Die Bachkantate (004): BWV36: Schwingt freudig euch empor

  • Leipzig, Viertel vor Sieben am Morgen


    Eine erste trübe Ahnung von Morgenlicht sickert durch die Gassen von Leipzig, als die Kirchgänger am 2. Dezember vor 275 Jahren fröstelnd im Dunklen zum Gottesdienst eilen. Kerzen beleuchten schwach die ungeheizte Kirche. Wir dürfen uns das Wetter nass und kalt vorstellen: 1731 gab es einen frühen, eisigen Winter, berichten Wetterchroniken. Um 7 Uhr beginnt das Amt, so nannten sie in Leipzig den Hauptgottesdienst, und es würde nicht vor 10 Uhr zu Ende sein. Wenn Pastor Deyling wieder über eine Stunde lang predigte, sogar erst um halb Elf. Wenn bloß der Kantor nicht wieder so entsetzlich lange singen lassen würde, wie schon am vorigen Sonntag! „Wachet auf“ hatten die Schüler gerufen, und wirklich waren in den hinteren Bänken einige aus dem Halbdämmer hoch geschreckt, obwohl sie das Lied doch alle kannten: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Sicher, hübsche Musik, aber eine halbe Stunde hatte es bestimmt gedauert. Ob es wohl diesmal schneller gehen würde?


    Heute wissen wir: Nein, es würde nicht schneller gehen. Auch die Kantate „Schwingt freudig euch empor“ dauert ihre 30 Minuten, die erste Hälfte vor der Predigt, die andere beim Abendmahl. Aber sonst wissen wir fast nichts; und natürlich schon gar nicht, wie nah unser kleines Stimmungsbild oben an der Wirklichkeit ist. Wir können nur vermuten.


    Gut 30.000 Einwohner hatte Leipzig damals, das ist aus heutiger Sicht nicht viel. Damals jedoch fühlte man sich als Weltstadt. Und die Kirchen waren voll, der Kirchgang eine Selbstverständlichkeit. Schon vor dem dreistündigen Amt gab es, früh um 5.30 Uhr, eine Mette, um 11.30 Uhr folgte die Mittagspredigt, auch einen Gottesdienst am Nachmittag soll es noch gegeben haben. Frömmigkeit prägte das Leben, nicht nur das öffentliche. Sicher wird es auch Leute gegeben haben, die extra zur Kirche gingen, um die neueste Komposition des Kantors Bach zu hören. Aber werden es viele gewesen sein? Wiederum: Wir wissen es nicht. Einerseits: Der Anteil der Menschen, die mit rindsledernen Trommelfellen durchs Leben gehen, dürfte damals kaum geringer gewesen sein als heute. Und außerdem war Kirchenmusik normal, gewöhnlich – es gab ja jede Woche eine neue Kantate. Andererseits: Die Kirchenmusik war eine allwöchentliche Attraktion. Denn das tägliche Leben war, mit heute verglichen, leer von Musik, und die Kirche fast der einzige Ort, wo Instrumente erklangen.

    Womit wir allmählich an das Ziel dieser etwas langatmigen Einleitung kommen. Musik hören hieß zu Bachs Zeiten, dass man ein Werk sehr selten, oft sogar nur ein einziges Mal hörte. Unvorstellbar damals, dass man die gleiche Musik wieder und wieder abspielen lassen konnte, in verschiedenen Fassungen, von unterschiedlichen Orchestern. Niemand war damals, an einem trüben Dezembermorgen in Leipzig vor 275 Jahren, in der Lage, ein hoch kompliziertes Kunstwerk so zu verstehen und zu würdigen, wie uns das heute selbstverständlich geworden ist. Bachs Werke, die damals Musik für den Moment waren, sind uns Gegenwärtigen zur Musik für die Ewigkeit geworden.


    Und nun, endlich, legen wir die Musikkonserve in den Player und drücken auf Start: Schwingt freudig euch empor, BWV 36.



    Besetzung, Entstehungszeit, Text


    Besetzung
    Soli: S T B, Coro: S A T B, Oboe d'amore solo, Oboe d'amore I/II, Violino solo, Violino I/II, Viola, Continuo


    Entstehungszeit
    Erste Aufführung 2. Dezember 1731 (1. Adventssonntag) in einer der Leipziger Kirchen.


    Text
    Umdichtung vielleicht von Christian Friedrich Henrici (Picander); 2,6,8: Martin Luther 1524; 4: Philipp Nicolai 1599.






    Für die Texte, Besetzungen und weiteren Daten der Kantaten BWV 36a „Steigt freudig in die Luft“, 36 b „Die Freude reget sich“ und 36 c „Schwingt freudig euch empor“ verweise ich auf die Internetseite von Walter F. Bischof (University of Alberta, Canada), von der ich auch den Kantatentext oben genommen habe: http://www.cs.ualberta.ca/~wfb/bach.html

  • Bachkantate 36 – das Prinzip Wiederverwertung



    Fünf Fassungen sind von der Kantate BWV 36 bekannt, drei weltliche und zwei geistliche – ein schönes Beispiel für das Geschick des großen Komponisten Bach, Musik zu recyclen.


    Die früheste bekannte Komposition dieses Werkes ist von 1725, da war Bach seit zwei Jahren in Leipzig. Wahrscheinlich für den 50. Geburtstag des Professors Johann Burckhard Mencke schrieb Bach eine Huldigungsmusik, neun Sätze im Wechsel Rezitativ-Arie-Rezitativ-Arie, vorn und hinten je einen Chor: „Schwingt freudig euch empor“, heute BWV 36c. Der Text wurde ziemlich sicher von dem damals 25-jährigen Dichter Christian Friedrich Henrici, Künstlername Picander, verfasst.


