechung einer anderen Aufnahme (zum Beispiel auch in diesem Forum) neugierig auf diese andere Aufnahme wird, diese kauft, hört und total begeistert ist.


    :] So ging es mir erst kürzlich mit der Berlioz: Sinfonie fantastique, die ich mit Solti/CSO-Decca als beste Aufnahme jahrelang einschätzte - die hier besprochene Bernstein/NewYorker PH-Aufnahme CBS1984 setzt aber höhere Maßstäbe und wurde zu meinem neuen Favorit.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo


    Aus meiner Sicht wird hier an der Frage vorbeigeantwortet (wenngleich interessant)
    Barbirollis "Zwangsbeglückung" mit zeitgenössischer Musik lässt mich schaudern, und zeigt wir gut es war diese Musik im Zaum zu halten. :baeh01: (Ich weiß da kommt Widerspruch - Aber dieses Theme bitte in einem gesonderten Thread)


    Zum Thema und zur Frage wie ich sie sehe.


    Auch "Klassische Musik" unterliegt der Mode, nehmen wir mal Mozart, Bach und Vivaldi.


    Die Interpretation von Mozart-Werken unterlag seit ihrem Entstehen immer wieder Schwankungen: Einerseits Desinteresse - andererseit Überhöhung und Überbewertung.
    Zudem gab es immer wieder einen Wandel in der Sicht wie denn Mozart beispielsweise zu interpretieren sei.
    Ich erinnere mich an die Böhm-Ära, die Mozart elegant, ausgewogen und majestätisch gesehen haben wollte mit besonderem Schwerpunkt auf "Schönheit" Der Klang war füllig aber nicht dick.
    Dann gab es eine Ära wo man auf extreme Durchhörbarkeit setzte -man setzte Kammerorchjester ein - etwa Neville Marriner und seine Academy of St. Martin in the Fields. Klemperer wieder setzte Mozart in Beethovennähe. Die Wiener Pianistin Ingrid Haebler spielet einen rokokohaften filigranen Mozart, der heute als "überholt galt",der Künstlerin jedoch, als die Künstlerin ihren künstlerischen Zenith erreicht hatte, ein Standard war.Die Philips sah das auch so und nahm etliches für die Schallplatte auf. Von einem Alfred Brendel sprachen damals bestenfalls insider.


    Ob man Bachs Klavierwerke auf Cembalo, modernem Konzertflügel, oder auf Orgel spielen soll, darüber wird heut noch überall diskutiert, aber auch über Freiheiten in Bezug auf Verzierung hatte man zu jeder Zeit eine andere Meinung.


    Vivaldi - als ich fünfzehn war kannte man bestenfalls Die "Vier Jahreszeiten" und ein gutes Dutzend weiterer Konzerte. Diese wurden von "normalen" Orchestern aufgeführt, teilweise in gemessenem Tempo, wie es eben dem Barock angemessen erschien. Mit Einführung der Mode, Musik auf "Originalinstrumenten" und deren Nachbauten zu spielen kamen andere ästetische Maßstäbe ins Spiel. Anfangs klang alles ein wenig qietschend und schräg,was man auf die Intrumente zurückführte. Im Laufe der Zeit stellte es sich aber haraus, daß dies am Unvermögen der Musiker jener Zeit lag, die alten Intrumente ädiquat zu bespielen. Die nächste Generation bewies, daß man auch alten Intrumene hervorragenden Klang entlocken kann. Zugleich wurde behauptet, Vivaldis Musik sei "schmissig und quirlig" zu spielen. Das Ensemble "Il Giardino armonico" bewies übezeugend wie lebensfroh Vivaldi Klingen kann (Ich LIEBE diese Aufnahmen !!) ertfernte sich aber aus meiner Sicht doch ein wenig vom Original. Andee Ensembles griffen diesen Ansatz auf - aber schaumgebremst. Näheres in den entsprechend Threads.


