Der Nachahmungstrieb oder die Modernität als Masche

  • Da ich im Thread über die Musik des 20. Jahrhunderts nicht mehr erwünscht bin, mache ich hier meinen eigenen Thread auf ( das wird man doch wohl noch dürfen).


    Das Threadthema handelt vom Nachahmungstrieb. Ich glaube nun und behaupte einfach mal, daß die Moderne viel mit dem Nachahmungstrieb zu tun hat. Das Moderne ist immer nachgeahmt worden. Also zum Beispiel Strawinskis "Le sacre de printempts" ist nicht nur hoch berühmt sondern auch hochmodern. Das fand dann der Prokovjew auch und dachte: Son Ding muß ich auch mal raus hauen. Schrieb dann die Skythische Suite. Na ja, das war nun Prokovjews Antwort auf "Le Sacre de Printemps", wahrscheinlich dann noch moderner und kühner als das Orignal. Aber offen gesagt: Wer kennt, schätzt und liebt schon Prokowjews Nachahmung von Strawinskis "Le sacre".


    Edwin sagte auch ( im anderen Thread), daß ich Aleatorik grundsätzlich ablehne. Tue ich das? Da wäre ich nicht so sicher. Ist nicht die Schlagzeugimprovasition in Carl Nielsens 5. Sinfonie auch Aleatorik? Irgendwie doch wohl schon, und mir gefällts hervorragend. Aber die Modernen, die nicht mehr die klassischen Modernen sein wollen, die wollen halt "auch son Ding raus hauhen" - und das ist es halt, daran scheiterts halt, es ist Nachahmungstrieb und daran scheitert es. Die Moderne äfft die klassische Moderne nach und versucht sie zu überbieten - und das ist eben das, was ich an der Moderne so sterbenslangweilig finde. Ich könnte jetzt noch so manches nachschieben, von dem kühnen Dissonanzen in Mahlers 10. über Charles Ives bis zu Alban Berg, aber ich lasse ich es vorläufig mal. Da dies "mein" Thread ist, werde ich hoffentlich noch zu Wort kommen.


    Gruß Martin

  • Aber ist es so nicht die gesamte Musikgeschichte ( Kunstgeschichte ) hindurch gemacht worden ?


    ?(


    Es gibt niemanden der aus dem Stehgreif irgend etwas gänzlich neues erfunden hätte - durch die Nachahmung bestehender Formen entwickelt sich seit über 2000 Jahren die gesamte Kunst.


    Es gibt nur eine Ausnahme: die Gotik, der einzige wirkliche inovative Baustil, abgesehen von dem was in der Antike passierte.
    Aber ob es nun die Oper, die Symphonie oder sonstwas ist, es ist nur eine Weiterführung des bisher dagewesenen, was sich durch kleinere Inovationen weiterentwickelte.

  • Zitat

    Original von der Lullist
    Aber ist es so nicht die gesamte Musikgeschichte ( Kunstgeschichte ) hindurch gemacht worden ?


    ?(


    Es gibt niemanden der aus dem Stehgreif irgend etwas gänzlich neues erfunden hätte - durch die Nachahmung bestehender Formen entwickelt sich seit über 2000 Jahren die gesamte Kunst.


    Jedenfalls sind die Ausnahmen sehr wenige (der von Kurzstückmeister genannte Dadaismus dürfte auch so eine sein).
    Ich sehe hier eher eine der typischen Strategien, die man einschlägt, wenn man nicht gut begründen kann, warum man etwas nicht mag, aber unbedingt mehr sagen will, als dass einem x nicht gefällt.
    Witzigerweise kommen die meisten der dann angebrachten Klischees abwechselnd oder gar gleichzeitig mit ihrem Gegenteil vor:


    - abgehobene art pour l'art im Elfenbeinturm (Das sagt mir nichts)
    - Kunst im Dienste einer (nicht geschätzten) politischen oder weltanschaulichen Haltung (das will mich irgendwie unangenehm treffen)
    - Epigonentum, Nachahmerei
    - zu radikale Innovation
    - zu komplex
    - zu einfach (das Gekrakel, das kann mein Enkel auch)
    - zu formalistisch, zu technisch (Kopfgeburten, Reißbrettmusik), nicht emotional genug
    - zu chaotisch, zu unstrukturiert, zu emotional
    - will nur provozieren
    - will sich nur (einer bestimmten nicht geschätzten Gruppe) anbiedern
    - zu elitär (s. 1. Punkt)
    - nicht elitär genug
    ...


    usw.


    Ich glaube, diese Klischees hat jeder schon gehört oder selbst benutzt; offensichtlich sagen sie meistens sehr viel mehr über die Defizite dessen, der sie äußert, als über die so beurteilte Kunst...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo martin,


    ich glaube nicht das die aus heutiger Sicht bezeichnete "Moderne" oder Klassische Moderne" mehr oder weniger Nachahmungstrieb hat als zu jeder anderen Zeit in der Musikgeschichte.
    Ich würde das auch nicht mit dem Wort "Nachahmungstrieb" mit seinem negativen Beigeschmack umschreiben, sondern als "Vorbildfunktion".
    Jeder Komponist hat zu jeder Zeit seine Vorbilder gehabt und diese Erkenntnisse in sein Werk umgesetzt. Das ist ganz normal eine normale Entwicklung und überhaupt nicht als verwerflich anzusehen.


    Dein Beispiel mit Prokofieff´s Ala und Lolly = Skythische Suite hatte sicher auch eine gewisse Vorbildfunktion gehabt, aber Prokofieff wollte damit keinen 2.Sacre schreiben. Außerdem hatte Prokofieff bei Bartok noch weitere Vorbildfunktionen zur Verfügung.
    Ala und Lolly wird in der Bernstein-Aufnahme auf CBS/SONY von mir ganz besonders geschätzt - eine Verbindung zum Sacre habe ich nie gesehen, eher den Zeitgeschmack, der ähnliche Züge aufweist.


    ;) Du hast diesen Thread geöffnet, weil Du mit Deiner Bemerkung im Thread "Afraid...." nicht gerade auf fruchtbaren Boden getroffen bist.
    In so einem Fall schreibe ich "nichts" !
    Ein neuer Thread für "KLASSISCHGE MODERNE" wäre schon angebracht, da der andere Thread "Afraid...." eigendlich für Metzmachers CD-Album über Klassische Moderne gelten sollte.


