musikalische Gratwanderungen, Unsicherheiten und Grenzerlebnisse

  • Vielleicht ein mystischer Titel für einen Thread, mit dem ich meine letzten Beiträge zusammenfassen möchte.


    - Themen, bei denen sich ein jeder unsicher fühlt, da es nur mehr auf die eigene Meinung ankommt, auf persönliche Beobachtungen und Schlußfolgerungen.


    - Geschmacksfragen, die sich nicht entscheiden lassen - jeder hält ein anderes Tempo für ideal, hat unterschiedliche Vorstellungen von der Dauer der Musik und der Komplexität der Abläufe, hat eine eigene Meinung über Ausdruckswerte (bis hin zur Frage: was ist kitschig?...)
    wahrscheinlich bringen wir nicht mal den Begriff Romantik auf einen Nenner...



    - ein weiterer Bereich, den ich hinzufügen möchte, ist die Überforderung:
    als hervorragendes Beispiel eignet sich die Musik Max Regers, als Interpret stehe ich ständig vor der Entscheidung, das Publikum mit zu schnellen Harmoniefolgen zu konfrontieren, oder das Werk klar aber zu langsam darzustellen und damit den Charakter zu verändern; dieses Problem taucht in der Spätromantik häufig auf.


    Ich halte es für wichtig, zuzugeben, daß man sich bei einem Musikstück überfordert fühlt - wenn man sich selbst und dem anderen die Schwäche eingesteht, besteht die Möglichkeit, über die Momente zu diskutieren, in denen dieses Gefühl entsteht. Damit wäre ein Dialog eröffnet und keiner bräuchte einer Trotzhaltung einzunehmen und sich unverstanden fühlen...


    Wie sehr vertraut das Publikum einem Komponisten, der sich an der Grenze der Tonalität bewegt. Was ist noch verständlich? Was wird akzeptiert?
    Die Harmonik der Gurrelieder ist nur mehr in längeren Seminaren zu erörtern, dennoch ist das Stück beliebt. der harmonische Zusammenhang wird aber IMO mehr geahnt als verstanden.


    Und wo ist schließlich jene Grenze, bei der das Publikum "aussteigt"? - oder sind es doch nur die abschreckenden Namen der Komponisten, die diese Ablehnung hervorrufen?



    ---


    Schließlich betrifft es auch das Forum - ich halte es für wichtig, die eigenen Grenzen manchmal zu überschreiten und mutig die Meinung auch zu solchen Themen zu äußern, bei denen man sich nicht sicher ist...
    Jeder hat die Chance, sich zu blamieren - aber wie schlimm ist das wirklich?

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Zitat

    Original von tastenwolf


    Schließlich betrifft es auch das Forum - ich halte es für wichtig, die eigenen Grenzen manchmal zu überschreiten und mutig die Meinung auch zu solchen Themen zu äußern, bei denen man sich nicht sicher ist...
    Jeder hat die Chance, sich zu blamieren - aber wie schlimm ist das wirklich?


    überhaupt nicht. im gegenteil, -wenn man es mit diesem bewusstsein macht.


    :hello:

  • :hello:
    danke, das wollte ich hören 8)

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • was bezeichnest du als Verstehen? harmonische Analyse? - in jedem Moment des Hörens die funktionsharmonie sagen zu können?


    Ich glaube nicht, daß wir den vorwiegend "hörenden" Taminoanern vorschreiben sollten, was sie beim Hören zu denken haben.


    Jeder Mensch mit Hörerfahrung entwickelt einen Sinn für Harmoniefolgen. IMO bildet sich eine "unbewußte Kenntnis" der Harmonielehre bzw. des tonalen Systems. In einem Briefwechsel wurde mir von der Fähigkeit berichtet, den Verlauf eines Musikstücks "voraushören" zu können, also ein - durch Hören antrainiertes - Weiterdenken im Sinne des Komponisten...


    Die Vermutung, daß Menschen z.B: das Hindemith system mit den IMO falschen Bedeutungen der Komplementärintervalle nur mutwillig ablehnen, halte ich für falsch.