    Ich gehe wiederun konform mit Barbirolli, daß man Interpretationen nicht als "nicht mehr aktuell" verteufeln sollte.
    Aus meiner Sicht ist jede Interpretation ein Spiegel der Zeit, in welcher sie entstand- ein Stück Musikgeschichte - einzigartig und unersetzlich.


    Wäre dem nicht so - jegliche Schallaufzeichnung wäre überflüssig..


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Vielleicht geht die (künstlerische) "Berechtigung" einer Aufnahme dadurch verloren, dass sie neueren Erkenntnissen der Musikwissenschaft widerspricht?


    Wenn man beispielsweise heute weiß, dass Bach´s Kantaten mit sehr kleinem Orchester und Chor aufgeführt wurde - müsste man dann einer Neuaufnahme die Berechtigung absprechen, die trotzdem noch mit einer riesigen Besetzung arbeitet wie in den Sechzigern? Unter dem Gesichtspunkt der Werktreue muss man das wohl so sehen, oder? Und was ist dann mit den alten Aufnahmen: Sind sie nur noch als Teil der Rezeptionsgeschichte interessant? Es könnte natürlich auch sein, dass die neueren Aufnahmen zwar im Hinblick auf die Besetzung "werktreuer" sind, dafür aber in anderer Hinsicht nicht, weil ihnen vor lauter "Durchhörbarkeit" eine bestimmte Tiefe fehlt zum Beispiel, die eben auch dazugehört.


    Aber vielleicht ist die Sache mit der Werktreue ja ohnehin nur ein Phantom, eine Fata Morgana, hinter der die jeweils aktuelle Auffassung eines Werks sich versteckt, weil sie nicht zugeben will, dass auch sie letztlich mehr über die eigene Zeit aussagt als den Interpreten lieb ist. Dynamisch, schlank, flexibel, schnell - klingt das nicht eher nach modernem Fitnessstudio als nach Bachs Matthäus-Passion? Und dabei gehöre ich selber zu denen, die die Behäbigkeit mancher Rilling-Aufnahmen aus den Siebzigern nicht mehr als angemessen empfinden.


    Ein paar unfertige Gedanken von


    Carola :hello:

  • Hallo Carola


    Zitat

    Wenn man beispielsweise heute weiß, dass Bach´s Kantaten mit sehr kleinem Orchester und Chor aufgeführt wurde - müsste man dann einer Neuaufnahme die Berechtigung absprechen, die trotzdem noch mit einer riesigen Besetzung arbeitet wie in den Sechzigern? Unter dem Gesichtspunkt der Werktreue muss man das wohl so sehen, oder?


    Man kann, muss aber nicht. Sicherlich ist es so, dass zusätzliche Erkenntnisse der Musikwissenschaft die aktuellen Interpretationen beeinflussen und auch beeinflussen sollen. Das Negieren neuer Erkenntnisse bringt uns nicht weiter. Aber neue Erkenntnisse müssen nicht immer eindeutig sein.


    Dass Bachs Kantaten mit sehr kleinem Orchester und Chor aufgeführt wurden, könnte auch durch restriktive Randbedingungen völlig entgegen Bachs eigenen Idealvorstellungen geschehen sein.


    Es gibt einen Brief Mozarts - Ulli kann sicherlich die präzisen Daten nachliefern - wo er über die Aufführung einer eigenen Symphonie schreibt. Seine Symphonien sind sehr sparsam instrumentiert und man spielt sie heute gerne mit den "passenden" kleinen Orchestern und rümpft die Nase, wenn die Berliner oder Wiener Philharmoniker in Vollbesetzung antreten. Mozart hatte damals bei einem Konzert an die 50 Streicher im Einsatz und war selig! Kein Dirigent würde sich das heute getrauen.


    Was stimmt also?