    Der Anfang für einen Thread KLASSICHE MODERNE ist nur durch den Titel "Nachahmungstrieb und Modernität als Masche" IMO äußerst unglücklich gewählt, da ich nicht finde, dass diese Aussagen zutreffen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Martin!
    Niemand hat Dir einen Thread verboten. Ich habe mich nur gewundert, dass Du in einem Thread über die Musik des 20. Jahrhunderts eine Diskussion über eine essentielle Frage bezüglich der Musik des 20. Jahrhunderts abwürgen wolltest.
    Egal.
    Zu Deiner Themenstellung Nachahmungstrieb:


    1) Arnold Schönberg sagte von sich selbst, dass alles durch die Nachahmung anderer Komponisten gelernt habe.
    2) Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts versucht, diese Nachahmung zu umgehen. An die Stelle der Nachahmung tritt das konsequente Weiterdenken. So führt das Weiterdenken etwa von Messiaens "Mode de valeurs et d'intensités" zur Seriellen Musik mit der Präfixierung der Parameter. Da der Komponist durch die Präfixierung die aktuelle Kompositionsarbeit abgibt (er ist nur noch der Bleistift eines von ihm festgelegten Systems, er kann unmöglich alle sich aus der Durchführung der festgelegten Parameter ergebenden Momente vorher geplant haben), tritt der Zufall auf den Plan. Die Aleatorik ist also sowohl die Konsequenz aus der Serialität als auch die Befreiung von ihr.
    Dieser theoretische Unterbau ist notwendig, um (mit einer Ausnahme) Aleatorik als Aleatorik zu bezeichnen. Andernfalls wäre Monteverdi der Ahnherr der Aleatorik, hat er doch seinen "Ritorno" und die "Incoronazione" in einer Art Kurzschrift verfasst, die die Ausführenden mit Instrumentierung, Kadenzen, Auszierungen etc. zu versehen hatten.


    Was Nielsen in seiner tatsächlich wunderbaren 5. Symphonie mit der Trommel macht, würde ich als eine Art Improvisation, meinetwegen freie Kadenz bezeichnen, nicht als Aleatorik.


    Schon eher gefällt mir der Hinweis auf Ives - und das ist für mich die erwähnte Ausnahme: Bei ihm werden immer wieder Schichten überlagert, von denen jede in einem anderen Tempo abläuft. Das ist eine geniale Frühform der Aleatorik, eigentlich aus der "Natur" abgeleitet (Ives begeisterte sich, wenn im Park an verschiedenen Stellen Kapellen spielten, mitunter auch gleichzeitig, und wenn man an einer bestimmten Stelle steht, hört man alle Kapellen gleichzeitig gleich laut).


    Zitat

    Wer kennt, schätzt und liebt schon Prokofjews Nachahmung von Strawinskis "Le sacre".


    Ganz banal könnte ich jetzt drauf sagen: Ich.
    Oder noch banaler: Wer nicht?
    Ist nämlich ein tolles Werk, diese Skythische Suite. Weshalb es derzeit über zehn Aufnahmen des Werkes auf dem Markt gibt.

    ...

  • Ich komme leider esrt relativ spät dazu hier zu antworten, aber ich bin der Meinung, daß (leider) die Musik des 20. Jahrhunderts im allgemeinen WENIG Bedürfnis hat etwas nachzuahmen oderalte Traditionen zu übernehmen.


    Im Gegenteil - Es wird versucht mit der Tradition zu brechen - nach dem Motto - "Jetzt gelten neue Normen der Ästethik" - oder besser gesagt oft gar keine. Die Musik des 20, Jahrhundert sieht sich - so scheint es mir wenigstens - als Vehikel der politischen Aussage - ein Anspruch der mir schon im Ansatz widerwärtig sein muß.


    Man wird früher oder später auch andere Bezeichnungen für die Musikströmungen des 20. und 21. Jahrhunderts finden müssen.
    Klassische- Moderne- Moderne- Postmoderne- Was soll als nächstes kommen ? Modern ist Immer jene Musik die grade aktuell ist.


    Aber hier stellt sich die Frage ob die Musik des 20. Jahrhunderts je aktuell war.


    Personlich habe ich mir abgewöhnt gegen die Moderne zu polemisieren,
    solange sie nicht den "normalen" Musikbetrieb beeinträchtigt (was von einigen Vertretern der Moderne, bzw der einst so genannten Avantgarde durchaus beabsichtigt war)


    Ursprünglich vertrat ich aus Ehrilicher Überzeugung die These, daß diese Musik NIEMANDEM wirklich gefällt . - Heute weiß ich, daß es einen kleinen Kreis von Liebhabern gibt. Ab diesem Moment sehe ich mich nicht mehr legitimiert gegen diese Musik zu agitieren.


    Ich werde aber immer aggressiv, wenn jemand allen Ernstes verlangt, daß bewährte Klassikprogramm durch "Musik der Gegenwart" ersetzt werden müsse.


    Mit freundlichen Grüßen


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ich schließe mich meinen vorrednern (inkl. edwin) und deren argumenten in gänze an, mehr bleibt da nicht zu sagen und wäre m.e. überflüssig.


    generell bitte ich doch auch zu unterscheiden zwischen zeitgenössisch und modern ... der unterschied dürfte wohl bekannt sein ... 8)


    grüße

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Lieber Edwin,


    mir wird ehrlich gesagt immer unklarer, was Aleatorik eigentlich meint. Mir war der Begriff bekannt als Einführung von Zufallskriterien in die Musik. Ich habe mir dann noch mal die Beschreibung von Wikipedia angesehen, das ging in die Richtung.


    Du sagst zum Beispiel Charles Ives sein eine Frühform der Aleatorik. Das wundert mich ehrlich gesagt, aber wenn Du es sagst, wird es ja wohl stimmen. Das ist ja auch ganz faszinierend, wie sich bei Charles Ives verschiedene Schichten übereinanderlagern, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Aber führt das wirklich zu "ungeplanten Resultaten", so daß der Begriff der Aleatorik angemessen wäre? Selbst im chaotischen Kopfsatz der 4. hatte ich doch den Eindruck eines geordneten Chaos, also mit einem Wort, das klingt zwar chaotisch, ist aber doch so geplant. Sollte ich mich da so verhört haben?


    Aber im übrigen kann Charles Ives auch ein wunderbarer Melodiker sein zum Beispiel, ich hatte bei ihm immer das Gefühl musikalischer Vielschichtigkeit.


