Gennadij Nikolajewitsch Roschdestwenskij
In den Jahren von 1981 bis 1984 war Gennadij Roschdestwenskij Chefdirigent der Wiener Symphoniker. Womit ich die Gelegenheit hatte, die von mir bewunderte Legende der Sowjetdirigenten sozusagen in Fleisch und Blut bei Proben und Aufführungen zu erleben. Besonders spannend war für mich etwa Schostakowitschs 2. Symphonie. Das Werk war von dem Orchester noch nie gespielt und vom Chor noch nie gesungen worden. Also erwartete ich eine detailfreudige Probe, bei der ich mit Partitur aufkreuzte, um das Werk richtig kennenzulernen. Natürlich war ich gleich in der ersten der zwei Proben.
Das Orchester war da, der Chor auch. Dann wuselte Roschdestwenskij herein, begrüßte die Musiker, rief ihnen eine Taktzahl zu und gab den Einsatz: Rund 20 Takte später Abbruch. Nächste Taktzahl, ein Choreinsatz: Etwa 10 Takte, Abbruch, ein paar Korrekturen, nocheinmal. Funktioniert. Noch eine Taktzahl, knapp vor Schluß, durchspielen bis zum Schluß. Danke, jetzt Beethoven...
Offenbar war die Schostakowitsch-Probe für den näcshten Tag angesetzt.
Auch da tauchte ich auf. Roschdestwenskij probte wieder ein paar Abschnitte. Dann spielte er das Werk einmal durch. Daraufhin nahm er sich den Beethoven nochmals kursorisch vor. Durchspielen. Danke, das war's.
Das Konzert war fulminant. Nachher fragte ich einen mir bekannten Musiker, was das bei den Proben gewesen sei. Antwort: "Wieso? Diesmal hat er doch eh geprobt...!"
Mit der Zeit fand ich heraus, daß Roschdestwenskij Proben verabscheut. Irgendwo las ich einmal, er sei der letzte russische Zuchtmeister unter den Dirigenten. Nichts kann mehr an der Wahrheit vorbeigehen.
Roschdestwenskij dirigiert mit langem Taktstock und konstant großer, extrem suggestiver Gestik. Er hat ein glänzendes Reaktionsvermögen, ortet blitzschnell die Quellen von Unsicherheiten und korrigiert sie mit klaren Handbewegungen.
Er ist sich seiner Fähigkeit, ein Orchester aus dem Stegreif zu führen, völlig bewußt und hat auch bei komplexen Partituren nie exzessiv geprobt.
Die Musiker freilich brachte das zur Verzweiflung: Was passiert, wenn was passiert - wenn also im Konzert ein Aussteiger passiert, der nicht so leicht zu korrigieren ist? Die Musiker spielten wohl unter Hochdruck und extremer Konzentration - und die Symphoniker waren nie wieder so gut, spielten nie wieder so explosiv wie unter Roschdestwenskij. Aber die Angst saß ihnen permanent im Nacken.
Schließlich trennte man sich von Roschdestwenskij.
Angeblich ist folgendes passiert: Roschdestwenskij war vor den Wiener Symphonikern in London fix engagiert, und dort wollte er auch bleiben. Die sowjetischen Machthaber beschlossen allerdings, den offenbar mit dem Absprung liebäugelnden Dirigenten wieder näher an die Länder das damals noch existierenden Ostblocks heranzuholen, ihn aber auch gleichzeitig als sowjetischen Musikexport im Westen zu belassen - und da war Wien der richtige Ort. Roschdestwenskij soll daraufhin passiven Widerstand mit Probenverweigerung geleistet haben. Soweit die Fama.
Als ich Gelegenheit hatte, mit Roschdestwenskij zu sprechen, gab er eine andere Auskunft: Er habe in der Sowjetunion gelernt, mit extrem wenig Probenzeit möglichst viel aus einem Orchester herauszuholen. "Manchmal hatten wir eineinhalb Stunden Zeit, um im Tonstudio ein dreiviertelstündiges Werk aufzunehmen, das wir noch nie gespielt und auch nicht geprobt hatten - und die Aufnahme mußte gut genug sein, um auf Schallplatte zu erscheinen." Abgesehen davon ist er überzeugt, daß zuviele Proben der Tod des genialen spontanen Einfalls sind, auf den Musiker sofort reagieren müssen - was sie nur tun, wenn sie keinem endgültig fixierten Interpretationskonzept folgen: "Proben führen zur Routine, und Routine führt zu Langeweile. Aber Langeweile führt nicht zur Musik."
Die langjährige Freundschaft mit dem russischen Komponisten Rodion Schtschedrin wurde sogar gefährdet, weil Roschdestwenskij dessen extrem komplexe Kantate "Poetoria" ohne Probe aufführen wollte. Es waren zwar ausschließlich die Kräfte der Uraufführung beteiligt - aber diese Uraufführung lag rund 5 Jahre zurück...