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo,


    wenn heutzutage ein Interpret mit dem Anspruch Werktreue antritt, drängt sich zunächst die Vermutung auf, daß dies im Sinne eines "Alles oder Nichts" wohl kaum realisierbar sein dürfte. Natürlich können wir Besetzungsstärken reduzieren, können historische Instrumente verwenden, können historische Örtlichkeiten bevorzugen uvm. Authentizität im Sinne einer eins-zu-eins-Darstellung wird sich als unmöglich darstellen, zumal wir, wenn entsprechende Quellen, wie Briefe und dergleichen nicht vorhanden sind, nur Vermutungen darüber anstellen können, was der Komponist sich abseits aller Beschränkungen in personeller und finanzieller Hinsicht, denn tatsächlich gewünscht hat. Insoweit kann es immer nur darum gehen, sich historisch informiert, d.h. im Bewußtsein der Quellenlage, dem Werk zu nähern. Insoweit ist dann Interpretation auch möglich und geradezu geboten, denn es geht mE immer um eine Auseinandersetzung mit dem Werk, die eine lebendige und schlüssige, ggf. historisch fundierte Aufführung ermöglicht.


    Fazit: Musik ist relativ, Dogmen sind der Tod der Musik.


    Gruß


    tom

  • Zitat

    Original von tom
    Fazit: Musik ist relativ, Dogmen sind der Tod der Musik.


    Besser kann man es nicht ausdrücken!


    Ein musikalisches Werk gewinnt meines Erachtens nach seiner Erschaffung durch den Komponisten ein Eigenleben durch Interpretation (Musiker) und Rezeption (Publikum). Musik hat nichts mit exakter Wissenschaft zu tun, es gibt keine falsche oder richtige Interpretation. Ebensowenig gibt es "überholte" Interpretationen. Alt und neu sind keine relevanten Kriterien in diesem Zusammenhang.


    Es gibt nur "andere" Interpretationen, andere Ansätze. Diese mögen musikhistorisch besser belegt sein, sie mögen den Zuhörer mehr ansprechen, aber das hat mit dem künstlerischen Anspruch einer Interpretation nichts zu tun. Mengelbergs nach heutigen Maßstäben hoffnungslos romantische Darstellung von Bachs Matthäuspassion wird nicht falsch, nur weil Gardiner und Co. sie heute ganz anders aufführen. Das gleiche gilt für Furtwänglers Beethoven.


    Eine bestimmte Aufnahme kann zu einer bestimmten Zeit populärer sein als heute, aber sie kann IMHO nie ihre Berechtigung verlieren.

  • Hallo Alfred!


    Zitat

    ...zeitgenössischer Musik...


    Ach was, Widerspruch. Zuerst bitte ich um eine Definition. Ich weiß nur, was ich darunter verstehe. Aber Du? - Ich denke, bei Dir wird da wohl Wagner und Bruckner gemeint sein? Und der "Rosenkavalier"-Walzer ist dann wohl Avantgarde... :baeh01:


    Und nach dieser Einlage bitte wieder seriös weiterdiskutieren.

    ...

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  • Zitat

    Original von Theophilus


    Es gibt einen Brief Mozarts - Ulli kann sicherlich die präzisen Daten nachliefern - wo er über die Aufführung einer eigenen Symphonie schreibt.


    Salut,


    meinstest Du das?


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Es gibt nur "andere" Interpretationen, andere Ansätze. Diese mögen musikhistorisch besser belegt sein, sie mögen den Zuhörer mehr ansprechen, aber das hat mit dem künstlerischen Anspruch einer Interpretation nichts zu tun.


    Eine bestimmte Aufnahme kann zu einer bestimmten Zeit populärer sein als heute, aber sie kann IMHO nie ihre Berechtigung verlieren.


    Eben! So sehe ich das auch. Wissen wir denn wirklich immer, wie der Komponist es hören wollte? Oder ob er er vielleicht durch materielle Zwänge nicht frei seine Vorstellungen umsetzen konnte? Theophilus hat diesen Aspekt angesprochen.


    Wenn ich ein hoffnungsloser Romantiker bin :yes: , dann wird mir halt eine Mengelbergsche Matthäus-Passion eben den Genuß geben, den ich mir wünsche. Und Bach würde es kaum bekümmern...