    Ein Jahr später holte Bach die Musik wieder aus der Schublade. Der 24. Geburtstag von Charlotte Friederike Amalia von Anhalt-Köthen, der zweiten Frau seines früheren Dienstherrn Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, war zu feiern. Was auf einen Professor passt, passt auch für eine junge Fürstin aus nassauischem Adel. Picander schrieb den Text um, jetzt hieß die Kantate „Steigt freudig in die Luft“ und hatte erneut neun Sätze (BWV 36a).


    1735, zehn Jahre nach der „Uraufführung“ – Fürst Leopold war da schon tot, die Fürstin Charlotte in Ostfriesland neu (unglücklich) verheiratet – galt es erneut einen Professor in Leipzig zu ehren. Der Jurist Johann Florens Rivinus wurde Rektor der Uni (dies jedenfalls gilt als der wahrscheinlichste Anlass), zu der Feier erklang die Bachkantate 36 b: „Die Freude reget sich“. Den weitgehend neuen Text lieferte wohl wieder der fleißige Picander. Diesmal hatte die Kantate acht Sätze.


    Zwischendurch arbeitete Johann Sebastian Bach die Kantate zweimal zu geistlichen Werken um. Beim ersten Mal, irgendwann zwischen 1726 und 1730, nahm er die Sätze 1, 3, 5 und 7 der ersten Fassung und fügte als fünften Satz die letzte Strophe des Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ von Philipp Nicolai an, um einen Bezug zum Advent herzustellen.


    1731 schließlich entschloss sich Bach, die Kantate gründlich neu zu gestalten. Eingangschor und Arien behielt er bei, verbesserte sie aber an vielen Stellen. Ob die Umdichtung erneut von Picander stammt, ist nicht sicher. Zwischen diese Stücke schob Bach aber nicht Rezitative, sondern Choralbearbeitungen des Luther-Liedes „Nun komm, der Heiden Heiland“ – seinerzeit das beliebteste Adventslied, versichert Bach-Kenner Alfred Dürr. Die Kantate wurde zweiteilig, der ursprüngliche Schlusschoral kam an das Ende des ersten Teils, nun mit der vorletzten Strophe des Nicolai-Liedes, an den Schluss kam die letzte Strophe des lutherischen Adventsliedes. Wie in der allerersten Fassung heißt die Kantate (BWV 36) „Schwingt freudig euch empor“.


    Es ist immer wieder verblüffend, zu hören, wie diese Werk-Parodien bei Bach funktionieren. Die ursprünglich für weltliche Anlässe geschriebene Musik scheint problemlos für die Aufführung in der Kirche zu passen. Das liegt nicht nur an der sorgfältigen Überarbeitung durch Bach. Sicher macht da auch die Hörerwartung viel aus. Wer zu einem Konzert mit dem Weihnachtsoratorium geht, erwartet weihnachtliche Musik; prompt klingt ihm die Musik auch weihnachtlich, obwohl der größte Teil aus runderneuerten Arien weltlicher Kantaten besteht. Verblüffend auch, dass oft – zum Beispiel in dieser Kantate BWV 36 – nicht einmal ein völlig neuer Text notwendig ist. Die weltliche Vorlage wird nur in ein paar Wörtern geändert – schwupps, schon stimmt es. Nehmen wir als Beispiel die Sopran-Arie Nr. 7. In der Ursprungsversion beginnt sie:


    Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
    Verkündigt man der Lehrer Preis.


    Für die junge Fürstin erklang dann diese Version:


    Auch mit gedämpften schwachen Stimmen
    wird, Fürstin, dieses Fest verehrt.


    Und in den Kirchenkantaten wurde daraus:


    Auch mit gedämpften schwachen Stimmen
    Wird Gottes Majestät verehrt.


    Erst bei der zeitlich letzten Umarbeitung, die für den Universitätsjuristen, ließ sich Picander etwas anderes, wenn auch immer noch ähnliches, einfallen:


    Mit zarten und vergnügten Trieben
    Verehrt man deine Gütigkeit.


    Die säkularen Kantaten haben in der Geschichte der Bachkantate lange im Schatten der Kirchenkantaten gestanden, ohne dass so recht ein Grund dafür erkennbar ist. Das ist auch bei den verschiedenen Fassungen der Kantate BWV 36 so – wobei hier allerdings die Kirchen-Fassung II tatsächlich die musikalisch reichste und reifste ist. Von dieser Fassung gibt es, soweit mir bekannt, zwölf Aufnahmen. BWV 36 b ist in zwei, die 36 c in vier Einspielungen erhältlich. Für die 36 a gilt die Musik als verschollen.


    Alfons

  • Nanu? Schon 24 Stunden im Netz und noch keine Antwort? Dann mache ich mal direkt weiter mit meinen Hörerfahrungen bei dieser wunderbaren Bachkantate.