    Vielleicht ist der Titel des Threads ja auch unglücklich gewählt. Es wäre möglicherweise besser gewesen, ihn mit einem Fragezeichen zu versehen. Man kann ja sicher so argumentieren, daß in der Moderne gerade nicht viel nachgeahmt wurde, wie Alfred. Man könnte aber dagegen sicher auch einwenden, daß gerade dieser Zug zu "neuer Musik", dieser Zug zum Neuen in der Modernen Kunst an sich, doch auch schon wieder etwas ist, was "als Haltung" doch immer wieder nachgeahmt wurde.


    Für mich jedenfalls muß sich das Neue in der Kunst immer irgendwie organisch ergeben. Das gewollt neue ist mir suspekt, aber wenn ein Künstler zu neuen Ufern aufbricht, weil es ihn dort hinzieht ohne dies gewollt zu haben, so war mir diese Haltung immer sympathisch und ich lehne das Neue in der Musik dann natürlich auch nicht ab.


    Ansonsten warte ich auf meinen Lutoslawski und das wird mich vielleicht ja doch dann auch einmal wieder der Musik nach dem 2. Weltkrieg ein Stück näher bringen.


    Herzliche Grüße
    Martin

  • Lieber Martin!


    Das ist halt so, wenn Neologismen entstehen: Du weißt instinktiv, worauf sie zutreffen, aber die Definition wird schon komlizierter. ZB.: Was ist Verismo? Jetzt folgen eine Menge Definitionen, und ich bin völlig überzeugt, dass fast alle auf "Carmen" und "La traviata" zutreffen werden, nicht aber auf Puccinis "Turandot". Dennoch ist "Turandot" eine veristische Oper, "Carmen" und "Traviata" sind's hingegen nicht...


    Das Verpacken in Schubladen funktioniert in der Kunst sowieso kaum, speziell in der Musik am allerwenigsten.


    Was ist also "Aleatorik"?
    "Alea" kommt von lat. "Würfel", gemeint ist, den Zufall in die Musik einzuführen, also nicht konkret vorherbestimmte Elemente zu integrieren.
    Wenn Ives nun mehrere Schichten übereinander legt, ohne sie vertikal in genaue Relationen zueinander zu setzen, ergibt sich ein insgesamt zwar geregelter Ablauf, die Details wechseln aber von Aufführung zu Aufführung, da sich immer wieder andere vertikale Ereignisse einstellen. In anderen Werken hat Ives es den Ausführenden überlassen, ob eine bestimmte Stimme gespielt werden soll oder nicht.


    Auch die von Ives stark beeinflusste Ruth Crawford-Seeger hat noch bevor es die Aleatorik gab, Experimente mit freigestellten Besetzungen gemacht, d.h, sie komponierte alle Stimmen, stellte dann aber frei, welche davon ausgeführt werden. Der Australier Percy Grainger hat ebenfalls, wahrscheinlich ohne Ives oder Crawford-Seeger zu kennen, mit diesen offenen Besetzungen (notiert sind alle Stimmen, es ist freigestellt, welche gespielt werden und welche Instrumente dafür verwendet werden) experimentiert.


    Das kann man als frühe Formen der Aleatorik gelten lassen, weil die Komponisten bewusst ein nicht von ihnen selbst determiniertes Element einführen, und zwar als strukturelles Element, nicht als das der künstlerischen Virtuosität (wie es eine Kadenz wäre).
    Und schon stehe ich an, überlege - und muss die Bemerkung von oben ad Nielsen wieder revidieren: Das Trommel-Solo hat durchaus strukturelle Bedeutung. Weshalb es mir dennoch nicht als Frühform der Aleatorik eingehen will, kann ich nicht definieren. Eine reine Gefühlssache.


    Um aber zur echten Aleatorik in ihrer vollen Ausprägung zu kommen: Sie entsteht durch ein fast schon philosophisch zu nennendes Konzept von Cage, das von den Serialisten aufgegriffen wird zur Durchbrechung der seriellen Schreibweise. D.h., statt jeden Parameter der Musik zu präfixieren, werden einige präfixiert, aber das brauchen nicht zwangsläufig die Tonhöhen oder -dauern zu sein, man kann etwa auch eine Dichte vorfixieren, die Rhythmen, Lautstärken etc. aber dem Zufall, spr.: der Improvisation der Musiker überlassen.
    Diese Aleatorik entwickelte sich in zwei Richtungen weiter: Die eine (Cage, Bussotti teilweise, mitunter Stockhausen) ging über zu Improvisationsvorlagen; die andere, häufigere (Lutoslawski, Britten etc. bis zu Bernstein in den "Jubilee Games") geht dazu über, die Aleatorik so zu steuern, dass der Ermessensspielraum des Interpreten nie groß genug ist, das vom Komponisten intendierte Gefüge zu verletzen. Selbst Lutoslawskis wegweisendes Streichquartett bleibt immer dasselbe Werk, egal wie extrem die Abweichungen auch sein mögen.


    Wenn ich über die Lutoslawski-Richtung spreche, verwende ich, eben weil die Intention des Komponisten dem Interpreten klar vor Augen geführt wird, meist die Begriffe "gelenkte Aleatorik" oder "begrenzte Aleatorik", während ich im Zusammenhang mit den jeweiligen Werken von Cage, Bussotti, Stockhausen etc. von "totaler Aleatorik" spreche - im Bewusstsein, dass natürlich auch diese Begriffe nicht ganz korrekt sind und die Grenzen fließen.

    ...


  • Lieber Alfred,


    es geht doch nicht darum, gegen irgendetwas zu "agitieren".


    An sich ist Dein Standpunkt sicher der richtige, auch ich komme immer mehr dazu, mich an Diskussionen über moderne Musik nicht mehr zu beteiligen und dies den Liebhabern zu überlassen.


    Nur ist es mein Eindruck, daß eine Diskussion um moderne Musik eigentlich sowieso nicht mehr zustande kommt. Es ist zum Beispiel bei der Diskussion um moderne Musik nicht unwichtig, seinen Standpunkt dahingehend klar zu machen, welche "musikalischen Konzepte" man denn überhaupt bereit ist, ernst zu nehmen und ernsthaft darüber zu diskutieren. Und da ist es nun einmal so: Wenn ich eine "Partitur" sehe, die aus sechs Strichen besteht, dann ist für mich zumindestens eine Grenze erreicht, wo ich dann sage: Darüber kann ich nicht ernsthaft diskutieren.