    Warum wird z.B. ein Dirigent versuchen, ein Werk ganz neu und ganz anders aufzuführen? Da gibt es viele edle und weniger edle Gründe.
    Im Idealfall ist er überzeugt, mit seiner Lesart die Intention des Komponisten am besten zu treffen (ich hoffe für uns, das ist der häufigste Grund) =)
    Vielleicht will er nur provozieren? Diskussion anregen? Auch das kann ich gelten lassen.
    Vielleicht will er sich nur profilieren? Auffallen, nur um ins Gerede zu kommen? X(
    Vielleicht hat ihm seine Plattenfirma gesagt, daß nun gerade HIP oder sonst eine Strömung "voll angesagt" ist? :motz:


    Solange sorgsam mit dem Werk umgegangen wird, kann ich zumindest vieles akzeptieren, aber ich nehme mir die Freiheit - ich sagte es schon - das mir der Zeitgeist ziemlich schnuppe ist :baeh01:


    Einen schönen Abend noch wünscht Euch
    Reinhard:hello:

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Wir müssen uns stets vor Augen halten, daß die sogenanntent "modernen" Aufführungen, die nicht "werkgetreu" waren, immerin dem Bestreben entstanden das Werk für die jeweilige Gegenwart kompatibel zu machen. Man empfasnd das Pianoforte gegenüber dem Cembalo als Fortschritt, den modernen Konzertflügel ebenso. Kein Mensch zweifelte über 2 Jahrhunderte an, das dies recht und billig war. Erst in unserer Zeit gruben Musikwissenschafter nach Details und oh Überraschung (es wurde schon weiter oben angesprochen) was rauskomt ist ein Bach und ein Mozart, ja sogar ein Beethoven, der zum 21. Jahrhundert und seinem Geschmack voll kompatibel erscheint....... :yes:


    Jede Zeit glaubt den Stein der Weisen gefunden zu haben was Interpretation betrifft. Und jede Zeit verteidigt ihr Ideal.
    Besonders skurill mutet mit derzeit die Opernszene an: Einerseits wird da (angeblich !!!) im Stile der 17. und 18 Jahrhunderts musiziert, zugleich werden Inszenierungen angeboten (oder besser gesagt aufgezwungen) die zumeist eine totale Verfremdung des Stückes bedeuten - unter Ausserachtlassung sämlicher historischen Bezüge.
    Ich habe über dieses Therma schon an anderer Stelle geschrieben - hier sei es bloß als Beispiel genann, wie man eigentlich ALLEs begründen und untermauern kann - wenn man will


    LG


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Im Grunde ist schon das meiste gesagt worden, bei Bach wird das ja ganz besonders streng genommen weil ihn jeder irgendwie für sich beansprucht.... naja worauf es mir eigentlich ankommt ist eine Annäherung an das Original.


    Das ist natürlich vollkommen unmöglich - aber man kann es ja versuchen.


    Ob es allerdings immer so optimal ist die damaligen Gegebenheiten zu rekonstruieren - das wage ich zu bezweifeln.
    Denn gerade was alte Opern anbelangt ging of das ganze Budget für die Sänger drauf, so dass man ein paar Instrumente im Graben hatte - sowas brauch ich persönlich nicht.....


    Ob nun Bach mit 20 Mann gesungen hat oder mit 30 halte ich jetzt auch nicht für so unendlich wichtig.


    Ich denke jede Interpretation ist auch eine Form des künstlerischen Ausdrucks - man muß halt selbst die Künstler finden, die am Besten zu einem passen.


    Ich persönlich liebe den Klang der originalen Instrumente, und ich finde es grausam Lautenwerke auf einer Gitarre hören zu müssen, oder Gambenwerke auf einem Cello.
    Ich habe das auch mal eine Zeitlang dogmatisch gesehen und nichts anderes gelten lassen, aber irgendwie haben auch Cembalowerke auf dem Piano ihren Reiz - aber ich finde dennoch dass sie dadurch manchmal etwas verlieren.