    Ein musikalisches Wechselbad


    Unser anonymer, noch etwas verschlafen-unwirscher Kirchenbesucher von 1731, den ich in der Einleitung zu dieser Internet-Diskussion habe zu Wort kommen lassen, bekam eine außergewöhnliche Kantate zu hören. Außergewöhnlich schon in der Form. Chor und Arien – als Wiederverwertungen einer weltlichen Kantate – folgen der damals modernen, an die italienische Kammerkantate angelehnten Form, die der ansonsten strenggläubige Theologe Erdmann Neumeister (1671 – 1756) in der evangelischen Kirche durchgesetzt hat. Statt der Rezitative fügte Bach in der endgültigen Fassung der Kirchenkantate Choralstrophen ein, „offenbar suchte Bach hier einen neuen Weg zur Synthese der modernen Kantate mit dem Choral“, schreibt Alfred Dürr (Bach: Die Kantaten S. 109). Drei Strophen des von Martin Luther geschriebenen Adventsliedes „Nun komm der Heiden Heiland“, der deutschen Version des altkirchlichen „Veni redemptor gentium“, und die vorletzte Strophe des Nicolai-Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ bieten einen deutlichen Gegensatz zu den vier aus der Glückwunsch-Kantate übernommenen Teilen.


    Außergewöhnlich auch der musikalische Einfallsreichtum Bachs. Von dem markanten Schluckauf-Motiv des ersten Satzes bis zu der Ohrwurm-Melodie der Sopran-Arie: eine Fülle grandioser Musik. Innig und von kühner Expressivität zugleich ist der 2. Satz, das Choral-Duett auf „Nun komm der Heiden Heiland“. Wunderschön auch die Nr. 3, eine Tenor-Arie, in der Gesangsstimme und Oboe d’amore im Tanzrhythmus eines Passepied die Liebe feiern. Weil es eine Kirchenkantate ist: die Liebe zu Jesus. Im zweiten Teil sogleich die fröhliche Bass-Arie, der man die Herkunft aus der Glückwunsch-Kantate am deutlichsten anhört. Kühn dann der abrupte Wechsel zum nächsten Satz, dem vom Tenor gesungenen Choral „Der du bist dem Vater gleich“: sehr ernst, sehr streng. Luther berichtet hier vom Kampf mit Christi Hilfe gegen das menschlich-sündige „krank Fleisch“, Bach lässt über die getragene Melodie hinweg zwei Oboi d’amore diesen Kampf ausfechten. Und dann gleich wieder das Wechselbad, hinein in die liebliche Sopranarie „Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen“. Wenn schließlich schlicht und vierstimmig die Kantate mit einem Choral endet, ist man so angefüllt mit herrlichster Musik...


    Der Text der Kantate ist nicht einfach zu verstehen. Das liegt zum einen an der Mischung mehrerer Sprachsorten: das archaisch-schlichte Lutherdeutsch der drei Choralstrophen, die barocke Bildsprache Nicolais, dazu drittens die auf kirchlich umgebogenen servilen Auslassungen der Glückwunsch-Kantaten, das ist schon ein wunderliches Gemisch. Im Zentrum steht wie so oft in den Kantaten das Bild von Jesus als Bräutigam der Seele, verquickt mit der Schilderung des Advents als ernster, wenn auch von Hoffnung begleiteter Vorbereitungszeit. Bekämpft die Sünde, macht mit der Kraft der Liebe und des Glaubens Platz in euren Herzen für den, der da kommen wird, den Herrn der Herrlichkeit – das ist der Appell dieser Kantate.



    Lutherisches Saitenspiel


    Schließlich habe ich noch eine Antwort gesucht auf die Frage, was das denn für ein Musikinstrument sei, das man laut Nicolai auch in der stillen Adventszeit freudenreich erschallen lassen soll: Cythara? Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die Cythara oder Kithara ist eine kleine Harfe, etwa größer als eine Lyra. Schon auf griechischen Vasen gibt es Abbildungen davon, sie war auch im Mittelalter gebräuchlich. Das Wort Gitarre leitet sich von ihr ab.


    Vielleicht hat Nicolai aber eine Cittern gemeint, ein mittelalterliches Instrument, das einer Laute recht ähnlich sah. Dieses Musikinstrument sei, so fand ich im Internet, in Deutschland auch „Lutherzither“ genannt worden, weil Mönch Martinus eine solche gespielt haben soll. Und eine mandolinenähnliche Bauart der Cittern, die man am besten mit einer heutigen griechischen Bouzuki vergleichen könne, sei auch „cythara Italica et Germanica“ genannt worden. Das ist doch mal eine völlig neue Vorstellung: Martin Luther als Bouzuki-Spieler.



    Die Interpretationen


    Zwölf Einspielungen der Kantate BWV 36 liegen, so weit mir bekannt, vor. Davon habe ich mir fünf angehört. Außerdem gibt es von den säkularen Fassungen BWV 36 b und c zwei bzw. vier Aufnahmen. Hiervon kenne ich lediglich die Berliner Aufnahme 1979 von und mit Peter Schreier; ich stelle sie am Schluss vor.


    Ach, und wie bereits vor einer Woche erwähnt: Die folgenden Beschreibungen sind selbstverständlich subjektiv und geben vor allem meine Eindrücke beim Hören wieder. Ich gehe davon aus, dass jeder Musikfreund diese und alle anderen Bachkantaten auf seine eigene Art hört und versteht.



