Es war vor etwa 20 Jahren. Mein Freund Reinhard, ausgebildeter aber nicht ausübender Musiker, hatte ein halbes Jahr Kanada hinter sich. Wir saßen beisammen, eine Flasche kanadischen Whiskys vor uns, dazu Lachs und ein paar andere Leckereien, und plauderten über - na ja, halt über Kanada. Natürlich konnte ich mein loses Mundwerk nicht halten (nett von Dir, Alfred, Dir einen diesbezüglichen Kommentar zu versagen) und ich stänkerte über kanadische Musik: "Das ist sicher sowas über Quintenbässen und einer chamanentrommel dazu". "Mitnichten", sagte Reinhard, "ich habe dort die schönste Musik gehört, die ich kenne."
Ich wurde neugierig, denn Reinhard kennt wirklich verdammt viel vom 10. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Und dann spielte er mir eine Schallplatte vor mit einem wirklich einzigartigen Stück. Da gibt es kurze, ekstatisch zuckende Floskeln. Und dann entfaltet ein Sopran eine Melodie, die ganz entfernt an die Gregorianik erinnert, voll mit raffinierten Synkopen. Das kleine Orchester begleitet in leuchtenden Akkorden, die eigentlich nichts tun, als diese wunderbare, wirklich vollendete Melodie gleichsam in eine Gloriole zu hüllen. Kein Kontrapunkt, nicht einmal Harmonie nach herkömmlichen Vorstellungen. Dieses Werk namens "Lonely Child" schien mir nur aus Klang zu bestehen, aus Klang von überirdischer Schönheit. Wie heißt der Komponist? - Nie gehört:
Claude Vivier
Damals waren Aufnahmen nur in Kanada aufzutreiben, Viviers Werke waren außerhalb Kanadas nur einem relativ kleinen Kreis bekannt: Nur in Frankreich wies Olivier Messiaen in seinen Analyseklassen immer wieder auf Vivier hin. Es dauerte noch Jahre (und bedurfte der Mithilfe György Ligetis), bis sich herumsprach, dass es da einen genialen Kanadier gab, der eine völlig einzigartige Musik schreibt.
Aber als es sich herumsprach, lebte Vivier nicht mehr.
Allein sein Leben liest sich wie ein Roman.
1948 in Montréal geboren, Eltern unbekannt, wird mit drei Jahren adoptiert.
Mit 16 Jahren von einem Seminar wegen „unreifen Benehmens“ verwiesen. Danach Beginn eines Studiums am Conservatoire de Musique in Montréal.
1971 geht Vivier nach Europa, studiert bei Gottfried Michael Koenig in Utrecht elektro-akustische Musik und bei Karlheinz Stockhausen in Köln Komposition. Seine Persönlichkeit ist stark genug, nicht einen Moment lang unter des einen oder des anderen Einfluss zu geraten. Der Preis: Weder Koenig noch Stockhausen, denen die enorme Begabung aufgefallen sein muss, rühren auch nur einen Finger für ihn.
1976 unternimmt Vivier eine ausgedehnte Asienreise. Seither werden seine Werke von imaginierten Landschaften geprägt - die Titel verweisen auf Orte, mitunter verballhornt, wie aus halb verschütteter Erinnerung hervorgeholt.
1983 wird Vivier in Paris das Opfer eines mit äußerster Brutalität durchgeführten Mordes, der Hintergrund scheint homosexueller Natur zu ssein, der Täter wird nie gefasst.
Vivier hinterließ trotz seines nur 34 Jahre dauernden Lebens 50 Kompositionen, von denen einige zu den vollendetsten gehören, die das 20. Jahrhundert hat.
Viviers Stil baut fast immer auf einer zentralen, aus kleinen Zellen breit entwickelten Melodie auf, die von den Instrumenten bzw. dem Orchester gefärbt, eingebettet, umhüllt, unterstrichen wird. Mitunter verwendet Vivier Mikrotöne und nähert sich der reinen Stimmung an, ohne in die Nähe der Spektralen Musik zu geraten.
Ebenso wenig hat Vivier mit den Zwölftönern zu tun, wenngleich seine Melodien manchmal alle Töne der chromatischen Tonleiter verwenden - aber Vivier folgt in der Melodiegestaltung nicht einem System, sondern seiner Intuition. (Eher gibt es Parallelen zur Gregorianik.)
Wenn Vivier Vokalmusik schreibt, verwendet er eigene Texte, in denen er (meistens französische) Worte und Wörter mit phonetischem Material kombiniert.
Zu Viviers bedeutendsten Werken, neben der Solokantate "Lonely Child", gehören die Orchesterwerke "Orion" und "Siddharta", ferner "Zipangu" für ein Streichorchester, das unerhörte Klänge erzeugt (da singt doch jemand - und das ist jetzt doch ein Blasinstrument, oder?).
Es ist eine Tragödie, dass Vivier nur eine Oper geschrieben hat, nämlich "Kopernikus", dessen philosophischer Text jede Linearität durchbricht. Eine Oper über Tschaikowskij war zum Zeitpunkt der Ermordung Viviers erst im Planungsstadium, eine Oper über Marco Polo war als Work in Progress angelegt, der "Prologue pour un Marco Polo" offenbart aber, welches Werk uns da verloren gegangen ist. (Es gibt eine DVD der offenbar rekonstruierten Oper - oder sollten da doch Teile aufgetaucht sein, die eine Komplettierung erlauben? In Kürze werde ich's wissen...)
Einzigartig ist auch die Solokantate "Bouchara" für Sopran und ein Kammerensemble, das wie ein volles Orchester klingt: Der Sopran singt die rund 13 Minuten Aufführungsdauer ohne eine einzige Pause eine Melodie von magischer Schönheit. "Wo Bist Du Licht", ebenfalls für Sopran und kleines Orchester, wird getragen von echtem Pathos. Wie immer bei Vivier ist das eine sehr offene Musik, eine Musik, die sich nicht hinter einem System verbirgt, sondern sich dem Musiker ebenso wie dem Zuhörer in all ihrer Emotionalität und Verletzlichkeit darbietet.
"Die schönste Musik, die ich kenne"? - Nun: Auf jeden Fall hat Vivier einige der schönsten, verletzlichsten und ästhetischesten Werke geschrieben, die mir unter die Ohren kamen.
Seine Musik ist wahrhaft einzigartig.