Helmut Lachenmann - konservativer Provokateur

  • helmut lachenmann, geboren 1935 in stuttgart, ist heute einer der profiliertesten und spätestens nach seinem erfolg mit der oper „das mädchen mit den schwefelhölzern“ bekanntesten modernen komponisten. seine musik gilt als spröde und schwer zugänglich, lange war er verschrien als einer, bei dem es "keinen richtigen ton mehr" gibt.


    eine bezeichnende anekdote dazu: als lachenmann 1972 in hamburg den bach-preis bekam und er sich beim senator für die nette aufnahme ins gästehaus bedankte, antwortete dieser: "wenn ich ihre musik gekannt hätte, hätte ich ihnen einen zeltplatz vor der stadt angeboten."



    lachenmann studierte zunächst an der stuttgarter musikhochschule kompostionslehre, musiktheorie und kontrapunkt bei johann nepomuck david. bei den darmstädter ferienkursen lernte er luigi nono kennen, dessen schüler er von 1958-1960 wurde. nono beeinflußte lachenmann nachhaltig, v.a. dadurch, dass er "das klingende material, mit dem ein komponist arbeitet, als von geschichte durchdrungenes begriff." passend einer der zahlreichen aphorismen lachenmanns: "es ist noch lange nicht gesagt, dass einer in der tradition wurzelt, bloß weil er darin wurstelt." lachenmann versucht zu wurzeln, nicht durch kopie der alten meisterwerke, sondern dadurch, deren essenz in einer neuen zeit nochmals zu realisieren. der "wilde avantgardist" lachenmann ist – meist überhört – durchaus also auch ein konservativer.


    in anlehnung an die musique concrète der franzosen entwickelte lachenmann eine musique concrète instrumentale, die mittels neuer spieltechniken für die traditionellen orchesterinstrumente eine klanglichkeit erzeugt, die die herkömmliche trennung zwischen ton und geräusch unmöglich macht. lachenmann hat damit wie kaum ein anderer die grenzen der töne, die mit vertrauten instrumenten erzeugt werden können, erweitert.


    lachenman gilt als außerordentlich wortgewandt, was seine vielen musiktheoretischen schriften belegen, die unter dem titel "musik als existentielle erfahrung" bei breitkopf&härtel aufgelegt wurden.


    ein vollständiges werkverzeichnis gibt's bei wikipedia: "http://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Lachenmann"
    daneben findet man im internet einige interessante artikel und interviews:
    "http://www.zeit.de/2004/19/Interview"
    "http://www.musikmph.de/rare_music/composers/f_l/lachenmann_helmut/1.html"
    "http://www.beckmesser.de/komponisten/lachenmann/inhalt.html"


    stellvertretend möchte ich ein werk herausgreifen: lachenmanns 2. streichquartett „reigen seliger geister“ (1989):


    auch das 2. streichquartett kann man eher nicht als "schöne" musik bezeichnen. großteils bewegt es sich an der hörschwelle, unterbrochen von vereinzelten „ausbrüchen“ der ganzen gruppe oder einzelner instrumente. diese art des komponierens soll zu „neuem hören“ verleiten, d.h. althergebrachte hörgewohnheiten über bord werfen und unvoreingenommen zuhören – ein credo, das lachenmann immer wieder vom publikum fordert.


    das werk ist dem arditti-quartett gewidmet, von diesem ist es auch in genf (datum?) uraufgeführt worden. der titel "reigen seliger geister" verweist auf glucks orfeo, jedoch findet man keine direkten anklänge an glucks musik. schon zu beginn des stücks sind die geigen und das cello unterschiedlich verstimmt, nach etwa zwei dritteln müssen die spieler ihre instrumente in "wilder skordatur" durch eine beliebige drehung der wirbel absenken. dies führt – bei weiterhin genau vorgeschriebenen griffen – zur aufgabe definierter tonhöhen.


