Kleine Harmonielehre des Jazz

  • Die Anregungen von ‚Barbirolli’ zum Thema „Stilgeschichte des Jazz“ möchte ich aufgreifen und ein wenig zur Harmonielehre sagen. Alle Details lassen sich ausführlicher bei Wikipedia nachschlagen. Doch ist ein kurzer Überblick vielleicht nützlich.


    Blues-Skala. In dem Moment, als die von der westlichen Musik entwickelte Tonalität in eine innere Krise geriet, erhielt sie zugleich von außen eine unerwartete Anregung durch den Zusammenstoß mit der Kultur der Schwarzen in Amerika. Die Blue Notes sind Naturtöne, die in die Tonleitern eingeschoben werden. Das ergibt eine Stimmung zwischen Dur und Moll: Der 3. und 7. und später der 5. Ton sind verschoben. Gleichzeitiges Anschlagen und Wechseln von großer und kleiner Terz. Der Dreiklang von Tonika - Dominante - Subdominante wird ergänzt oder ersetzt durch die kleine Septime. Später wird es noch schräger durch Nonen und ajoutierte Sexten (eine Sekunde über der Quinte). Anders als bei den temperierten Skalen erlauben die Blue Notes den Spielern eine gewisse Freiheit in der exakten Bestimmung der Tonhöhe.


    „Inside – Outside“: Verlassen und Zurückgehen in die Tonart beim Improvisieren.


    "Walking bass": Aus dem basso continuo oder der Ostinato-Figur entwickelt sich eine größere Eigenständigkeit. Der Bass gibt den Takt, aber ist deutlicher zu hören und antwortet auf die anderen Melodien.


    "Call and response pattern": Big-Band-Praxis. Führt den Wechselgesang weiter. "Riff" ist das stark rhythmisierte Motiv.


    "Off beat": Der marsch-orientierte 2/4 bzw. 4/4 Takt mit Betonung auf den Tretstiefel wird verhöhnt durch die Betonung auf die 2 und die 4, häufig durch den "walking bass". Dieser Effekt kann noch durch die Synkopen-Bildung verstärkt werden.


    "Swing": Die gleichförmigen Achteln werden durch kleine Verschiebungen in einen schwingenden Rhythmus versetzt. Das ergibt die typische Dynamik, die immer relaxed bleibt


    "dirty tones": Kehllaute, Falsett, Schleiftöne, ausgiebige Benutzung von Dämpfern, Glissandi, sforzati, "smear-" und "whip" tones und "attack".



    Romare Bearden (1912 - 1988 ): Bopping at Birdland (Walking Bass) (Jazz Series), 1979


    Besonders Ravel hat sich intensiv mit diesen Ideen beschäftigt, wobei er eigentlich nicht Jazz-Elemente in seine Musik eingebaut hat, sondern umgekehrt mit den Mitteln der klassischen Musik Jazzklänge nachbildete. Im Klavierkonzert G-Dur nähert sich die Bitonalität der Blues-Skala. Im langsamen Satz werden polymetrisch ¾ und 3/8 gegeneinander gestellt. Die orchestrale Begleitung wird dadurch eher eine Gegenstimme. Im Konzert für die linke Hand werden im mittleren Teil kleine und große Terz konfrontiert, der anschließende Marschrhythmus nach dem Vorbild des Swing im 6/8 Takt statt im 2/4 oder 4/4.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Solche Merkmale können auch schnell zum Klischee eines Korsettes verkommen. Zum Beispiel dieses Frage Antwort. Ich sehe da einen Haufen Soldaten die gleichzeitig Joggen und nachsingen, was sie vorgesungen kriegen. Dieses Bild gilt es aber zu vermeiden. Es ist mehr wie bei Bach (Himmelskönig sei willkommen) oder noch verrückter.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo Masetto,


    ich verstehe deinen Beitrag nicht. Kannst du vielleicht noch einmal erklären, was du meinst und worin deiner Meinung nach die Gefahr besteht? Vielleicht darin, dass eine allzu offensichtliche Anwendung gewisser Stilprinzipien zu starr wirken können?


    Gruß
    B.