    Ramin
    „Das ist ja entsetzlich“ war mein erster Höreindruck. Der Chor weit entfernt von jeder Homogenität. In jeder Lage hört man einzelne Stimmen herausschreien. Der Kontrabass übertönt fast die Oboe. Der Tenor singt, als säße er unter einer Käseglocke. Gruselig. Erst nach einigem Hören wurde mir klar, dass die Aufnahmetechnik, sofern man dieses Wort überhaupt benutzen kann, den größten Teil des schlimmen Eindrucks verantwortet. Wenn man sich die Umstände der Aufnahmen aus dieser Zeit klar macht, wundert man sich, dass überhaupt etwas einigermaßen Anhörbares heraus kam. Es handelt sich um Mitschnitte für den Rundfunk, mono mit nur wenigen (wenn nicht gar mit nur einem) Mikrophon aufgenommen. Da wundert es nicht, wenn einige Choristen besonders laut herausschallen – sie standen eben näher am Mikro. Dieter Ramin, Sohn des 1956 verstorbenen Thomaskantors, hat später beschrieben, wie froh man war, wenn im Gewandhaus aufgenommen wurde, dann konnte man die Aufführung im Gottesdienst der Thomaskirche vorher als Generalprobe nutzen. Denn: „Selten war es möglich, die Kantate mit dem Orchester zu proben.“ Diese Aufnahme hier hat Günther Ramin übrigens in der Thomaskirche dirigiert, also ohne Generalprobe.


    Selbst diese mildernden Umstände abgerechnet ist mir das Hören der Aufnahme mehr Last als Lust. Was an Positivem nach mehrmaligem Durchhören übrig bleibt, sind wenige Einzelheiten. Ein beherzter Bass in Satz Nr. 5. Im 6. Satz, der Choralbearbeitung „Der du bist dem Vater gleich“, singen die Tenöre des Thomanerchors den Solopart, und das richtig gut. Und die Solo-Geige am Anfang der Sopranarie Nr. 7 spielt feinnervig und voller Herz, wenn auch nicht mit „gedämpften Saiten“. Dann allerdings kommt der Einsatz der Sopranistin, und damit ist die Grenze meiner Leidensfähigkeit erreicht. Ramin hat bei dieser Arie auf den da-capo-Teil verzichtet, wahrscheinlich, weil die Rundfunkaufnahme mehr als eine halbe Stunde Gesamtlänge nicht zuließ. Angesichts der Darbietung der Sopranistin zähle ich diesen Verzicht unter die Vorzüge der Aufnahme.


    Günther Ramin 1952, Thomaskirche Leipzig
    Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig
    Elisabeth Meinel-Asbahr Sopran, Solist der Thomaner Alt, Rolf Apreck Tenor, Johannes Oettel Bass
    Länge 29.21 Minuten (4.44 / 5.25 / 3.43 / 1.52 // 4.03 / 2.39 / 5.55 / 0.58 )



    Harnoncourt
    Wo bleibt die adventliche Freude? Die ganze Kantate – fast die ganze Kantate – wirkt auf mich bedrückend und traurig. Schon wenn im Eröffnungschoral der Chor muffig-dumpf einsetzt – da schwingt sich niemand freudig empor!


    Vielleicht liegt es auch an dem näselnden Klang der alten Oboen, dass mich in sieben von acht Sätzen die Begeisterung meidet wie das Torglück den Hamburger SV, um einmal einen sehr kühnen Vergleich zu wagen. Und apropos Oboen: dieses dauernde leise mechanische Klacken in den Sätzen 3 und 6, sind das die alten Instrumente oder steht da halbrechts ein Tontechniker, der ständig Streichhölzer knickt?


    Kurt Equiluz singt die Tenorarie (Nr. 5) sehr schön. Aber es klingt nicht, wie ich es erwarten würde, liebend, sondern auch bei ihm eher traurig, als könne er sich der Tendenz dieser Aufnahme nicht entziehen. Aber dann...


    Dann kommt die Sopran-Arie und haut dich um.


    Wieso eigentlich wird in CD-Heftchen jeder erwachsene Sänger und jede erwachsene Sängerin, und seien sie noch so grottenschlecht, namentlich aufgeführt? Und wenn ein Kind den Solo-Part hat, steht da nur „Soloist of the Wiener Sängerknaben“ – als sei die Leistung nicht einmal wert, den Namen dieses Solisten zu nennen? Was ja in manchen Fällen auch so sein mag... Aber in diesem nicht.


    Die Arie „Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen“ zählt für mich zu den schönsten, die Bach geschrieben hat. Hier, in dieser Aufnahme, ist sie geradezu überirdisch schön. Welch ein Trio! Das einfühlsame Violinspiel von Alice Harnoncourt, dazu Nikolaus Harnoncourts warme, souveräne Cellobegleitung, und im Vordergrund die schlichte und klare Sopranstimme des namenlosen jungen Sängers – hier haben sich drei Künstler zu einem innigen, weltvergessenen Musizieren zusammen gefunden, das zu Tränen rühren kann. Dass dem Sänger ein paar Mal die Luft knapp wird, er an falschen Stellen atmen muss – es ist nicht wichtig, kann diesmal die zauberische Stimmung nicht stören. Immer und immer wieder will ich diese acht Minuten Musik hören.


    Nikolaus Harnoncourt 1974
    Wiener Sängerknaben, Concentus musicus Wien
    Solist der Sängerknaben Sopran, Paul Esswood Counter-Tenor, Kurt Equiluz Tenor, Ruud van der Meer Bass
    Länge 30.02 Minuten (4.08 / 3.46 / 5.40 / 1.31 // 4.12 / 1.51 / 8.14 / 0.40)



    Rilling
    Das ist ein schönes Gefühl, sich nach dem kritischen Hören einer Kantate zurück lehnen zu können und zufrieden zu murmeln: „Hm, hier stimmt doch eigentlich alles, oder?“