    Aber eine Haltung wie: Darüber kann ich nicht ernsthaft diskutieren, ist bei Liebhabern moderner Musik anscheinend verpönt, sie gilt als oberflächlich, obenhin oder ich weiß nicht was.


    Irgendwie schade, vor allem deshalb, weil ich schon glaube, daß es in der Musik nach dem 2. Weltkrieg durchaus Musik gibt, die des Anhörens wert ist ( und wo ich auch mehr kennen lernen will).


    Gruß Martin

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  • Du mußt einfach auflisten, was Du schätzt, dann können Dir sicher einige Forumsteilnehmer (mich inbegriffen, obwohl ich diese Sachen mit den Strichen mag) andere Werke und Komponisten empfehlen, die Deinen Vorlieben näher liegen als Cage und Boulez. Je umfangreicher Deine Liste, umso besser.

  • Lachhaftigkeiten der Musikgeschichte:


    - Man stelle sich vor: Da lässt einer ein Drama singen. Aber nicht nur das: Nichts als Stützakkorde im Orchester. Darüber kann man doch nicht ernsthaft diskutieren! (Forum über Zeitgenössische Musik, Mantua, 23. Februar 1607)


    - Ich lache mich todt! Mein Schädel will schier platzen, so muß ich lachen! Drei g und ein Es. Das meynt der tolle Hund von Componist soll ein Thema sein? Ta-ta-ta-taaaaaaa? Danach nichts als ein Drüber und Drunter von Stimmen, alles wird in seine Einzelheiten zerleget. Den vermaledeiten Kerl, der auch gantz und gar soll taub sein, was mich bey solch einer Musik wie er sie schreibet fürwahr nicht kann Wunders nehmen, kann man doch nicht ernsthafftig in einem Gespräch über Componisten als einen solchen nennen. (23. Dezember 1808 in einem Thread namens "Neye Musick alß ein Dreck".)


    - Und weißt Du was? seine hefftigsten Dissonanzen löst er nicht ein Mahl auf. Man weiß nicht mehr, wo man sey. Dazu wird in den höchsten Lagen geschrieen, immer so, als würde man sprechen und nicht singen, aber das gantz unnatürlich. Alldieweil spielt ein riesiges Orchester unentwegt. Fünff Stunden dauert das Gantze, und hat doch zum Inhalt nicht mehr als ein Liebespaar, das zusammen nicht kommen kann. Wäre die Musik nicht gar so erschröcklich, ich schwöre Dir, ich hätte nichts getan als gelacht. (11. Juni 1865 im Thread "Die aller erschröcklichsten Opernerlebnisse in München".)


    - Nicht etwa drei Flöten verlangt er, nein, deren sechs. Und so geht es weiter. Alles in enormem Umfang, alles verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht. Das ist dann ein Tosen und Toben im Orchester, wie man sich's nicht vorstellen kann. Und, als ob das alles nicht genug wäre, singt ein riesiger Chor die Verse Goethes, als wär's eine Oper oder eine Kantate. Aber nein: Just Symphonie muß der Komponist sein Werk nennen. Du glaubst nicht, wie lächerlich das ist! (13. September 1910 im Thread "Wahnsinnige Komponisten".)


    - Im Orchester pfeift und quietscht es, nirgends eine Tonart, an die man sich halten kann. Auf der Bühne, wenn der arme Soldat geschunden wird, eigenthümliches Sprechsingen, völlig unnatürlich und lächerlich. Nichts als Misstöne und grauenhafte Fratzen von armer, geschundener Musik. Und das soll Zukunft haben? Darüber kann man doch nicht ernsthaft diskutieren, solange wir noch wahre Meister wie einen Paul Graener oder einen Robert Heger unter uns haben! (15. Dezember 1925 im Thread "Was keine Musik mehr ist".)


    Zitat

    Wenn ich eine "Partitur" sehe, die aus sechs Strichen besteht, dann ist für mich zumindestens eine Grenze erreicht, wo ich dann sage: Darüber kann ich nicht ernsthaft diskutieren.


    (14. Februar 2006 im Thread "Der Nachahmungstrieb oder die Modernität als Mache")

    ...

  • Lieber Edwin,


    das ist ja ein interessantes Ratespiel, was Du mir da anbietest.


    Da versuche ich dann mal zu raten, was gemeint sein könnte.


    Dann rate ich mal. Das erste: Monteverdi?


    Das zweite Beethovens 5.?


    Das dritte? Das ist bestimmt Wagner. Vielleicht der Tristan?


    Das vierte? Das ist bestimmt Mahlers 8.


    Das fünfte? Schon schwieriger. Könnte Bergs Wozzeck sein.



    Ansonsten, lieber Edwin. Deine Zitate sind zwar nett ausgewählt, aber den entscheidenden Punkt vergißt Du einfach. Alle diese Komponisten, alle diese Werke haben sich relativ schnell durchgesetzt. Daß sich die Moderne mal durchsetzt, darauf warten wir schon seit 80 Jahren oder so. Und dafür wirds vermutlich schon auch Gründe geben.


    Gruß Martin

  • Alles richtig erkannt, war ja auch nicht schwer.


    Aber dass sich die Moderne nicht durchsetzt, sehe ich nicht so. Erstens haben sich experimentelle Komponisten nie wirklich durchgesetzt - oder pfeift heute jemand beim Spazierenführen seines Hundes einen feschen Gesualdo vor sich hin?


    Dass wir von unserer Zeit mehr wissen, ist klar: Wir leben in ihr. Allerdings sind wir auch so knapp an ihr dran, dass wir gar nicht sehen können, was sich durchsetzt. Wir sehen die Musikgeschichte vor lauter Komponisten nicht.


    Die von mir genannten Werke haben sich übrigens keineswegs alle so schnell durchgesetzt, wie Du meinst. Die Entdeckung des "Orfeo" ist eine Sache des 20. Jahrhunderts. Beethoven galt seinen Zeitgenossen als Narr, der "Tristan" eroberte sich die Bühnen relativ schnell; Mahlers 8. hingegen hat es bis heute schwer, auf Gegenliebe zu stoßen. "Wozzeck" ist heute ein Repertoirestück; aber als ich mich für Klassische Musik zu interessieren begann, was gerade mal so knapp 30 Jährchen her ist, war "Wozzeck" keineswegs im Repertoire.
    Hingegen sind die Sensationserfolge des 20. Jahrhunderts fast völlig verschwunden (ob zurecht, will ich nicht beurteilen): "Tote Stadt", "Wunder der Heliane", "Die Gezeichneten", "Jonny spielt auf", "Mahagonny", "Cardillac", "The Consul", "The Medium"... Da möchte man fast sagen: Je schneller durchgesetzt, desto schneller wieder vergessen.