  • Zitat

    Original von Walter.T
    Blues-Skala. In dem Moment, als die von der westlichen Musik entwickelte Tonalität in eine innere Krise geriet, erhielt sie zugleich von außen eine unerwartete Anregung durch den Zusammenstoß mit der Kultur der Schwarzen in Amerika. Die Blue Notes sind Naturtöne, die in die Tonleitern eingeschoben werden. Das ergibt eine Stimmung zwischen Dur und Moll: Der 3. und 7. und später der 5. Ton sind verschoben. Gleichzeitiges Anschlagen und Wechseln von großer und kleiner Terz. Der Dreiklang von Tonika - Dominante - Subdominante wird ergänzt oder ersetzt durch die kleine Septime. Später wird es noch schräger durch Nonen und ajoutierte Sexten (eine Sekunde über der Quinte). Anders als bei den temperierten Skalen erlauben die Blue Notes den Spielern eine gewisse Freiheit in der exakten Bestimmung der Tonhöhe.


    Ich bitte um eine Erklärung, um welche Obertöne (nämlich welchen Grundtons) es sich beim 3., 7. und 5. Tons handelt!


    Besonders der 5. Ton als Oberton des 1. Tons als Grundton entspricht sehr genau dem wohltemperierten.


    Ich frage mich, ob die schrägen Blue Notes wirklich so viel mit den Naturtönen zu tun haben.


    (Vor allem, wenn die Spieler dann Freiheiten haben - spätestens dann ist die Herleitung von den Naturtönen als theoretische Untermauerung dieser Töne ohnehin fragwürdig.)


    Außerdem möchte ich anmerken, dass temperierte Stimmungen in der ernsten Musik abseits der Klaviermusik und der Zwölftonmusik eher die Ausnahme sind.
    :hello:

  • Eine kurze Antwort: 7, 11 und 13.


    Aber das sind genau die Fragen, die ich mir auch stelle, in einem Gebiet, wo ich mich gerade hineinzudenken beginne. So bringt mich dies ein wenig in Verlegenheit. Also bitte weiter nachfragen oder eingreifen, wenn etwas unklar oder falsch ist.


    Für die Blue Notes gibt es ganz unterschiedliche Erklärungsansätze. Mich interessieren allerdings weniger die Harmonie-Lehren, die in Schulen und für Übungen angeboten werden, um z.B. auf der Gitarre Jazz-Improvation zu lernen. Mir scheint am überzeugendsten der Ansatz, dass die Blue Notes zurückgehen auf die Sprechgesänge, die die afrikanischen Schwarzen nach Amerika mitbrachten. Dort fingen sie dann an, etwa die Klänge der Gitarre zu entdecken und dort ähnliche Töne zu suchen. Sie merkten schnell, dass diese nicht in die Tonskalen der Weißen passten.


    Am klarsten fand ich daher Texte, die entweder vom Naturton- (Oberton-) Singen oder vom Experimentieren mit ungeklärten Klängen ausgingen. Hier kann ich empfehlen: Res Margot und
    Johannes Kotschy . Die Blue Notes kommen vom 7., 11., und 13. Oberton. Für sie gibt es verwirrend viele Namen: 7: Naturseptime, kleine oder erniedrigte Septime. 11: arabische Terz, Alphornfa, erniedrigte oder kleine Terz, übermäßige None, übermäßige Sekunde. Nur für die 13 fand ich lediglich den Ausdruck: 3. Blue Note.


    In der klassischen Musik wurden alle Obertöne ab dem 7. Oberton ausgespart. Während die ersten 6 Obertöne als harmonisch gelten, gelten alle weiteren als Basis für die dissonanten Intervalle. Eine wahre Fundgrube sind die Texte von Rudolf Frisius.


    Ähnlich geht es auch den Intervallen mit der Zahl 7. Insbesondere das Intervall der Naturseptime 4 : 7 müsste gehörphysiologisch harmonisch klingen, ist aber seit den Pythagoreern in der westlichen Musik ausgeschlossen. Ebenso das Intervall 5 : 7. Dazu hieß es kurz und bündig: „Mi contra fa, diabola in musica“. Das ist der Tritonus.