    mit lachenmanns worten: "Reigen seliger Geister" - Wahrnehmungsspiel: Töne "aus der Luft gegriffen" - "Luft" aus den Tönen gegriffen. Nach dem Abenteuer in meinem ersten Streichquartett Gran Torso mit exterritorialen Spielformen am Instrument - heute längst von anderen touristisch erschlossen - hier der Rückgriff auf Intervallkonstellationen ("Text") als "Fassade", als "Vorwand" ("prätexte"), um bei deren Realisation die natürlichen akustischen Ränder des hervorgebrachten Tones, seiner timbrischen Artikulation, seiner Dämpfung, beim Verklingen, beim Stoppen der schwingenden Saiten (zum Beispiel auch die Veränderung des Geräuschanteils beim Wandern des Bogens zwischen Ponticello und Tasto) durch die "tote" Tonstruktur hindurch zum lebendig gemachten Gegenstand der Erfahrung zu machen. So wurden spieltechnisch bestimmte Aktionsfelder inszeniert, verwandelt, verlagert, verlassen, verbunden. Das Pianissimo als Raum für ein vielfaches Fortissimo possibile der unterdrückten Zwischenwerte: Figuren, die mit verlagertem Bogenstrich im tonlosen Rauschen verschwinden oder auftauchen, das Pizzicato-Gemisch, das trotz seines flüchtigen Verklingens dennoch vorzeitig teilweise gedämpft, "ausgefiltert" wird. Wenn man so will: ein Plädoyer der Phantasie für des Kaisers neue Kleider.


    noch eine persönliche geschichte zu lachenmanns musik und publikumsreaktionen: 1994 war lachenmann einer der hauptkomponisten bei wien modern. da war ein konzert, offensichtlich für manche ein abonnement-konzert im musikverein mit lachenmanns "tanzsuite mit dutschlandlied". waren manche besucher schon vor der pause ob der "schrägen" musik erzürnt (weis nicht mehr genau, was das war, aber richtig "schräg wars nicht), führte lachenmanns stück dann nach der pause zu heftigen und lautstarken reaktionen: "frechheit", "was sich die erlauben" "das ist ja keine musik" waren da nur die sanftesten äußerungen. die abonnement-besucher verließen in scharen das konzert. eine derartige reaktion ist mir weder vorher noch nachher jemals wieder unter gekommen. fazit: lachenmann und musikverein-abo – das passt wohl nicht zusammen.


    wie seht ihr lachenmanns musik, seht ihr sie überhaupt?
    vielleicht kann jemand etwas über lachenmanns andere werke, v.a. "das mädchen mit den schwefelhölzern" schreiben.


    greetings, uhlmann

  • Ich besitze eine cpo-CD mit vier Kammermusikwerken!



    "Kinderspiel" (Sieben kurze Stücke für Klavier) gefällt mir, es ist witzig, melodiös, dabei klanglich irgendwie morbide. Die Stücke (Hänschen klein, Wolken im eisigen Mondlicht, Akiko, Falscher Chinese ein wenig besoffen, Filter-Schaukel, Glockenturm, Schattentanz) sind äußerst abwechslungsreich und machen nicht nur Kindern Spaß. Ich würde es charakterisieren als eine Mischung aus Debussys Childrens Corner und Schumanns Kinderklaviersachen, aber auf LSD und fürs 23. Jahrhundert.
    Die anderen Stücke* entziehen sich mir, geben mir nix, sind mir vollkommen unverständlich, ist das Musik?
    :untertauch:
    Uninteressant klingts nicht, aber mein Herz bleibt kalt und mein Intellekt bleibt gleichgültig!
    Nono mag ich dafür sehr gern!


    :beatnik:


    *
    Allegro sostenuto für Klavier, Klarinette und Cello und eine Studie(?) über Hall und Resonanz
    Dal niente für Klarinette, bei dem Ein- und Ausatmen oder Klappengeräusche eine zentrale Rolle spielen
    Pression für Cello solo, das klingt als würde ein hyperaktiver Staubsauger neun Minuten lang Todesschreie ausstoßen!

  • Ich habe es versucht. Wieder und wieder. Nämlich, Lachenmanns Musik etwas abzugewinnen. Bis jetzt ohne Erfolg.
    Ich anerkenne seine Intelligenz und seine Konsequenz, immerhin ist Lachenmann einer der wenigen seiner Generation, die keine Sehnsucht nach der Romantik verspüren. Dennoch: Nach mehrfachem Hören verschiedener Werke, Auseinandersetzung mit Partituren, Analyse etc. muß ich leider sagen: "Meine" Musik ist das nicht.
    Lange Zeit konnte ich aber mein Unbehagen nicht wirklich benennen, was denn nun der Grund meiner Ablehnung sei.
    Dann las ich ein Interview mit Pierre Boulez. Boulez sagte sinngemäß, er halte nichts davon, Instrumente zu verfremden, denn Musiker würden alles tun, damit ihre Instrumente ausdrucksvoll, virtuos und schön klingen, ergo habe ein Komponist nicht das Recht, ihnen genau das wegzunehmen.
    Und jetzt bin ich wenigstens meinem Unbehagen mit Lachenmanns Musik ein wenig auf die Schliche gekommen.