    Der exzellente und, noch wichtiger, exakte Chor fällt mir als Erstes positiv auf. Im 2. Satz, dem von Alt und Sopran gesungenen Choral-Duett, machen Gabriele Schreckenbach und Arleen Augér endlich einmal deutlich, wie musikalisch komplex dieses schwierige Stück Musik ist, und wie man diese Schwierigkeiten brillant bewältigt. Die Tenorarie Nr. 3 – Peter Schreier singt sie entschlossen, kernig. Von sanften Schritten und entzückten Bräuten ist da leider nicht viel spürbar, auch wenn ihm die Musik eine lieblichere Gangart nahe legt. Beim Choral „Zwingt die Saiten in Cythara“ fällt mir nur ein, dass es schön wäre, wenn die Bach-Chöre sich einmal auf eine einheitliche Aussprache des Wortes einigen könnten. Bei Harnoncourt und Rilling heißt das Ding -Tara, bei Gardiner und Leusink -Tara. „Willkommen, werter Schatz“ singt Walter Heldwein in der Bass-Arie zum Beginn des zweiten Teils brillant und einfühlsam – ein Höhepunkt der Aufnahme.


    Absolut überzeugend: der Tenor-Choral (Nr.6). Ist Rilling wirklich der Einzige, der begriffen hat, worum es hier geht? Peter Schreier singt die langen Noten fest, trutzig, wie ein Glaubenszeugnis. Hoch darüber liefern sich die beiden virtuos gespielten Oboi d’amore einen Kampf um den Sünder unten. Großartig gemacht.


    Wie soll die Sopran-Arie „Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen“ gesungen werden: Flott-heiter-beschwingt? Oder innig-sanft-zögerlich? Ramin, Harnoncourt, Gardiner und Leusink – sie alle gehen das Stück langsam an und sprechen mir damit sehr zu Herzen. Rilling hingegen (und mit einer völlig anderen Auffassung auch Schreier) nimmt das Stück flott, tänzerisch – und siehe da, auch diese Interpretation ist einleuchtend und tragfähig.


    Helmuth Rilling 8/1980-3/1982, Gedächtniskirche Stuttgart
    Gächinger Kantorei Stuttgart, Bach-Collegium Stuttgart
    Arleen Augér Sopran, Gabriele Schreckenbach Alt, Peter Schreier Tenor, Walter Heldwein Bass
    Länge 28.45 Minuten (4.40 / 4.06 / 5.31 / 1.46 // 3.48 / 1.57 / 6.08 / 0.49)



    Gardiner
    Gelegentlich habe ich bei Kantaten von John Eliot Gardiner den Eindruck, er malt sein musikalisches Gemälde mit allzu sanften Farben. Harte Kontraste verschwimmen ein wenig, alles wirkt harmonisch, schön und weich gespült. Bei dieser Kantate geht es mir so.


    Sich darüber zu beschweren ist natürlich ein Jammern auf sehr hohem Niveau. Mit der Gefahr, völlig falsch zu liegen. Zum Beispiel beim 2. Satz. Was Petra Lang und Nancy Argenta hier singen, ist wesentlich inniger, intimer als das brillante Duo Schreckenbach/Augér bei Rilling. Aber ist diese Innigkeit nicht die richtigere Einstellung, wenn wir einmal auf den Text schauen? Da ist von der Jungfrauengeburt die Rede, „des sich wundert alle Welt“, da sollte doch wohl ein inniger Gesang angebracht sein. Ebenso der 3. Satz. Hat der Autor dieser Zeilen nicht selber bei mehreren anderen Einspielungen bemängelt, dass von der Sanftheit und Liebe, von denen der Text handelt, in der Interpretation so gar nichts zu hören ist? Nun, hier bitteschön ist der Wunsch erfüllt. Anthony Rolfe Johnson singt die Arie honigsüß. Was also will dieser Herr Rosch eigentlich?


    Nun, er will, dass nicht jede Arie, nicht jeder Choral mit gerundeten Ecken daherkommt. Bei Stücken wie der Nr. 6, dem Choral „Der du bist dem Vater gleich“, geht das nämlich schief. Da wird die archaische Strenge des Choraltextes und der Choralmelodie durch das sanfte Gezeter der Oboen ins Niedliche gezogen. Und das findet der Autor unpassend.


    Vergessen wir aber nicht, dass dies wirklich Jammern (von mir) auf sehr hohem Niveau (von Gardiner) ist. Womit wir bereits bei meiner Lieblingsarie dieser Kantate angelangt sind. Regler hoch drehen, Augen schließen und hören, hören: ach, ist das schön! Fast neun Minuten nehmen sich Nancy Argenta und John Eliot Gardiner für dieses wunderbare Stück Musik Zeit, und jede Sekunde ist phänomenal.


    John Eliot Gardiner Januar 1992 Blackheath Concert Halls, Great Hall, London
    Monteverdi Choir, English Baroque Soloists
    Nancy Argenta Sopran, Petra Lang Mezzosopran, Anthony Rolfe Johnson Tenor, Olaf Bär Bariton
    Länge 28.26 Minuten (4.11 / 3.21 / 4.51 / 1.18 // 3.32 / 1.44 / 8.54 / 0.35)



    Leusink
    Leusinks Auffassung, wie diese Kantate zu spielen sei, scheint der von Gardiner sehr ähnlich. Beide erwarten die Adventszeit in sanfter Vorfreude; von ernsten Ermahnungen, das sündhafte Herz zu bessern, ist hier zumindest musikalisch nichts zu vernehmen. In der Bass-Arie (Nr.5) gefällt mir das ausnehmend gut. In der Tenor-Arie Nr.3 nicht – Leusink gestaltet sie noch sanfter, milder, langsamer; das wäre nicht nötig gewesen, Tenor Knut Schoch wirkt auch ohne diese Nachhilfe auf mich wie eine Schlaftablette.