    Daß man sich in andere Systeme (z.B: die Messiaenschen Modi) erst einhören muß, weil sie nichts mit Tonalität zu tun haben, ist eine andere Sache - doch auch hier ist es möglich, Fehler und Unregelmäßigkeiten zu hören.


    Außerdem bezog sich meine Bemerkung auf die Gurrelieder - wie tonal die wirklich sind, das können wir analysieren. Tatsache ist, daß sie als tonal akzeptiert werden...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

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  • Ich schreibe niemandem vor, wie er etwas zu hören hat. Ich weiß nur nicht, was "verstehen" bedeuten soll (außer eben: harmonische Analyse in Echtzeit).


    Wie das mit dem "Voraushören" funktionieren soll, ist mir allerdings schleierhaft. Kannst Du das etwas konkretisieren?

  • Die Schwierigkeit, beim Hören der Musik alles wahrzunehmen, was in ihr steckt, scheint mir nicht neu zu sein. Wer erkennt, was alles Bach in seinen Stücken verschlüsselt hat? Die Frage nach dem richtigen Tempo ist bei ihm daher nicht wesentlich anders als bei Reger.


    Neu ist aber, dass sich mit der Industrialisierung die Anforderungen für die Wahrnehmungsfähigkeit radikal geändert haben, worauf alle Künste reagierten. Die Literaturkritik kommt hier angesichts des Expressionismus zum gleichen Ergebnis wie die Kunstkritik gegenüber dem Kubismus: Das Großstadtleben führte zu völlig neuen Herausforderungen an die Wahrnehmung. Das Subjekt droht zu fragmentieren. Phänomene von Geisteskrankheiten werden zu Schlüsselerfahrungen, aus denen seit 1900 alle Künste viele ihrer neuen Ideen beziehen.


    Daher ist es weniger die Frage, welche Komplexität die neuen Werke während des Konzerts dem Zuhörer zumuten können, bis er sich überfordert ganz abwendet. Die Malerei ging, wie an anderer Stelle ein wenig höhnisch vermerkt wurde, so weit, die Kritzeleien in verkommenden Toiletten ebenso aufzugreifen wie die geschmacklosen Muster von Kunstteppichen oder die von den schrecklichen Farben der Kunststoffe, Betonbauten und Stahlträgern vollgestellten Lebenswelten.


    Musik kann darauf reagieren, indem sie das nochmals zu bündeln und dadurch eine innere Orientierung zu geben versucht, so in den extremen Werken der Popmusik seit MC5, Hendrix und den Punks, indem sie es an Grellheit nochmals zu übertreffen versucht, das ist etwa bei Xenakis oder den dem Freejazz verbundenen Komponisten wie Hespos zu hören, oder schließlich, indem sie unter all den sich kreuzenden Klängen eine verborgene Stimme, einen neuen, versteckten Rhythmus zu finden sucht. Dieser letzte Ansatz ist mir am wichtigsten, vertreten durch den Minimalismus und Pärt, doch auch hier vermisse ich überzeugende neue Kompositionen.


    Überforderung scheint mir weniger beim Hörer zu liegen als bei den Komponisten, die sich heute nicht einfach wie in früheren Stilepochen einer bestimmten Strömung anschließen können, sondern von denen erwartet wird, dass sie ihre jeweils eigene Antwort darauf finden müssen, von welchen Höreindrücken heute jeder konfrontiert ist.


    Und beim Hörer liegt die Überforderung weniger im Konzertsaal oder beim Abhören von Musik zuhause, wenn er einmal die Muße findet, sich ganz darauf konzentrieren zu können, sondern im täglichen Leben mit dem Brummen der elektrischen Haushaltsgeräte und PCs, all den Warnsignalen auf der Straße und in den Industriebetrieben, Ferngeräuschen wie Flugzeuge Autobahnen und Eisenbahnen, wodurch natürliche Laute wie das Murmeln von Wasser, die klappernde Mühle oder das Zirpen von Grillen in den Bereich des Kitsches gedrängt werden, der längst schon von standardisierten Imitaten in der Filmkunst abgelöst ist.


    Viele Grüße,


    Walter