    ...

  • Haha, Boulez der Opernhaussprenger ...
    Ist ja auch kein Wunder, wenn die Großmutter in Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern so verdammt verdächtig nach Oma Boulez klingt ...


    Das mit den Musikern ist eine etwas fragwürdige Argumentation, ich kenne so einige, die mit großem Vergnügen "Mißklänge" erzeugen. Das prominenteste Beispiel ist wohl das Arditti-Quartett, das bei Lachenmann so richtig aufblüht. Jetzt bedenke man noch, dass selbst die Barockensembles in den letzten Jahren einer Kratzeuphorie erlegen sind und man muß zum Schluß kommen, dass diese Boulezargumentation überholt ist. (Ich würde geradezu sagen: Lachenmann liegt voll im Trend - was ihn mir wieder ein wenig unsympathischer macht)


    Gerne begründen die Lachenmanngegner ihre Abneigung damit, dass die Instrumente nicht dafür gedacht seinen, was mit ihnen gemacht wird. Eine Argumentation, die mich eher verwundert. Im Grunde ist es doch völlig egal, wofür das Ding gemacht wurde, mit dem man Musik macht, schließlich kommt es nur auf die Musik an. Außerdem wurden die Instrumente im Laufe des 19. Jh. auf ein Klangideal hin verändert, das für Mahler passend ist und seither wurden sie kaum mehr "angepasst". Ist nicht zwangsläufig eine gewisse Diskrepanz zwischen Instrumentarium und gegenwärtiger Ästhetik zu erwarten?


    Sollte der eine oder andre, der mit Lachenmann bisher noch nicht zurechtkam, die Hoffnung noch nicht völlig begraben haben, möchte ich die "Tanzsuite mit Deutschlandlied" empfehlen. Ein mitreißend rhythmisches Stück, klanglich effektvoll, bei dem der Vergleich der Person Lachenmanns mit jener von Berlioz (von einer Bekannten von mir, die Lachenmann vor diesem Stück nicht kannte) mir nicht so unpassend zu sein scheint.

  • Ich anerkenne Lachenmanns "Bemühungen" und rede mich jetzt dumm damit heraus, daß eben "nicht jeder alles mögen muss".
    Vielleicht liegt es an mir, daß seine Werke mich langweilen, aber nachdem, was Edwin zu diesem Thema schrieb, hab auch ich den Mut, das ganz offen zuzugeben. Am "Verfremden" von Instrumenten liegt das ganz sicher eher NICHT; das tun andere auch. Gelegentlich versuch ichs ganz sicher wieder mal mit ihm, im Moment reizt mich das Thema jedoch garnicht :no:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Boulez der Opernhaussprenger


    Ab und zu...
    Ganz selten vielleicht...
    Aber zumindest unter Fachleuten....


    ...sollte es möglich sein, Boulez korrekt zu zitieren. Gerade dann, wenn man sonst so oft Wortklaubereien betreibt. :motz:

    ...

  • Um ein für alle Mal die Vermutungen über Sprengungen von Opernhäusern seitens Boulez in die richtigen Bahnen zu lenken, hier das Zitat, über das ich mich längere Zeit mit Boulez unterhalten habe.
    Es stammt aus den 60er Jahren und lautet: "Die Opernhäuser von heute sind voller Staub und Scheiße. Gespielt wird ein winzig kleines Repertoire mit immer denselben Opern auf der ganzen Welt. Bevor es so weitergeht, ist es besser, man sprengt die Opernhäuser in die Luft."


    Soll heißen: Boulez polemisiert nicht gegen die Opernhäuser an sich, sondern gegen die Beschränkung auf ein Kernrepertoire von rund 25 Werken. Dabei meint er keineswegs, daß nur die Opern der Neuen Musik vernachlässigt würden, er meint auch, daß man Hauptwerke aus Barock und Klassik zuwenig respektiert.
    Und ich finde nicht, daß er da so ganz unrecht hat... :D

    ...

  • Ich trau mich mal wieder hervor.