    ...

  • Lieber Edwin,


    aber was schlägst Du nun vor? Entschuldige mal, aber ich habe wirklich so den Eindruck, daß wir - zumindestens in den sogenannten öffentlichen Medien - über moderne Musik wirklich nur noch mit der Behutsamkeit und der Rücksicht eines staatlich geprüften Altenpflegers reden können. Und das führt dann natürlich schon dazu, daß moderne Kunst ( auch angesichts postmoderner Komponisten, die es ja wohl inzwischen schon gibt) doch so zusehens aufs Altenteil abgeschoben wird. Wo sie meiner Meinung nach auch hingehört.


    Gruß Martin

  • Ich finde, dass eine lebhafte Diskussion über Moderne Musik am besten ist. Eine Diskussion ohne Vorbehalte und ohne falsche Empfindlichkeiten.
    Und natürlich muss die Musik immer wieder klingend, am besten in Live-Darbietungen, zur Diskussion gestellt werden.


    Erinnern wir uns, dass immer die zeitgenössische Musik am interessantesten war. Erst in unserer Gegenwart setzt die Besinnung auf die große Vergangenheit ein. Die Interpreten-Verehrung tritt an die Stelle des Interesses an neuen Werken. (Mit welchen Interpreten das zu tun hat, sag' ich jetzt nicht, sonst werde ich virtuell erschlagen.) Und statt sich um die Musik der Gegenwart zu kümmern, absolvieren die sogenannten Spitzendirigenten ein Repertoire, dessen Kern aus vielleicht 30 Stücken besteht und im Wesentlichen an der Wende zum 20. Jahrhundert plus Mahler endet. Das ist keine lebendige Musikkultur, sondern ein Museum.


    Für das Entstehen blühenden Lebens ist die Museumsatmosphäre wenig förderlich.


    Gegensteuern: Mut seitens der Musiker, seitens der Veranstalter. Und seitens des Publikums. Die Zwangsbeglückung allerdings finde ich nicht gut - Zwang führt eher zu einer Abwehrreaktion als zu Liebe auf den ersten Ton.

    ...


  • Aber mit dieser Einstellung erstickst du jede Chance auf eine Diskussion im Keim.
    Zwar werden deine aufgelisteten Punkte oft als Vorwand missbraucht aber doch kann der Benutzer dieser Floskeln damit recht behalten.


    Wenn das so stimmt was fettgedruckt ist, können wir dieses Forum hier schließen.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Und natürlich muss die Musik immer wieder klingend, am besten in Live-Darbietungen, zur Diskussion gestellt werden.


    Und statt sich um die Musik der Gegenwart zu kümmern, absolvieren die sogenannten Spitzendirigenten ein Repertoire, dessen Kern aus vielleicht 30 Stücken besteht und im Wesentlichen an der Wende zum 20. Jahrhundert plus Mahler endet. Das ist keine lebendige Musikkultur, sondern ein Museum.


    Lieber Edwin,


    in diesem Punkt gebe ich Dir unbedingt Recht! Ich mag diese museale Atmosphäre auch nicht, die in unserer heutigen klassischen Musikkultur eingekehrt ist. Ich schätze Beethoven, Bruckner oder Mahler wirklich sehr, aber irgendwie habe ich den Eindruck, daß unsere Konzertprogramme wirklich immer mehr für Musikanfänger gemacht werden.


    Aber jemand, der klassische Musik lange hört, möchte auch vielleicht wirklich mal was anderes hören. Wir haben hier 3 große Orchester hier in Hamburg, die ihre Programme runterspielen, aber irgendwie habe ich den Eindruck, es ist irgendwie doch immer dasselbe, immer die ewig alten Schlachtrösser, die ich schon vor 30 Jahren in den Konzerrführern gefunden habe.


    Ich möchte aber vielleicht mal was hören, was eben nicht in den Konzertführern steht. Also manchmal wäre ich wirklich dafür, in öffentlichen Konzerten ( und auch im Radio!), mal sowas wie Quoten einzuführen. Das ist zwar eine vollkommen neumodische Idee, und ich verabscheue neumodische Ideen, aber es ist einfach zum Heulen, wie diese klassische Musik einfach dem Altbewährten nachhängt ( das ja auch gut ist!) und ängstlich jedes Risiko vermeidet.


    Dazu muß man sagen: Das Radio und die öffentlichen Konzerte haben einen Kulturauftrag. Die CD Industrie hat einen solchen Kulturauftrag nicht. Und trotzdem kommt die private, im Grunde genommen auf ökonomischen Erfolg getrimmte private Industrie diesem Kulturauftrag hundertmal besser nach als die Staatlichkeit, die eigentlich mal dafür gedacht war, die Ungerechtigkeiten des Marktes zu beseitigen.


    Gruß Martin

  • Die Stichpunkte von Johannes finden sich in entgegengesetzer Form auch bei den Befürwortern der "modernen Musik".


    Da sind Publikum/Kritiker/Musiker zu reaktionär/doof/durch einen falschen bzw. überholten Begriff der Ästhetik befangen/intolerant/faschistisch, um die großartigen/bahnberechenden/innovativen/bisher un-erhörten Klanggebilde des Meisters zu würdigen, aber irgendwann, wenn er sich durchgebissen hat wie seinerzeit der Beethoven/Mozart/Wagner, ja dann, ihr werdet's schon sehen, dann werden sie ihn alle vergöttern/im Radio spielen/im Konzert aufführen/auf der Straße pfeifen/in der Werbung verwenden, auf das recht viele GEMA-Gebühren fließen, und der Helmut Lotti und der Andre Rieu, die werden vor Neid erblassen.... :rolleyes:


    Die eine Haltung ist so witzlos wie die andere. Es ist schon viel gewonnen, wenn man "eine Diskussion ohne Vorbehalte und ohne falsche Empfindlichkeiten" führt. Und ich darf hinzu fügen: "Es ist schon viel gewonnen, wenn man sich die Werke zeitgenössischer Musik anhört, ohne viel auf die Vorurteile zu geben und das Werk sprechen läßt (siehe auch meinen Standpunkt im Thread über Musik und Politik).

