Kammermusikformationen und ihre Klangausrichtung

  • Liebe Forianer,


    Ich muß sagen, daß ich über den Erfolg des neu eingerichteten Unterforums Kammermusik einigermaßen überrascht bin.


    Ich hatte eher gefürchtet es würde zu einem Mauerblümchendasein bestimmt sein, aber davojn ist ja offenbar keine Rede mehr, diese Gefahr scheint gebannt.


    Da aber, und ich nehme mich hievon nicht aus, etliche gerne bereit wären dieses Gebiet näher kennenzulernen, rufe ich alle jene auf, die sich, dazu berufen fühlen, Kammermusikformationen der Gegenwart, aber auch der Vergangenheit der Gruppe vorzustellen, in der Form, daß ein wenig die Spezialitäten des Ensembles erklärt werden, allfällige Umbesetzungen im Laufe des Lebenszyklus und die sich daraus ergebenden Folgen für den Klang.


    Vielleicht könnte man auch tendenzielle Unterschiede zwischen den Interpretengruppen anreissen, sodaß der Laie zumindestens in groben Zügen weiß wie sich eine Interpretatione (nur als Beispiel) des Amadeus-Quartett von einer des Alban Berg Quartett s wahrscheinlich unterscheiden wird, bzw welche Alternativen es noch gäbe.
    Wie gesagt hier sollte das rein tendenztiell erklärt werden, vergleichend sollte das, so gewünscht, in den jeweiligen Threads über ein spezielles Werk geschehen.


    Und natürlich sollte hier auch widersprochen werden, wenn ein anderes Mitglied mit einer Beschreibung nicht ganz einverstanden ist.


    Was aber unbedingt erforderlich wäre: Es sollten Aufnahme von den genannten Künstlern verfügbar sein. Im falle von historischem Klang, sollte darauf auch hingewiesen werden.



    Sollte dieser Thread vielleicht ein wenig holprig starten, nicht jeder ist schließlich in der Lage, die Eigenarten eines Quartetts zu beschreiben,
    so ist das kein Problem, ich bin sicher es werden in den nächsten Monaten weitere Spezialisten zu unserer Gruppe stoßen.



    Beste Grüße
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tag,


    das zu Ruhm gekommene Emerson-Stringquartett entfernt sich von der so genannten Religion der Streicher (Rudolf Kolisch) ins Extrem der fortwährenden Attacke. Es gibt fast keine Passage ohne scharfen Onset (Einschwingen). Die von der Komposition her herrlichen Rasumovsky-Quartette (Beethoven op. 59 1-3), der russische Diplomat und Widmungsträger, der Herr Graf R., konnte die Cellostimme noch selbst spielen, geraten ins Prokustesbett von fixem Tempo und forcierter Artikulation. Der auch von dieser Gruppe praktizierte Positionswechsel hinsichtlich der je 1. Geige gibt eher zu denken, als dass ich darin Souveränität erkenne. Die Qualität eines Quartettes wird wesentlich von den Mittelstimmen getragen. Diskontinuität per Stühletausch stört die subtile Balance im Musizieren.


    Ganz anders, hört man einer der großen osteuropäischen Quartettvereinigungen bei diesem Werk zu, und nicht nur bei diesem. Ob Vlach-Quartett, Janacek-Quartett, Smetana-Qaurtett, Borodin-Quartett, Takacz-Quartett, Budapester Streichquartett, Ungarisches Streichquartett - pars pro toto/ einer für alle - das Vlach-Quartett, die erklingende Texture animiert die Einheit der Sinne.


    MfG
    Albus


    NS: CDs bitte im aktuellen Katalog.

  • Tag,


    es ist - natürlich - etwas dran an der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden (Heinrich von Kleist). Dabei viel mir auf, dass das im ersten Gesagte sich typologisierend verallgemeinern läßt. Man bemerkt's an der dritten Möglichkeit.


    Der egologisch unterlegte Disparat-Stil westeuropäisch-amerikanisch orientierter Streichquartett-Gruppen, 'Ensemble' mit Hintergedanken vermieden, steht gegen den homogenen Gesamtklang-Stil osteuropäischer Streichquartett-Vereinigungen. Die dritte Stilprägung repräsentierten (zur Zeit ihres Bestehens) das Quartetto Italiano, das Koeckert-Quartett, das Weller-Quartett, um nur Beispiele zu nennen: der so genannte mitteleuropäische Mischklang-Stil.