    Vor ca. 10 Jahren hatte ich mein "Lachenmannerlebnis", das ziemlich vergleichbar war mit meinem jugendlichen "Webernerlebnis". Ein gebanntes Lauschen auf das musikalische Detail, bei Lachenmann insofern noch verschärft, als es wirklich um kleinste Veränderungen der akustischen Signale ging, man fällt gewissermaßen in eine ungemein spannende andere Welt. Oder man bleibt draußen und fadisiert sich. Das kam bei mir auf die Stücke an: Notturno, Tanzsuite und 2 Gefühle wurden Lieblingsstücke, die ich nicht oft genug hören konnte, über alles gleichzeitig entstandene setzte, während mich Allegro sostenuto so einschläferte, dass ich nicht wagte, es nochmals anzuhören.


    Heute muß ich sagen, dass er im Gegensatz zu Webern bei mir sich etwas abgenutzt hat, die Klänge sind allesamt mir genauso alltäglich geworden, wie der normale Geigen- oder was auch immer -ton. Das Lauschen ist also nicht mehr so "gebannt". Dennoch bleiben die oben genannten Lieblingsstücke gern gehörte und recht hoch geschätzte Werke für mich. Genauso bleiben andere Werke ungeniesbar, das Klavierkonzert, das erste Werk, das ich von Lachenmann gehört habe - vor meinem "Erlebnis" - war im Herbst in meinen Ohren genauso uninspiriert zusammenhanglos breitgewalzt wie damals.


    Es ist also möglich, nicht nur Lachenmannfan oder -feind zu sein. Obwohl ich mich nicht mehr als Lachenmannanbeter sehe, würde ich als "die besten 10" der 30ergeborenen momentan folgende nennen:


    1930 - Dieter Schnebel
    1931 - Mauricio Kagel
    1931 - Sylvano Bussotti
    1934 - Vinko Globokar
    1934 - Harrison Birtwistle
    1934 - 1998 Alfred Schnittke
    1935 - Helmut Lachenmann
    1936 - Steve Reich
    1936 - Hans Zender
    1939 - Heinz Holliger


    Das Geräusch hat unter diesen einige beschäftigt, andere nicht, aber Lachenmann ist sicher der "fanatischste" - ich würde doch glatt sagen: Klangfetischist - unter ihnen.

  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Hallo Kurzstueckmeister!
    Die Liste sähe bei mir etwas anders aus, aber trotz meiner Distanz zu Lachenmann wäre er dabei. Er hat immerhin das Denken wesentlich beeinflusst.
    LG

    ...

  • Zitat

    Pbrixius "hört gerade jetzt" am 13.12.2007:
    Helmut Lachenmann: Tanzsuite mit Deutschlandlied. Musik für Orchester mit Streichquartett


    Gegen das übermächtige Deutschlandlied werden zwei andere Lieder gesetzt: "O du lieber Augustin" (man erinnert sich an Schönbergs 2. Streichquartett) und "Schlaf, Kindchen, schlaf". Dazu die metrischen Muster alter Tänze. Ein Werk, das zum Wiederhören einlädt.


    LG Peter


    Ein Werk, das ich so oft gehört habe, wie nicht gar so viele andere ...


    Aber lustigerweise kann ich Schweinsohr die Zitate kaum bemerken, eine Stelle habe ich im Gedächtnis, wo recht stockend der Anfang des Deutschlandliedes gestottert wird, sonst gehe ich genießend im klanglichen Dschungel unter (äh, natürlich französischer Garten).


    Kannst Du die Tracks und Sekunden angeben, wo die Zitate geträllert werden (Arditti-Quartett-Einspielung).
    :hello:


  • Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
    Musik von Helmut Lachenmann mit Bildern in 2 Teilen.
    Texte von Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin, Leonardo da Vinci


    Uraufführung in Hamburg am 27. November 1997


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Und Lachenmanns Schriften ? Er hat wahnsinnig viel publiziert. Das ist doch höchst anregend, ob man nun seine Musik mag, oder nicht. Eines seiner zentralen Themen: Wie lässt sich Sprachlosigkeit überwinden. Lachenmanns Antwort: Jedenfalls nicht mit Illusionen oder Idyllen, und damit entfällt für ihn so einiges, was seine Kollegen als Ausdrucksmittel verwenden.

    "Wahn! Wahn! Überall Wahn!"

  • Ein junger Amerikaner erklärt uns Helmut Lachenmanns zweites Streichquartett "Reigen seeliger Geister" aus dem Jahre 1989