Stilgeschichte des Jazz- 1. Die Anfänge

  • Dass der Jazz seinen Ursprung in New Orleans hat, ist eine ebenso häufig genannte wie durchaus umstrittene These. Wahr ist, dass sich viele schwarze musikalische Ausdrucksformen in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgrund verschiedener Umstände in New Orleans bündelten. Einflüsse kamen aus vielen Teilen des Landes, doch in der Stadt am Delta fielen sie auf einen fruchtbaren Nährboden, in dem es möglich war, etwas Neues gedeihen zu lassen.


    Die musikalische Vielfalt der schwarzen Bevölkerung Amerikas war in jenen Tagen groß. Schon länger gab es eine Kultur des Gesangs. Diese reichte z. B. vom frühen Gospel über die Lieder der zwar freien, aber unter sklaven-ähnlichen Zuständen arbeitenden Landarbeiter bis hin zu den "Chain Gang Songs", den Gesängen der zum Eisenbahnbau eingesetzten Strafgefangenen.


    Gitarristen und Sänger zogen von Ort zu Ort, texteten und schrieben Lieder über die auf ihren Reisen vorgefundenen Lebenszustände der schwarzen Bevölkerung. Zwar ist der Blues in seiner noch heute gültigen zwölftaktigen Form erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eindeutig nachweisbar. Die ersten Hinweise auf die Musiker des "Country Blues", eben jene Reisenden, datieren jedoch bereits länger zurück.


    Bars, Hotels und Bordelle (hier ließ sich das meiste Geld verdienen) engagierten Pianisten zur Unterhaltung ihrer Gäste. Der Ragtime kam auf, eine Solo-Klavier-Spielweise, die gekennzeichnet war durch einen in der linken Hand durchlaufenden sogenannten "Stride Bass" und eine improvisierende rechte Hand, die allerlei synkopische Melodien dazu improvisierte. Je vertrackter und aberwitziger diese ausfielen, desto mehr stieg der Ruhm des jeweiligen Pianisten. Bekannteste Vertreter waren Scott Joplin und Eubie Blake, der erst 1983 hundertjährig verstarb. Rund um diese Pianisten gruppierten sich soganannte Ragtime Dance Bands, die die Spielart auf ein ganzes Ensemble ausweitete. Manche Geschichtsschreibung meint, der Ragtime sei bereits der erste Jazz-Stil, doch wie so oft, streiten sich die Gelehrten da bis heute.



    Reisende Musiker fanden sich auch in den Vaudeville Shows. Dies waren Varietés, die eine Mischung aus Musik, Tanz, Akrobatik und Clownerie boten und zum Teil zuverlässige Gehälter boten, da die sie manchmal in der Hand zahlungskräftiger Impressarios waren. Musikalisch boten sie eine aberwitzige Mischung aus Blues, Folklore und sogar Operette. Ab 1870 kann man bezüglich des Vaudeville von einer florierenden Vergnügungsindustrie sprechen. Eine perfide Form waren die Minstrel Shows, in denen weiße, geschminkte Schauspieler zur allgemeinen Belustigung das Leben der Schwarzen karikierten. Doch auch hier wurde den Musikern regelmäßig Geld gezahlt, so dass sich auch hier viele dunkelhäutige Musiker verdingten.


    In New Orleans fielen all diese Einflüsse auf fruchtbaren Boden. Die Stadt war so etwas wie der Sündenpfuhl der Vereinigten Staaten. Es beherbergte das größte Rotlicht- und Vergnügungviertel des Landes, das mittels großzügiger Zahlungen an die Politik prächtig gedieh. Die Stadt an der Mündung des Mississippi hatte einen Hafen von Weltbedeutung und damit einen nicht endenden Zustrom an vergnügungswilligen Gästen und Zuwanderern. Zudem beherbergte sie die damals vielfältigste ethnische Einwohnerschaft. Direkte Nachfahren der afrikanischen Sklaven lebten hier neben (zum Teil auch gegen) den kreolischen Schwarzen und denen Lateinamerikas sowie Auswanderern verschiedenster europäischer Länder. Wenn man New York heute als "Melting Pot" bezeichnet, darf man das New Orleans der vorletzten Jahrhundertwende getrost als ebensolchen bezeichnen. So kam es, dass die Stadt Musiker verschiedenster Couleur anzog, da sie die erfolgsversprechendsten Arbeitsbedingungen bot.