    Es ist nicht der einzige Mangel, den ich bei dieser Aufnahme empfinde. Der Holland Boys Choir, sonst sehr verlässlich, wirkt diesmal nicht homogen. Im Choral „Nun komm, der Heiden Heiland“ finden Counter-Tenor Sytse Buwalda und Sopran Ruth Holton nicht zusammen. Die eigentümlich fahle Stimme von Buwalda ist ohnehin nicht jedermanns Sache, er scheint aber auch die Schwierigkeiten dieses Chorals nicht ernst genug genommen zu haben. Für den Tenor-Choral Nr. 6 gilt das Gleiche, was ich schon bei Gardiner angemerkt habe.


    Tja. Bleibt die Sopran-Arie. Ruth Holton singt sie, wie zu erwarten, himmlisch schön. Ich finde sie anbetungswürdig. Leider kann ich mir die Arie nicht anhören. Weil es bei der Einspielung niemand für nötig gehalten hat, der Sängerin, deren Deutsch sonst so perfekt ist, zu sagen, wie man das Wort „Majestät“ ausspricht. 14-mal kommt das Wort „Majestät“ in der Arie vor, und 14-mal singt Ruth Holton „Majeschtät“. Und dazu kann ich mich nicht überwinden.


    Pieter Jan Leusink Jan./Feb. 2000 St. Nicolaskirche, Elburg, Holland
    Holland Boys Choir, Netherlands Bach Collegium
    Ruth Holton Sopran, Sytse Buwalda Counter-Tenor, Knut Schoch Tenor, Bas Ramselaar Bass
    Länge 29.52 Minuten (4.10 / 3.53 / 6.06 / 1.04 // 3.57 / 1.57 / 8.02 / 0.43)



    Schreier
    Die gleichen Arien wie in der Kirchenkantate 36, und doch eine ganz andere Stimmung. Dies also ist die Urform der Kantate, eine Eloge zum Geburtstag eines „teuren Lehrers“. Der Verfasser des Librettos hat tief in den Schmalztopf gegriffen: „Der Tag, der dich vordem gebar, / stellt sich vor uns so heilsam dar / als jener, da der Schöpfer spricht: / Es werde Licht!“ Mit anderen Worten: „Deine Geburt, lieber Lehrer, ist für uns Schüler so wichtig wie die Entstehung der ganzen Welt.“ Und dann natürlich die wunderbare Sopran-Arie „Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen verkündigt man der Lehrer Preis“ – dass diese Kantate nicht ständig in Schulorchestern gespielt wird, scheint mir ein Beweis für die angeborene Bescheidenheit von Pädagogen zu sein.


    Den Eröffnungschor und die drei Arien kennen wir bereits. Weiterhin gibt es vier Rezitative (Tenor, Bass, Sopran, Tenor) und einen sehr schönen Abschlusschor, in dem die drei Sänger sowohl gemeinsam als auch einzeln in eingeschobenen Rezitativen dem Jubilar in gedrechselten Worten Glück, Heil, langes Leben und anhaltenden Ruhm wünschen. Instrumentiert ist das Werk mit Oboe d’amore, zwei Violinen, Viola (in der Sopran-Aria Viola d’amore) und Continuo.


    Peter Schreier interpretiert das Werk frisch, unbekümmert, ohne größeren Tiefgang – so wie man halt ein Werk gehobener Gebrauchsmusik dirigiert. Das wird dem Text gerecht, der Musik – und das sollte Schreier eigentlich wissen – nicht. Flott und fröhlich geht Schreier auch die Sopran-Arie an, in einer herzlichen „Wir-wünschen-alle-Glück“-Emphase. Das begeistert mich nicht.


    Sängerisch ist Schreier tadellos. Seine Arie und die beiden Rezitative sind ein Genuss. Ebenso Siegfried Lorenz als Bass. Edith Mathis hingegen... Sie singt, als stünde sie auf einer Opernbühne. Und als stünde sie schon sehr, sehr lange dort.



    Peter Schreier, 1979 Christuskirche Berlin
    Berliner Solisten, Kammerorchester Berlin
    Edith Mathis Sopran, Peter Schreier Tenor, Siegfried Lorenz Bass
    Länge 25.43 Minuten (4.00 / 1.20 / 4.51 / 1.01 / 3.11 / 0.38 / 6.49 / 0.27 / 3.26)



    Fazit


    Meine Lieblingsinterpretationen, in dieser Reihenfolge: Platz 1 unbesetzt, dann Rilling und Gardiner.


    Außergewöhnliche Sätze in anderen Aufnahmen: Alice und Nikolaus Harnoncourt gemeinsam mit einem Jungensopran im 7. Satz der Harnoncourt-Aufnahme. Unbedingt anhören!


    Alfons

  • Lieber alfons!


    Vielen Dank für Deine gut nachvollziehbare Darstellung der Genese von BWV 36.
    Mir liegen nur zum Vergleichen die beiden Rilling-Aufnahmen der Urform BWV 36c (Lehrer-Kantate) und die adventliche Wiederverwertung BWV 36 vor.Nachdem Rilling-Aufnahmen immer wieder so gut abschneiden und sich im Vergleich durchsetzten, bin ich richtig froh, Rilling schon immer gesammelt zu haben.


    Bei den in unserem Hörplan anstehenden 3 Adventskantaten nimmt BWV 36 bei mir in der Beliebtheit nun mal den 3.Rang ein, da ich starke persönliche Beziehungen zu den beiden 'Heiden-Heiland'-Kantaten habe.