  • Zitat

    Original von ThomasW


    Aber mit dieser Einstellung erstickst du jede Chance auf eine Diskussion im Keim.
    Zwar werden deine aufgelisteten Punkte oft als Vorwand missbraucht aber doch kann der Benutzer dieser Floskeln damit recht behalten.


    Wenn das so stimmt was fettgedruckt ist, können wir dieses Forum hier schließen.


    Nein. Man kann versuchen sachlich zu bleiben und nicht leichtfertig auf
    solche Klischees zurückgreifen. Erstmal die Sache analysieren oder sich wenigstens auf sie einlassen, bevor man unterschwellige Motive wie Anbiedern oder gar Tiefenpsychologisches unterstellt etc. Wenn man eins der o.g. Urteile an einem Stück belegen kann, ist es schon was anderes. Natürlich kann man auch mal zufällig recht haben, mit so einen Vorurteil, aber darum gehts ja nicht. Und eine Sache und gleichzeitig ihr Gegenteil zu vertreten, ist inkonsistent, das sollte man immer vermeiden...
    Eine fruchtbarer Diskussion ist ein Austausch von Argumente mit offenem Ausgang, kein Gelaber oder Wiederholen abgedroschener, schlecht begründeter Platitüden.
    Was ich noch vergessen habe, ist, dass man natürlich aus der Liste beliebiges herauspicken kann, es auf einen anerkannt großen Künstler der Vergangenheit anwendet und dann ist eben dasselbe Klischee auf einmal was positives... ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Die Stichpunkte von Johannes finden sich in entgegengesetzer Form auch bei den Befürwortern der "modernen Musik".


    Der wesentliche Unterschied dürfte darin bestehen, dass die Befürworter meistens ein klein wenig besser wissen, wovon sie sprechen.
    Meine Stichpunkte finden sich immer da, wenn Leute Vorurteile und Klischees egal über was dreschen, häufig weil sie schlicht keine Ahnung haben, jedoch meinen, es mit einem Gebiet zu tun zu haben, wo ja eh jeder mitreden kann.
    (z.B. auch bei Leuten, die mit (alter) klassischer Musik nichts anfangen können)


    Im Einstein-Jahr 2005 begegnete mir mehrfach ein Flugblatt, in dem ein weitgehend anonyme Gruppe (der einzige der v.i.S.d.P. zeichnete war ein Ingenieur aus Süddeutschland), für ein Buch warb, in dem dieses Konsortium sich anschickte, die "Blödsinnigkeit" der Speziellen RT zu zeigen, hauptsächlich mit Rekurs auf den Gesunden Menschenverstand*, dem diese Theorie ja offenbar widerspräche. Bornhierthiet stirbt nicht aus, aber das macht sie in "weichen" Gebieten nicht besser als hier contra Einstein, wo man auf den ersten Blick erkennt, dass es sich um prätentiösen Unsinn handelt.


    viele Grüße


    JR


    * eines meiner Lieblingszitate:
    Der gesunde Verstand ist die bestverteilte Sache der Welt, denn jedermann meint, damit so gut versehen zu sein, daß selbst diejenigen, die in allen übrigen Dingen sehr schwer zu befriedigen sind, doch gewöhnlich nicht mehr Verstand haben wollen, als sie wirklich haben. (René Descartes)

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    ich denke, was Thomas da sagt, ist etwas Wichtiges und Erwägenswertes. Also ehrlich gesagt, habe ich bei der Aufzählung von "möglichen Klischees" dann doch schon den Eindruck: Hier wird alles nur mögliche aufgezählt an überhaupt möglichen Arten Kritik zu üben, dieses dann als "Klischee" gebrandmarkt und auf diese Weise jede auch nur mögliche Diskussion von vorneherein verunmöglicht.


    Meines Erachtens geht dies alles völlig am Thema vorbei. In Wahrheit interessiert sich kaum jemand für moderne Musik ( dieses Forum ist in dieser Hinsicht völlig unrepräsentativ). Gegen Klischees wehrt sich die moderne Musik wirklich nur innerhalb ihres behüteten Raumes, außerhalb dieses Raumes wäre sie dankbar, wenn sie jemand immerhin eines Klischees für würdig erachtete, aber auch das findet doch längst nicht mehr statt.


    Gruß Martin

  • Zitat

    Original von Martin
    ich denke, was Thomas da sagt, ist etwas Wichtiges und Erwägenswertes. Also ehrlich gesagt, habe ich bei der Aufzählung von "möglichen Klischees" dann doch schon den Eindruck: Hier wird alles nur mögliche aufgezählt an überhaupt möglichen Arten Kritik zu üben, dieses dann als "Klischee" gebrandmarkt und auf diese Weise jede auch nur mögliche Diskussion von vorneherein verunmöglicht.


    Wie gesagt, wenn jemand an einem konkreten Stück (und ich bestreite gar nicht, dass das vielleicht sogar häufig gelingen kann) demonstriert, dass es ich um ein Urteil, nicht um ein Klischee handelt, ist das o.k. Aber ich habe Schwierigkeiten einen Beitrag ernst zu nehmen, der sogar zwei oder mehr der sich jeweils widersprechenden Paare vertritt. Wies halt paßt. Oder der sich zuerst beschwert, Schönberg, 12-ton etc., das sei doch reine Kopfmusik und dann Bachs Fugen wegen ihrer Zahlenspielereien und Komplexität preist usw. Und sag nicht, dass würde nicht vorkommen. Man muß nicht weiter suchen als in diesem Forum. Da wird z.B. Wert auf den "elitären Status" Klassischer Musik gelegt, dann aber beklagt, dass ehemals populäre Stücke, von z.B. Lortzing wohl heute als zu bieder empfunden würden usw.