    Für mich als Mathematiker ist faszinierend, hier einmal mehr die Bedeutung der 7 und der ihr folgenden Primzahlen zu sehen. Was uns als schön bzw. harmonisch klingt, kann im Grunde bis heute nicht plausibel erklärt werden. Es wirkt willkürlich. Die Bedeutung ist in der pythagoreischen Zahlenmythologie verborgen und wurde bis ins 20. Jahrhundert nicht infrage gestellt. Seit Platon hat ihre Einhaltung politische Bedeutung und soll auf einer ganz tiefen seelischen Ebene die Anerkennung von Autorität verankern. Während dann die Avantgarde in völlige Beliebigkeit ausbrach, hat der Jazz einen Weg gefunden, auf ganz unverkennbare Art die Tonsysteme zu erweitern.


    Übrigens gab es einen Vorläufer, als im 13. Jahrhundert ausgehend von der englischen Volksmusik die Terz (und damit die Dur-Tonarten) eingeführt wurden. Auch die Terzen galten als besonders sinnlich und aggressiv. Die pythagoreische Musik ließ nur Oktaven (1:2), Quinten (2:3) und Quarten (3:4) zu. (Aber das ist ein Thema für sich, ihre Bedeutung für die Mehrstimmigkeit und schließlich ihr Siegeszug mit den Dreiklängen.)


    Ähnlich scheint mir daher am wahrscheinlichsten, dass die Blue Notes des Jazz aus den Naturtönen entstanden sind. Es wurden dann Stellvertreter gesucht, die einigermaßen in die bekannten Tonsysteme passen. Da das letztlich unbefriedigend blieb, werden diese Noten unsauber (dirty) gespielt, so dass sie sich den Naturtönen stärker annähern lassen.


    Anmerkung: Masetto, du hast natürlich recht, dass diese Noten nur sehr sparsam und sorgfältig eingesetzt werden dürfen, sonst entsteht ein neues Klischee. Mich würden allerdings auch Beispiele interessieren, an die du hier denkst.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Nein "Frage Antwort" braucht nicht sparsam eingesetzt werden. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass dieses einfach klingende Prinzip auch sehr komplex ausgeführt werden kann - komplexer, als der Begriff "Frage-Antwort" vermuten lässt. Theoretisch ist es meiner Meinung nach sogar möglich zwischen Frage und Antwort ganze Fugen zu spinnen - auch im Jazz.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Walter.T
    In der klassischen Musik wurden alle Obertöne ab dem 7. Oberton ausgespart. Während die ersten 6 Obertöne als harmonisch gelten, gelten alle weiteren als Basis für die dissonanten Intervalle. Eine wahre Fundgrube sind die Texte von Rudolf Frisius.


    Manchmal frage ich mich, wieso der Dominantseptakkord ein solcher Standartakkord wurde. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass es an der Nähe der Sept (des Dominantseptakkords) zum 7. Oberton (dessen Grundtons) liegen könnte. Aber ich halte das für eine müßige und fragwürdige Überlegung meinerseits.


    Zitat

    Was uns als schön bzw. harmonisch klingt, kann im Grunde bis heute nicht plausibel erklärt werden. Es wirkt willkürlich.


    Genau. Drum die Beliebigkeit in der Moderne ...


    :hello:

  • Sehr empfehlen kann ich folgendes Buch, das einen sowohl lehrreichen als auch unterhaltsamen Einstieg in das Harmoniegerüst des Jazz gibt.
    Auf der CD befinden sich viele Hörbeispiele, die im Buch als Notentext zu finden sind.
    Der Autor führt den Leser sehr behutsam und IMO didaktisch gewandt an das Thema heran.


    Dieses Buch eignet sich jedoch NICHT NUR als Harmonielehre im Jazz, sonern auch als guter Einsiteg in die klassische Harmonielehre.


    Neben dem recht anspruchsvollem Werk von de la Motte (funtionelle Harmonielehre), gesellt sich dieses Buch, was für alle geeignet ist, die sich in Jazz-Harmonielehre üben wollen und solche, die sich bisher auch noch nicht in klassischer Harmonielehre auskennen und einen guten Einstieg suchen!



    LG
    Wulf.