    Die Egologen, das waren Quartette wie die Herrschaften der Juilliards, Amadeus, LaSalle, Guarneri, Cleveland, heute sind's die Emersons; manche Gruppen eiferten den Egologen nach, darunter Tokyo, Melos (Stuttgart, nicht zu verwechseln mit dem MELOS-Ensemble, London), Alban Berg-Quartett. Den Gesamtklang-Stil pflegten am schönsten die vier Herren vom Budapester Streichquartett und vom Ungarischen Streichquartett, neuerdings in deren Fußstapfen: das Takacz-Qaurtett, Ungarn. Den Mischklang-Stil boten neben den Italienern, drei Herren und eine Dame, auch die Musiker des Heutling-Quartett - und: das amerikanische Yale-Quartett (Yale University; mit André Previn, Klavier, gibt es eine fesselnde Aufnahme des op. 34 von Brahms, EMI) sowie das englische Aeolian-Quartett (Haydn-Streichquartette, eine Gesamtaufnahme, die Engländer machen's vor).



    MfG
    Albus

  • Hallo,


    Albus: Danke für Deinen Beitrag! Du äusserst Dich ja recht vehement. Ich kann Deine Meinung nicht nachvollziehen. Stalin ist lange tot. Deshalb glaube ich nicht, daß sich Interpretationen (in Deinem Sinne wohl mehr 'Stile') so grob kategorisieren lassen.


    Gruß,
    Oliver

  • Ich finde, daß Albus die Typisierung ganz ausgezeichnet getroffen hat.


    Mit Stalin hat das ganze wenig zu tun, eher mit östlicher (hiezu zähle ich auch Österreich) westlicher und amerikanisch-westlicher Sichtweise, nicht politisch gemeint, sondern aus dem Lebensgefühl heraus, wobei Amerika drauf und dran ist, jedes Lebensgefühl, daß nicht mit amerikanischem kompatibel ist, zu zerstören, zumindest versucht man es. Die Streichpolitik amerikanischer Konzerne in Katalogen ehemals europäischer Plattenlabel ist ein guter Anhaltspunkt, zu verstehen, was ich meine.


    Ich erinnere mich gut wie verächtlich Angehörige der Wiener Philharmoniker sich über amerikanische Orchester äusserten:
    "Die spieln viel exakter als wir , proben mehr - - aber klingen tuts am Ende bei uns viel besser "


    So ist es auch bei Smetana und Dvorak am homogensten klingt es von östlichen Formationen.


    Technik ist eben nicht alles.


    Beste Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Dieser "östliche" Stil wurde auch vom Vegh-Quartett geprägt (um den Primarius Sandor Vegh): exzellente Beethoven- und Bartßók-Gesamtaufnahmen. Nicht zu vergessen unter den aktuellen Formationen: das Talich Quartett, das einen Beethoven-Zyklus aufgenommen hat, der in seiner gediegenen, ruhigen Art seinesgleichen sucht (und nur beim Ungarischen Streichquartett, dem Budapest String Quartet und dem Vegh Quartett findet - aber die gibt es ja glaube ich nicht mehr). Ähnlich gut vom Talich Quartett: die späten Dvorak-Quartette und Quintette, sowie, ganz weit vorne, Mozart Streichquintette.

    Gruß,
    Gerrit

  • Tag,


    was die genannten Stilistiken angeht, die Einheit des Stils ist nicht nur eine hörbare, sondern auch sichtbare Einheit. - Fast alle genannten Quartette habe ich mindestens ein Mal bei Darbietungen auch sehen können (die Hamburger Freunde der Kammermusik hatten einst sehr gute Programme), die Sozialpsychologie von Geschmack und Atmosphäre war immer deutlich zu beobachten, der Leib ist auch Zentrum im Musizieren.


    MfG
    Albus

  • Hallo,


    zu meinem obigen Beitrag: Es ging mir nicht so sehr um die regionale Häufung von Interpretationsstilen (die stelle ich nicht in Abrede) sondern um die Begründung dafür (Stichwort Egologisch (Individualistisch?))


    Gruß,
    Oliver

  • Hallo, ich wusste doch, daß es diesen Thread gab!!!


    Beinahe hätte ich ihn neu gestartet. Es ist ja wirklich interessant inwieweit der Klang der Kammermusik, dargeboten von zwei verschiedenen Formationen, divergiert, bzw welche Interpreten ähnlich, welche verschieden sind, inwieweit es sich lohnt Werke, da man bereits mit dem Amadeus-Quartett gehört hat, nun auch vom Alban-Berg-Quartett zu hören - bzw welche Alternativen sich anböten. Ferner, welche Naxos-Aufnahmen mit den "berühhmten" mitkönnen, und welche eher "hausbacken sind. _Welches Klangbild wird geboten ? Kompakt, weich, hallig oder trocken , präsent. Welche Inerpreten sollte
    man unbedingt gehört haben... ??


    Ja das war schon zu Beginn des Threads die Fragestellung - aber nun sind doch etliche Forianer dazugestoßen und ausserdem wurde die Kammermusik ein wenig in den Fokus des Forums gerückt - daher hole ich dieses Thema wieder aus der Versenkung.