    Wieviel wirklich reine Unterstellungen sind, hängt natürlich von der tatsächlichen Musik ab. Was aber an den meisten Stücken von Schönberg oder Berg politisch sein soll, ist mir völlig schleierhaft. Dagegen ist völlig klar, dass Mozarts Figaro, Beethovens Fidelio oder einige frühe Verdi-Opern (seinerzeit) politisch aufgeladen und relevant waren. Komischerweise kommt niemand aufg den Gedanken, das gegen diese Stücke ins Feld zu führen. Und so weiter...
    Nochmal: Eine Diskussion ist ein Austausch von Argumenten, kein gegeseitiges Wiederkäuen von Vorurteilen. Wenn ich in einem thread, der von hymnischen Äußerungen zu Tschaikowskys 4. wimmelt, anführe, was mich an diesen Stück weniger begeistert, so versuche ich das mit meinen laienhaften Mitteln zu begründen, schreibe nicht einfach, das sei aufgeblasener, aber letztlich flacher Schrott, um zu provozieren


    Zitat


    Meines Erachtens geht dies alles völlig am Thema vorbei. In Wahrheit interessiert sich kaum jemand für moderne Musik ( dieses Forum ist in dieser Hinsicht völlig unrepräsentativ). Gegen Klischees wehrt sich die moderne Musik wirklich nur innerhalb ihres behüteten Raumes, außerhalb dieses Raumes wäre sie dankbar, wenn sie jemand immerhin eines Klischees für würdig erachtete, aber auch das findet doch längst nicht mehr statt.


    In Wahrheit interessiert sich kaum jemand für Klassische Musik/Hegels Philosophie/Renaissance-Lyrik/Allgemeine Relativitätstheorie. Diese und analoge Foren sind in dieser Hinsicht völlig unrepräsentativ...usw.
    Was soll uns das sagen, außer dass manche Dinge, besonders wenn sie komplex sind und Offenheit, intellektuelle Neugier und vielleicht auch ein gutes Maß Ausdauer verlangen, eben nicht populär sind. Da sie überhaupt nie danach strebten, populär zu sein, kann ihnen dieser Mangel wohl kaum zum Vorwurf gemacht werden, oder? Es wird ja selten jemand gezwungen, sich mit ihnen zu befassen (anders als bei Steuererklärung u.ä.)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Oder der sich zuerst beschwert, Schönberg, 12-ton etc., das sei doch reine Kopfmusik und dann Bachs Fugen wegen ihrer Zahlenspielereien und Komplexität preist usw.


    Das ist eben der Punkt: Hier zeigt sich, dass die Ablehnung der Neuen Musik nicht wirklich rational begründet ist. Ich werde den Verdacht nicht los, dass die Begründung der Ablehnung schlicht lautet: "Mir gefällt das nicht." Aber statt zu diesem Geschmacksurteil zu stehen (die Subjektivität ist uns so gründlich ausgetrieben worden, dass beispielsweise Web-Foren vor lauter IMO, IMHO etc. wimmeln - statt vorauszusetzen, dass jeder subjektiv spricht und es in allen Dingen, die nicht berechenbar oder messbar sind, alleinige Wahrheiten nicht möglich sind), statt also zu diesem Geschmacksurteil zu stehen, werden Versuche einer scheinbar objektiven Begründung unternommen. Und diese wird dann aus Konzertführern etc. zusammengeschustert.
    Ebenso wird das subjektive "Das gefällt mir" schein-objektiviert mit einem in Wahrheit belanglosen Vokabular ("Bach ist so vergeistigt" etc.).


    Daher bin ich froh über jeden, der zu seiner Subjektivität steht. Wir (und ich nehme mich da keineswegs aus) müssen endlich zum Schluss kommen, dass Subjektivität und Sachkenntnis keine Gegensätze sind.

    ...

  • Salut,


    Bachs Fugen sind eben nicht reine Kopfmusik. Zwar spielt hier die "Konstruktion" eine gewichtige Rolle, das phänomenale aber ist, dass es trotzdem [noch] angenehm in den Ohren ist.


    Ich gehöre definitiv zu der Riege, die offen zugibt, moderne Musik gefällt mir [größtenteils] nicht. Das Warum ist mir dabei eigentlich ziemlich egal - es ist ja die Aufgabe des Komponisten, das zu ergründen.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo Ulli!


    Na ja, Bachs Fugen sind schon (ziemlich) reine Kopfmusik. Es ist nur so, dass sie aufgrund der angewendeten harmonischen und kontrapunktischen Mittel ausgezeichnet klingen. Diese harmonischen und kontrapunktischen Mittel sind eine Sprache der Zeit, keine Erfindung Bachs - nur hat Bach das Vokabular sowohl sehr persönlich als auch einfach vollendet gehandhabt. Wie heute etwa ein Henze das Material eben unserer Zeit mit äußerster Virtuosität handhabt.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Das ist eben der Punkt: Hier zeigt sich, dass die Ablehnung der Neuen Musik nicht wirklich rational begründet ist. Ich werde den Verdacht nicht los, dass die Begründung der Ablehnung schlicht lautet: "Mir gefällt das nicht." Aber statt zu diesem Geschmacksurteil zu stehen (die Subjektivität ist uns so gründlich ausgetrieben worden, dass beispielsweise Web-Foren vor lauter IMO, IMHO etc. wimmeln - statt vorauszusetzen, dass jeder subjektiv spricht und es in allen Dingen, die nicht berechenbar oder messbar sind, alleinige Wahrheiten nicht möglich sind), statt also zu diesem Geschmacksurteil zu stehen, werden Versuche einer scheinbar objektiven Begründung unternommen. Und diese wird dann aus Konzertführern etc. zusammengeschustert.


    Ja, und wieso ist das so?


    Ich bekomme ein mulmiges Gefühl, wenn ich das alles hier lese und ehrlich gesagt steigert das nicht gerade meinen Drang, mich mit Neuer Musik zu beschäftigen.


    Wenn ich sage, dass mir Renaissance-Musik nicht gefällt, kräht kein Hahn danach. Ich brauche keinerlei Sachkenntnis vorzuweisen, um dieses Urteil zu begründen. Als Neue-Musik-Gegner kommt man scheinbar mit einem „Gefällt mir nicht“ nicht so einfach davon. Man ist halt zu dämlich, die Komplexität zu begreifen, ist zu wenig offen, besitzt keine intellektuelle Neugier, hat keine Ausdauer etc.


    Und weil niemand als dämlich, faul und verschlossen gelten will, sucht er halt nach Begründungen für seine Abneigung, die mangels Sachkenntnis natürlich nicht objektiv ausfallen können.


    Mir wäre es lieber, jemand könnte auf positive Art und Weise vermitteln, was er an Neuer Musik schätzt, was sie ihm gibt, wie er sie empfindet etc. Dann hätte ich – als Anfängerin auf diesem Gebiet – eine Chance, die Begeisterung nachzuempfinden, was wiederum meine Neugier wecken würde.


    Gruß, Cosima

  • Wieso das so ist, weiß ich auch nicht. Ich nenne es "Insider-Arroganz". Was mich betrifft, ich finde es spannend, weshalb jemand ein bestimmtes Werk der Moderne ablehnt.