    Die historische Aufführungspraxis ist unumgänglich sobald man die 1700 Marke überschreitet. Mag alles noch ganz annehmbar klingen wenn es sich um Musik des 18. Jahrhunderts handelt, so hört das hier endgültig auf.


    Ich denke das Msuiker die sich hauptsächlich mit dieser alten Musik beschäftigen auch ein besseres Gespür dafür haben wie diese Musik klingen kann, soll oder muß.
    Ich denke ein H.v.K. wäre mit einer Lully Partitur vollkommen überfordert gewesen - hätte er sich dafür mal interessiert.....
    Aber seine Bach Aufnahmen empfinde ich als grausam - anderes wiederrum nicht.


    Und gerade solche Erkenntnisse wie die Tempi der Tänze anhand der Tanzschriften festzumachen war ein ganz entscheidender Schritt.


    Es ist wie eine Forschungsarbeit, neue Erkenntnisse bringen eine neue Sicht auf die Dinge - jetzt beginnt man damit bei Lully Werken das alte Französisch zu singen - das Ergebnis ist phänomenal - die Poesie fügt sich nochbesser mit der Musik zusammen.
    Das sind zwar nur Details die aber im Gesamtbild unheimlich viel ausmachen.

  • Salut,


    ich frage mich gerade, ob die Verwendung historischer Instrumente überhaupt als "Interpretation" gelten kann!? Dient das nicht eher der Wahrheitsfindung? Ist Interpretation Wahrheitsfindung oder Geschmack?


    Ich meine [fast], daß es eine [unsichtbare] Grenze zwischen der sog. Historisch informierten Aufführungspraxis [HIP] und einer Interpretation gibt. Auch HIP-Einspielungen können doch durchaus unterschiedlichen Interpretationen "unterliegen"!?


    Manchmal frage ich mich auch, ob das - was ich da gerade höre - überhaupt eine [bewußte] Interpretation, oder gar nur [glücklicher oder weniger glücklicher] Zufall ist.


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Sagitt meint:


    Sagt nicht der Statthalter: was ist Wahrheit ? Wie wollte man feststellen ? Und selbst dann, wenn man es hören kann, Rachmaninov spielt seine eigenen Werke, ist das dann die Wahrheit ? Das ist die Auffassung von Rachmaninov, aber die Wahrheit des Kunstwerks ? Ist diese mit der Auffassung des schaffenden Künstlers identisch ?
    Und dann ?
    Was heisst denn historisch ? Wir hören sicher nicht wie ein Mensch des Jahres 1739 oder 1784 oder 1806 oder 1894 oder....
    Der kulturelle Hintergrund hat sich verändert,unsere Hör-Erfahrungen auch.
    Wahrheit ?
    Welche, die von 1739 ? war die identisch mit derjenigen des Jahres 1727 ?
    Bach hatte inzwischen Jahre der Kränkung in Leipzig erlebt. Hat ihn das beeinflusst ?


    Ich glaube, wir suchen nach einer Objektivität, die es nicht gibt ( vielleicht leiden daran manche) und müssen unsere jeweiligen Kosmen übersetzen, das andere sagen können, aha, so ist das gemeint ( Wittgenstein schrieb mal was zur Schwierigkeiten,über Schmerz zu kommunizieren) .


    Ist es mit Musik so ganz anders ?

  • Zitat

    Ich habe das auch mal eine Zeitlang dogmatisch gesehen und nichts anderes gelten lassen, aber irgendwie haben auch Cembalowerke auf dem Piano ihren Reiz - aber ich finde dennoch dass sie dadurch manchmal etwas verlieren.


    oh danke schön! ich hab so viel Freude an Couperin und Co.
    :)

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Vielen Dank für Eure Antworten!


    Ich habe noch ein paar Fragen zur historischen Aufführungspraxis.