    Danke auch für Deine Nachforschungen zum Verständnis der 'Cythara'. Da fällt mir der Urur Ahn Veit Bach ein, der zum Schlagen des Mühlrades seine 'Cythar' zum Spielen herausgeholt hat. (Bach-Mühle in Wechmar).


    Gruß


    wolfgadamo

    Magnificat anima mea

  • Hallo Alfons,


    zunächst vielen Dank und großes Kompliment an die Arbeit, die Du Dir gemacht hast :jubel::hello:


    Es war ein Genuss, Deine stimmungsvolle Einleitung und die interessanten Einzelkritiken zu lesen!


    Habe mir gestern auch BWV 36 angehört (die Gardiner-Aufnahme, die bei ARCHIV-Produktion erschienen ist) - mein Lieblingsstück ist auch die Sopran-Arie, die so ausdrucksvoll von der Solo-Violine begleitet wird. Sehr schöne, vorweihnachtlich-besinnliche Stimmung, die hier entsteht!


    Was ich gar nicht mehr so im Kopf hatte, war die Tatsache, dass BWV 36 zwar nicht "Nun komm, der Heiden Heiland" betitelt ist, wie BWV 61 und 62, aber Bach trotzdem nicht auf dieses Luther-Adventslied verzichten wollte und es auch in dieser Adventskantate untergebracht hat :]
    Der Text passt aber auch perfekt zum 1. Advent und die in weiten Bögen ausschwingende Melodie ist auch schön.


    Schade eigentlich, dass dieses Lied heutzutage nicht mehr so bekannt ist, wie z. B. "Macht hoch die Tür" oder "Es kommt ein Schiff, geladen" - manchmal wünschte ich mir, Bach hätte auch diese beiden Adventschoräle in einer Kantate verarbeitet....

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo zusammen,


    dieses Wochenende war die Zeit soooo knapp - Arbeit ohne Ende! Habe deshalb von BWV 61 und 62 nur je eine Aufnahme oberflächlich hören können ( beide von Leusink). Füe eine seriöse Einschätzung war ich zu unkonzentriert - aber begeistert haben sie mich nicht!


    Bei BWV 36 hingegen habe ich Leusink und Rilling hören können - klarer Sieger nach Punkten ist Rilling!


    Vieles hat Alfons in seiner wunderbar frischen Einführung ( DANKE, lieber Alfons :hello: ) schon geschrieben - da möchte ich nur noch meinen absolut positiven Eindruck von " Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen" beitragen! Dies fand ich bei Rilling sehr überzeugend!
    Aber ich werde mir Harnoncourt vergleichsweise noch zulegen!


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • hallo,


    ich habe die aufnahmen von rilling und leusink. ich möchte mal eine lanze für leusink brechen, denn mir gefällt seine version hier besser als die von rilling.


    rilling hat seine "üblichen" stärken: ein exzellenter chor, gute solisten und gediegenes spiel der begleitenden musiker. jedoch ist mir sein ansatz zu opernhaft, der sound ist in vielen phasen einfach zu dick. auch die solisten forcieren mir etwas zu viel (z.b. schreier in der ersten arie, heldwein), obwohl das natürlich schon auch was hat. grandios gelungen sind das duett alt/sopran (schreckenbach/auger) und der tenor-choral (schreier).


    trotz der stärken von rillings version ist mir leusink in dieser kantate lieber. sehr positiv aufgefallen ist mir bei ihm eine gediegene atmosphäre das ganze werk hindurch. das ist für mich ein ansatz aus einem guss. unter den solisten sticht bas ramselaar heraus, der mit großer musikalität und natürlichkeit singt, das behagt mir weit mehr als heldweins aufgesetzte interpretation. besonders schade ist die mangelnde diktion von ruth holten (majeSCHtät), denn sonst ist diese schöne arie echt grandios gesungen. gewohnt mittelmäßig sind knut schoch und sytse buwalda, obwohl mích beide schon mal mehr gestört haben, als in dieser kantate.


    so haben beide versionen ihre reize, leusink find ich im gesamten hier aber etwas überzeugender.


    greetings, uhlmann

  • Hallo,


    bei BWV 36 möchte ich aus Zeitgründen von werkanalytischen Betrachtungen absehen und meine Höreindrücke zu den mir am besten bekannten Aufnahmen von Herreweghe und Harnoncourt wiedergeben.


    Um es kurz zu machen:
    Die Jahrzehnte, die zwischen beiden Aufnahmeterminen liegen, sind hörbar.
    Insgesamt höre ich diese Kantate also am liebsten in der Interpretation von Herreweghe, und ich muss hinzufügen, teilweise mit Abstand.
    Weil ich lieber lobe als kritisiere, beziehe ich mich im Folgenden erst einmal auf diese Einspielung.


    Der Eingangschor wurde mir erst durch Herreweghes Interpretation zu einem meiner liebsten Bachschen Eingangschöre überhaupt.
    Hier stimmt einfach alles: Tempo, Dynamik, Artikulation, Klangkultur ( vor allem die chorische ! ), Frische, Temperament, durchdachter Interpretationsansatz. :jubel:
    Man kann gut hören, wie sich die vom Chor gesungenen Figuren von unten nach oben emporschwingen
    Sehr schön wird auch das von Bach wunderbar einkomponierte plötzliche Einhalten musiziert: "Doch haltet ein! Haltet ein! "
    Bei "der Schall darf sich nicht weit entfernen" freue ich mich über einen interpretatorischen Kunstgriff, den ich eigentlich mehr von Gustav Leonhardts Stil als Bachdirigent kenne: Durch Dynamik, Artikulation und feinste Agogik wird rhythmisch-dynamisch Spannung erzeugt, die sich auf "entfernen" entlädt. Sehr gut finde ich hier auch, dass die musikalische Akzentsetzung hier mit der natürlichen Wortbetonung der deutschen Sprache einhergeht:"...nicht weit entfernen"


    Besonders gut gefallen mir hier auch die männlichen Altstimmen des Collegium vocale Gent.