    Wenn mir ein Stück nicht gefällt (egal aus welcher Epoche), frage ich mich prinzipiell: Warum gefällt es mir nicht? -> Subjektive Begründung. -> Frage: Und liegt das jetzt an dem Werk oder an mir?


    Aber ich weiß auch, wie wahnsinnig schwer es ist, Freude an modernen Klängen zu vermitteln. Ich finde etwa Messiaens "Des canyons aux etoiles" als eine Orgie in wunderbar ausgehörten, strahlenden Klängen. Aber wie dieses rein subjektive Erlebnis jemandem vermitteln, der aus dieser Musik nur Dissonanzen, hektische Rhythmen, enervierende Klavierkadenzen und lähmende Langeweile heraushört?

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Ulli!


    Na ja, Bachs Fugen sind schon (ziemlich) reine Kopfmusik. Es ist nur so, dass sie aufgrund der angewendeten harmonischen und kontrapunktischen Mittel ausgezeichnet klingen. Diese harmonischen und kontrapunktischen Mittel sind eine Sprache der Zeit, keine Erfindung Bachs - nur hat Bach das Vokabular sowohl sehr persönlich als auch einfach vollendet gehandhabt. Wie heute etwa ein Henze das Material eben unserer Zeit mit äußerster Virtuosität handhabt.


    :hello:


    Salut,


    ich könnte Dir [fast] zustimmen. Threadgerecht müssten wir also von Mozarts Fugen sprechen, die er quasi als Hommage an Bach [oder in Begeisterung von Bachs Fugen auf Wunsch seiner Frau] komponiert hat.


    Einem Bachfreak [ungefähr meines Jahrganges] spielte ich solche Hammages von Mozart an Bach vor - er meinte natürlich gleich: Das ist kein Bach! Er meinte dies zwar abwertend [weil für ihn eben Bach über alles steht], ich sehe das aber anders: Natürlich ist es kein Bach - es ist Mozart! So habe ich es ihm ja auch "verkauft". Mozart hat den Fugenstil Bachs sehr gut getroffen und dennoch eigenes - hörenswertes! - eingebracht. Man braucht sich nur KV 546, Adagio und Fuge c-moll, anzuhören. Das Vorbild ist unverkennbar und der Urheber ebenfalls.


    Hans-Werner Henze kenne ich ehrlich gesagt zu wenig, um jetzt großartig ein Urteil darüber zu fällen. Dennoch ist seine Musik - im Gegensatz zu der eines Bach oder Mozart - in meinen Ohren ein Fremdkörper.


    Musik ist für mich eine naturgegebene Sache, nach wie vor. Der Mensch sucht sich von Natur aus "schöne" Dinge aus, subjektiv natürlich: Also schöne Frauen, schöne Blumen. In der Regel gibt es einen "Mittelwert", den man allgemein [objektiv?] als "schön" bezeichnen kann. Dazu sei an diesen Thread erinnert:


    Muss Musik "schön" sein?


    Sicherlich gibt es auch Menschen, die Spinnen und Chamäleons als "schön" empfinden - ich empfinde sie maximal interessant und anschauenswert, aber sicherlich nicht als "schön".


    Beim Menschen kommen noch weitere Faktoren hinzu: Man kann einen "optisch häßlichen" Menschen zutiefst lieben, wenn man seinen Charakter für gut, treu, ehrlich und liebenswert erachtet. Einen Menschen kann man sehen, fühlen, hören [und ggfs. schmecken und riechen], die Musik jedenfalls nur hören [und vielleicht fühlen]. Andersherum kann man einen bildhübschen Menschen mit Verachtung strafen, wenn er innerlich "häßlich" ist.


    Wenn sich also die moderne Musik [subjektiv] grauslich anhört, was soll ich dann damit?


    ?(


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Lieber Edwin,


    also eigentlich solltest Du Dich über die vorhandene Ignoranz gegenüber moderner Musik nicht wundern.


    Also zum Beispiel, ich hatte gesagt, daß ich eine Partitur, die aus 6 Strichen bestünde, nicht ernst nehmen kann. Gegen diese Einschätzung meinerseits hast Du dann ein Ratespiel veranstaltet, gleichzeitig nun allerdings das allerschwerste Geschütz aufgefahren: Monteverdi, Beethoven, Wagner, Mahler - also die Creme da la Creme der Klassik und die sollten nun Deine 6 Striche verteidigen. Was soll das? Ich bin überzeugt, daß Deine Partituren ( Du bist ja Komponist) nun doch schon komplexer sind, daß sie mindestens schon aus 7, wenn nicht sogar 8 Strichen bestehen.


    Ich finde ehrlich gesagt diese ganze "Verteidigung der modernen Musik" ausgesprochen albern, das kommt bei mir so ganz dumm und einfach an wie dieser Spruch: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.


    Warum eigentlich? Ich meine das äußerst sonderbare besteht doch wohl darin, daß neue Musik vor sagen wir mal 120 Jahren noch in der übelsten Weise beschimpft und niedergemacht wurde ( natürlich dann meistens von der entsprechenden Seite). Hat das der damals neuen Musik in irgendeiner Weise geschadet? Ach was, die Leute haben sich trotzdem ihren Wagner, Verdi, Bruckner oder Brahms mit Leidenschaft angehört.


    Mein Gott, Edwin, diese ganze moderne Musik hat doch Verteidiger nun wirklich nicht nötig, die einzige Hoffnung, die es für sie gibt, ist doch wirklich, daß sich vielleicht mal ein paar Gegner findet, und mit Gegnern meine ich nicht diese allgemeine Ignoranz, sondern Gegner, die aus einer bestimmten Position der modernen Musik eine andere moderne Musik auch anzugreifen vermögen.


    Also da muß ich schon sagen, die Diskussion in der Popmusik ist da einfach entschieden lebendiger, schon in meiner Jugendzeit gab es eine entschiedene Kontroverse, ob man nun Beatles oder Rollling Stones Fan Anhänger war.


    Von solchen Auseinandersetzungen scheint nun die E Musik nichts zu halten, da hat man dann eher den Eindruck, daß man eher das Image einer "verfolgten Minderheit" pflegt. Wobei das Problem eben ist, daß kein Mensch diese Minderheit in Wahrheit verfolgt, sondern sich in Wahrheit einfach kein Mensch für sie interessiert.


    Gruß Martin

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