    Wurde von den Komponisten festgelegt, wie groß z.B. der Chor sein sollte, der ein Werk singen sollte?


    Ich habe z.B. im Schulchor mitgesungen (der riesig war; ein Drittel der Schüler war Mitglied, ca. 200 Singende), mit dem wir u. a. die Schöpfung aufgeführt haben (Solisten haben wir natürlich engagiert). Der Chor war so groß, wie Schüler sich gemeldet haben, ob dies werkgetreu war oder nicht, spielte keine Rolle. Wenn heute oder vor 30 Jahren jemand eine Einspielung vornimmt, nimmt er nicht den Chor, der ihm am besten erscheint (im Sinne von Qualität) oder achtet er auch darauf, wie groß der Chor ist?


    Hat z. B. die Gächinger Kantorei bewusst so viele Mitglieder wie sie hat, oder ist dies ein Zufallsprodukt, aus den gerade zur Verfügung stehenden Sängern?


    Liegt es nicht oft einfach an den Dirigenten (an deren Naturell), wie ein Stück eingespielt wird? Wird ein Stück vielleicht unbewusst lebhafter oder ruhiger, ohne dass dies eine bewusste Entscheidung war. (Wer historische Instrumente benutzt, entscheidet sich natürlich explizit.)


    Eine Achtel-Note ist schließlich eine Achtel-Note...


    Versteht Ihr, was ich meine?


    Liebe Grüße


    Mignon

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Zitat

    Original von Mignon


    Wurde von den Komponisten festgelegt, wie groß z.B. der Chor sein sollte, der ein Werk singen sollte?


    Salut,


    in der Regel [der Wiener Klassik] war es eher umgekehrt: Der komponist richtete sich nach den örtlichen Gegebenheiten. Diese versucht man heute nachzuvollziehen und als das non plus ultra darzustellen. Ob der Komponist aber im Geiste eine andere Vorstellung hatte, interessiert vielleicht eher nicht. Zumal sich das ja auch in den seltensten Fällen rekonstruieren lässt.


    Die beste Werkinterpretation ist eigentlich die, die gerade gefällt.


    Ich persönlich finde derzeit [auch das ist wohl ein Zeitgeschmack] den Klang der hinstorischen Instrumente faszinierend. Man glaubt, der Zeit der Entstehung persönlich näher zu sein, als mit modernen Instrumenten.


    Ob nun der Chor aus 25 oder 250 Mitgliedern besteht, entscheidet eigentlich das Werk selbst. Hier ist es egal, ob HIP oder HOP.


    Musik ist ein Lebewesen, dass sich den jeweiligen Gegebenheiten anpasst und darin zurecht findet. Oder gegebenenfalls vernichtet wird.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Danke für die Antwort, Ulli.


    Liebe Grüße ins Elsass! :hello:


    Mignon

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

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  • Zitat


    Sagitt meint:
    Und selbst dann, wenn man es hören kann, Rachmaninov spielt seine eigenen Werke, ist das dann die Wahrheit ? Das ist die Auffassung von Rachmaninov, aber die Wahrheit des Kunstwerks ? Ist diese mit der Auffassung des schaffenden Künstlers identisch ?
    Und dann ?


    Zitat


    Ich glaube, wir suchen nach einer Objektivität, die es nicht gibt ( vielleicht leiden daran manche) und müssen unsere jeweiligen Kosmen übersetzen, das andere sagen können, aha, so ist das gemeint ( Wittgenstein schrieb mal was zur Schwierigkeiten,über Schmerz zu kommunizieren) .