    Liebe Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn hier die zwei großen Stile einander gegenübergestellt werden, dann darf die belgisch-französische Schule nicht unerwähnt bleiben. Sie spielt zwar nach 1944/45 nicht mehr die herausragende Rolle, die sie vor dem Kriege hatte. (Pro Arte Quartett bis 1944, Calvet und Capet Quartette, die Quartette Ysaye, Krettly, Flonzaley zB).


    Damals werden diese Ensembles sicher nicht den homogenen Klang erzielt haben, wie er bei den Quartetten mit "östlichem Stil" gepflegt wird. Andererseits waren es sicher keine "Egologen", sondern große individuelle Künstlerpersönlichkeiten, die auch im Ensemblespielk ihre Individualität zu bewahren wußten, und dennoch einen unverwechselbaren Ensemble-Klang entwickelten. Individualistisch ist etwas anderes als egoistisch.

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  • Einige unsystematische Anmerkungen (Eindruck beschränkt sich i.d.R. auf mehr als eine, aber weniger als 10 Aufnahmen, er kann also, gerade bei über lange Zeit aktven Quartetten, einseitig sein):


    - der tatsächliche Klang auf Tonträger ist ziemlich von Raum und Mikro-Position abhängig. Dabei wirkt ein leicht halliger, etwas distanter Klang einerseits angenehmer als ein trockener direkter, andererseits kann er auch zu künstlichen Wirkungen (Streichorchester statt Quartett) frühen und die Klarheit beeinträchtigen. Da ich von bekannten professionellen Ensembles nur das Leipziger SQ live gehört habe, gilt daher alles nur für Aufnahmen.


    Juilliard Q.: viele großartige Aufnahmen, aber klanglich m.E. für Einsteiger nicht ideal, transparent, jedoch Tendenz zur Schärfe, dazu oft sehr trocken und direkt aufgenommen.


    ABQ: je nach Einspielung ziemlich unterschiedliches Klangbild, einiges (Schubert Quintett.) unangenehm hart wg. früher DDD-Technik. Sehr viel wärmer und natürlicher die Teldec-Aufnahmen der frühen 70er. Meinem Eindruck nach ingsesamt eine mittlere Linie zwischen Ausdruckskraft und Schönklang, Individualität, Transparenz und Homogenität. Sofern klangschön aufgenommen für Einsteiger besser geeignet.


    Emerson: sehr "neutraler", wenig individueller Klang (auch nicht sehr abwechslungsreich), trockenes, kompaktes Klangbild der Aufnahmen


    Q. Italiano: Schönklang, aber zu Lasten aller anderen Parameter, die mir wichtig sind. :rolleyes:


    Hagen Q.: vergleichsweise schlanker Klang, zumindest in den neueren Aufnahmen sehr differenziertes Klangfarben- und Ausdruckssprektrum (das manchen manieriert scheinen mag) Für mich eines der interessantesten gegenwärtig aktiven Ensembles :jubel: :jubel:


    Petersen Q.: auch eher schlanker Klang, teils mit Tendenz zur Schärfe, geradlinigere Interpretationen als das Hagen Q.; ebenfalls ein vergleichsweise junges (d.h. Alter der Musiker ca. Mitte 40) Spitzenensemble :jubel:


    Leipziger Streichquartett: vermutlich "audiophiler" Klang (MDG), wärmer und etwas weicher als die beiden vorhergehenden Ensembles. Für Hörer, die den Quartettklang als solchen tendenziell unangenehm empfinden, eine gute Wahl

    HIP (dazu gibt es einen eigenen thread)
    Festetics (u.a. durch Aufnahmetechnik?) keinswegs aggressiver, eher weicher Klang
    Mosaiques: wenn nötig etwas ruppigeres Zupacken, sehr abwechslungsreiche Klangfarben, sehr gute Aufnahmequalität.


    Beide Ensembles klingen m.E. gegenüber traditionellen Quartetten nicht in dem Maße gewöhnungsbedürftig, wie das manchmal bei HIP vs. "normalen" Kammermorchestern sein mag, also keien Schwellenangst nötig.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Unbedingt hörenswert ist das 1964 gegründete Guarneri Quartett , weilches 2009 seine Auflösung bekanntgab.
    Klangschön und eher körperhaft-fülliger, harziger und dunkler Klang, ohne jedoch diffus zu klingen, zumindest ist das bei der mir vorliegenden Aufnahmen aller Beethoven Streichquartette der Fall, ursprünglich von Philips aufgenommen, heute im Besitz der Decca Musci Group (Universal) und lizensiert an Brilliant Classics...



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Das ist übrigens die gleiche Aufnahme wie diese hier :



    :hello:


    Gruss
    Holger

    "Es ist nicht schwer zu komponieren.
    Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen"
    Johannes Brahms