    New Orleans war gefüllt mit Marching Bands - marschierenden Kapellen, die zu verschiedenen Anlässen durch die Straßen zogen. Sie spielten zu Festivitäten jeder Art, dem Mardi Gras, zu Beerdigungen, an Feiertagen usw. Trompeter, Posaunisten, Tubisten, Kornettisten, Holzbläser und Trommler bildeten die Besetzung dieser Bands, die ursprünglich Hinterlassenschaften der Musikkorps der Armee waren. Typisch für ihre Art der Musik war der "Two-Beat", die starke Betonung der 1 und 3 eines 4/4-Taktes, was sich später im Jazz grundlegend ändern sollte. Auf dem marschähnlichen Rhythmus-Fundament improvisierten die Bläser, teilweise kollektiv, aber immer harmonisch gebunden.


    Erste Überkreuzungen fanden statt. Ragtime-Stücke, die es zu einer lokalen Berühmtheit gebracht hatten, wurden von den Marching Bands adaptiert. Ragtime-Pianisten übernahmen Motive gängiger Blues-Lieder. Manche Musiker hatten mehere Engagements in unterschiedlichen Bands, waren also mit den verschiedenen Stilen rasch vertraut und begannen, diese zu mischen und eine eigenständige Ausdrucksform zu bilden. Bläser mit besonders improvistorischem Geschick und Ideenreichtum erspielten sich rasch einen besonderen Ruf.


    Die legendärste, nahezu sagenumwobene Gestalt dieser Tage war Buddy Bolden. Der Kornettist gilt als der erste bedeutende Jazzmusiker, war aber lange nicht eindeutig identifizierbar, da sich mehrere Musiker dieses Namens zu der Zeit in New Orleans aufhielten. Tonaufzeichnungen aus der Zeit gibt es nicht. Doch nach neuerem Forschungsstand ist wohl festzuhalten, dass Bolden der überragende Bläser der Stadt war, sich bereits als unumstrittener Leader seiner jeweiligen Bands profilierte und an Lautstärke, Tempo und improvisatorischem Geschick alle anderen übertraf. 1907 verschwand er von der Bildfläche. Wahrscheinlich verbrachte er seine restliche Lebenszeit in einer Heilanstalt, in der 1931 anonym starb.



    Er war der Prototyp der ersten Bandleader, die sich Musiker ihrer Wahl um sich scharten und eigene ästhetische Vorstellungen vom "Sound" ihrer Bands umzusetzen versuchten. Er war auch derjenige, der am deutlichsten versuchte, sein Instrument als Verlängerung der menschlichen Stimme zu betrachten und der davon sprach, "mit seinem Instrument Geschichten erzählen zu wollen". Seiner Zeit voraus war er auch darin, nicht nur den unterhaltungswilligen Ansprüchen seiner Zuhörerschaft zu dienen, sondern dem ihm eigenen Anliegen Gehör zu verschaffen.


    Im New Orleans-Stil bauten die stilprägenden Musiker, allen voran Louis Armstrong, auf seinem Erbe auf.

  • Zum Stichwort Buddy Bolden:


    Michael Ondaatje hat in Romanform das legendäre (und wenig verbürgte) Leben von Buddy Bolden nachgezeichnet


    Buddy Boldens Blues, dtv. Gut lesbar, 175 Seiten.



    Das Buch enthält auch das einzige erhaltene Foto von B.B. Es ist zugleich eine gute Einführung in die Umstände des frühen Jazz.


    Mit besten Grüßen


    Matthias

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.