    Ist es mit Musik so ganz anders ?


    sagitt:


    Dem kann ich nur beipflichten. Ich habe unlängst Brittens "Peter Grimes" einmal unter seiner eigenen Führung, zum anderen mal unter Colin Davis und dem LPO gehört. Nun, für mich ist die Davis-Aufnahme die ansprechendere. Der Sturm kam mir bei Brittens Dirigat eher wie ein laues Lüftchen vor, während man sich bei Davis nochmal versichern möchte, ob man alle Fenster geschlossen hat, so plastisch kam bei mir das ganze an. Aber wie Du meiner Meinung völlig korrekt hervorgehoben hast, unterliegt das ganze einer Subjektivität, die vielleicht manchen nicht schmeckt. Hörgewohnheiten sind da maßgebliche Einflußfaktoren. Vielleicht war für Britten seine eigene Interpretation Sturm genug, für mich und meine Hörgewohnheiten, nun ja... bei Rachmaninov liegt der Fall etwas anders. Hier sind die Tempi der Stein des Anstoßes. Ungelogen kann dort ein Längenunterschied von 5 min innerhalb eines Satzes vorkommen (Rachmaninov ist 5 min schneller als Agerich, 3. KK, 1.Satz - wenn ich mich recht erinnere). Hier macht die Frage nach zeitgebundener Interpretation schon mehr Sinn, denn Rachmaninov sträubte sich (angeblich) gegen die Verkitschung in seiner Musik, die heute häufig anzutreffen ist. Hört man seine Original-Aufnahmen, fehlt jede Spur von Kitsch (zumindest für meine Ohren - wobei Kitsch auch nicht immer negativ zu bewerten ist!!). Aber da Rachm nun mal in Hollywood zu Hause war, darf es keine wundern, dass die Interpretationsgeschichte ihr übriges getan hat. Sagitt, Wittgenstein war ein kluger Mensch, und ich denke, mit der Musik ist es wirklich nicht viel anders.


    Mignon:


    Auch ich stimme den bisherigen Beiträgen zu und empfehle Dir dringlichst wie es unsere auflagenstärkste "Zeitung" tut): Bild Dir Deine eigene Meinung.


    Ein vielleicht gesonderter Fall ist das Erscheinen von neuen Urtext-Ausgaben, die auf Fehler in Standard-Ausgaben (Breitkopf&Härtel) aufmerksam machen, die hundert Jahre lang zu fehlerhaften Aufführungen geführt haben. Vor allem im Fall Beethoven wurden wohl nachträglich viele Halte -ud Bindebögen nachträglich eingeführt, die vom Komponisten nicht vorgesehen waren. Besonders hat sich heir der Bärenreiter-verlag hervorgetan, denn er macht sich die Mühe die Unterschiede seiner neuen Urtext-Ausgabe zu den bisherigen Standard-Ausgaben zu kennzeichnen und gilt als besonders interpretenfreundlich.
    Ein hochgelobte Aufnahme, welche die neue Bärenreiter-Edition zur Grundlage nimmt, ist diejenige unter David Zinman und dem Tonhalle Orchester Zürich. Besonderes entdeckt man hier in der 7. Sinfonie, 2.Satz: ungewohnt schnelle Tempi, so wie es im Urtext verzeichnet ist. Viele nbachfolgende Dirgenten waren der Ansicht, dass Beethoven sich mit dem Tempo quasi verschätzt hat. Zinman steht da auf dem Standpunkt: Beethoven war zwar bereits taub, aber nicht blöd.
    Eine für mich mustergültige (dennoch sehr gewöhnungsbedürftige Interpretation). Mit dieser erschließt sich mir dann auch der Ausspruch Wagners über diese Sinfonie: "Sie ist eine Apotheose des Tanzes", den ich bei bisherigen Interpretationen nicht nachvollziehen konnte.


    LG
    Wulf.

  • Vorsicht, Rachmaninow spielt das 3. Konzert mit einigen Strichen und ist deshalb schneller!!
    kann zur zeit keine Deiteils liefern, habe die Aufnahme erst zweimal gehört und nur festgestellt, daß teile fehlen!

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Hallo tastenwolf,


    danke für den Hinweis, da müßte ich nochmal genauer hinhören.
    Insgesamt sind die Tempi aber schon angezogen im vergleich zu den meisten heutigen heutigen Aufnahmen.


    LG
    Wulf