Dabei probt Roschdestwenskij durchaus auch intensiv - und zwar dann, wenn es der Komponist für etwaige Retuschen braucht. In Wien setzte er für die Uraufführung von Schnittkes halbstündiger "Faust"-Kantate zwei volle Proben an, um dem Komponisten die Möglichkeit zu geben, Verbesserungen anzubringen. Schnittke war glücklich - aber die Musiker waren abermals verzweifelt, denn Schnittke kam alle Augenblicke mit neuen Instrumentierungsideen, die Roschdestwenskij sofort ausprobieren ließ ("2. Oboe, geben Sie Ihre Noten bitte der 1. Trompete., 1. Trompete, tauschen Sie bitte mit der 2. Klarinette, 2. Klarinette, geben Sie ihre Noten bitte der 2. Flöte, 2. Flöte, bitte aufpassen, Sie müssen einen Ganzton tiefer spielen.")
Nun, was ist Roschdestwenskijs Stil? - Schwer zu definieren. Einerseits ein natürlicher Fluß der Musik, ohne nachdrückliche Überbetonungen stilistischer Facetten. Tschaikowskij etwa klingt unter ihm immer noch "russisch", also körnig und herb, entwickelt aber nicht diese Siedehitze wie unter Mrawinskij oder Swetlanow. Präzise Rhythmik und klarer Steigerungsaufbau machen etwa Roschdestwenskijs "Nußknacker"-Gesamtaufnahme exemplarisch.
Bei Bruckner, dessen Symphonien Roschdestwenskij in einem meiner Meinung nach einzigartigen Zyklus vorlegte, gibt es klare Konturen, aber auch breit aufgebaute Steigerungen mit ekstatisch aufstrahlenden Höhepunkten.
Prokofjew wiederum entwickelt Roschdestwenskij ganz aus den rhythmischen Triebkräften - und doch wirken die Ballette, aber auch die Symphonien unter keinem anderen Dirigenten so melodiös und nahezu klassisch schön.
Schostakowitsch wiederum wird bei Roschdestwenskij zum großen pathetischen Tragiker (das Pathos ist dabei echt!), die Symphonien entwickeln, als große musikalische Fresken angelegt, Wucht und atemberaubende Gewalt.
Übrigens ist Roschdestwenskij aus der Geschichte der Neuen Musik Russlands und der Sowjetunion nicht wegzudenken: Seine Sonderstellung nützte er nämlich, um immer wieder verbotene, ins Abseits gestellte Komponisten und Werke doch durchzusetzen: Schostakowitschs expressionistisch-wilde "Nase" etwa - oder die kühne polystilistische Erste Symphonie von Schnittke, dessen 2. Symphonie Roschdestwenskij auch in der Sowjetunion dirigierte, als Werke mit religiösem Inhalt noch weitgehend tabu waren.
Roschdestwenskij hat ein Repertoire von etwa 2000 Werken aus allen Perioden der Musikgeschichte aufgeführt. So nebenbei ist er auch ein leidenschaftlicher Sammler von Büchern und hat mehr Literatur gelesen als so mancher Fachmann. Wo er die Zeit dafür hernimmt? - Vielleicht knipst er sie ja bei den Proben ab...
Biografische Daten
*4. Mai 1931 in Moskau, Sohn des Dirigenten Nikolaj P. Anossow und der Sängerin Natalja P. Roschdestwenskaja, deren Namen er angenommen hat.
1951: Nachdem er schon beim Studium als das sowjetische Dirigentenwunder gegolten hat, debütiert er im Bolschoi-Theater (!) als Dirigent bei der Aufführung von Tschaikowskijs "Der Nußknacker".
Bis zum Anfang der 60er Jahre arbeitet er als Assistent am Bolschoi-Theater und dirigiert während dieser Zeit verschiedene Ballette.
1960-1974: Chefdirigent des Rundfunk-Symphonieorchester der UdSSR.
Ab 1964 war er auch gleichzeitig Künstlerischer Direktor des Bolschoi. In der Folgezeit übernimmt er weiterhin die musikalische Leitung der Moskauer Kammeroper (Erste Aufführung von Schostakowitschs "Nase" seit den 20er-Jahren)
Ab 1975 in Stockholm und London
1981 bis 1984 in Wien bei den Symphonikern.
Ab 1991 war er Leiter der Stockholmer Philharmonie.
1994 wurde er Vorsitzender des künstlerischen Beirates des Bolschoi, 2000 dessen künstlerischer Leiter, 2001 Abdankung nach Verrissen der von ihm angesetzten Aufführung von Prokofjews Oper "Der Spieler"
Gennadij Roschdestwenskij ist nach wie vor in erster Ehe mit der Pianistin Wiktoria Postnikowa verheiratet.
Zu den West-Komponisten, deren Werke unter seiner Leitung erstmals in der Sowjetunion erklangen, gehören Orff, Britten ("Midsummer Night's Dream"), Ravel ("Daphnis" komplett), Hindemith und Bartók.