    Das nachfolgende Duett wird von den beiden Gesangssolistinnen Rubens und Conolly musikalisch einfühlsam, intonationssicher und klanglich durchsichtig vorgetragen.


    Ein Highlight jagt hier das andere:
    Bei der Tenorarie "Die Liebe zieht mit sanften Schritten" beweist Christoph Prégardien wieder einmal, dass er zu den führenden Bachtenören unserer Zeit gehört.
    Und wenn an dem wunderbar weichen und runden Klang der Barockoboe hier noch irgendwer etwas zu meckern hat, dann bekommt er unerfreulichen Besuch von mir :motz: ..... ;) ;) ( nur vorsichtshalber: das meine ich jetzt scherzhaft !)
    Bei einigen wenigen Stellen wünschte ich mir bei der Artikulation hier und da ein winziges kleines Absetzen - der grossen Freude beim Zuhören tut dies aber keinen Abbruch.


    Es wird noch besser:
    Ich behaupte jetzt einmal völlig subjektiv und vielleicht auch ungerecht, dass man den Choral "Zwingt die Saiten in Cythara" nicht schöner vortragen kann, als es hier Herreweghe mit seinen Ensembles gelungen ist. :jubel: :jubel:
    Hier gibt es einfach nichts zu kritisieren, weil alles passt: Die kultivierte Klangqualität, die atmende, an der Sprache orientierte Detaildynamik, die Behandlung der Fermaten ( ein umstrittenes Thema, m.E. sollte man es so wie hier machen) und die richtige Balance zwischen gemässigtem Ausdruck und notwendiger Schlichtheit. Ein übermässiges Hineininterpretieren empfinde ich bei solchen Chorälen immer als unangebracht, und ich glaube persönlich kaum, das Bach bei diesen Kirchenliedern etwas anderes als ein schlichter, natürlich atmender und klangschöner Vortrag vorgeschwebt hat.
    Als ich diesen Choral neulich im Auto hörte, habe ich dem CD-Player befohlen, diesen noch einmal abzuspielen.


    Die Bassarie "Willkommen werter Schatz" gehört ebenfalls zu meinen Lieblingsarien. Allein schon die innig-bewegte Willkommensgeste des Streichermotivs, die später vom Sänger übernommen wird, kann mich begeistern.
    Hier wünschte ich mir von den Streichern an einigen Steillen noch ein wenig mehr bewussten Vibratoeinsatz und einen länger gezogene Auftaktnote bei der zweiten Figur des Orchestervorspiels. Das Tempo dürfte für mich auch eine kleine Idee langsamer sein - es sind aber nur kleine Wünsche, die hier für mich offenbleiben.
    Manches, was der Concentus musicus Wien hier macht, spricht mich mehr an. Ob man hier lieber Kooys oder van der Meers Stimme mag, ist sicher eine Sache der Gewöhnung und des Geschmacks.


    "Der Du bist dem Vater gleich" wird von Herreweghe sehr zügig genommen. Auch hier würde ein nur etwas zurückgenommenes Tempo mein Hörerglück perfektionieren.


    "Auch mit gedämpften schwachen Stimmen" für Sopran, Solovioline und Continuo ist eine der schönsten weihnachtlichen Arien überhaupt.
    An Herreweghes Einspielung kann ich hier nichts wirklich Negatives, dafür aber sehr viel Positives finden, auch aber nicht nur im vokalen Bereich.


    Das Einzige, was mir hier tatsächlich fehlen könnte, ist eben das unverwechselbare Instrumentalspiel von Alice und Nikolaus Harnoncourt.
    "Persönlich, innig, beseelt, sprechend"....mit solchen könnte man es beschreiben. :jubel:
    Dieses kann man selbstredend nur auf Harnoncourts Aufnahme hören.
    Alfons hat sicher recht: Diese Arie sollte man unbedingt in dieser Fassung kennen! Der hervorragend singende Wiener Sängerknabe heisst übrigens Peter Jelosits und singt heute an der Wiener Staatsoper, wenn ich richtig informiert bin.
    Der Schlusschoral überzeugt mich wiederum in Herreweghes Fassung am meisten: Schlicht, klangschön und ergreifend.


    Fazit: Harnoncourts Einspielung sollte man vor allem wegen der Sopranarie und der Streicherbegleitung der Bassarie "Willkommen" kennen.
    Insgesamt halte ich aber Herreweghes Aufnahme für besonders gelungen.
    Sie konnte mich begeistern, weshalb ich sie guten Gewissens empfehlen kann.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Glockenton


    Fazit: (...) Insgesamt halte ich aber Herreweghes Aufnahme für besonders gelungen. Sie konnte mich begeistern, weshalb ich sie guten Gewissens empfehlen kann.


    Ich habe es geahnt! Und diese Empfehlung, samt der sehr verständigen und eingehenden Würdigung der einzelnen Sätze durch Glockenton, bestätigt meine Ahnung aufs Schönste.


    Nicht umsonst hatte ich in meiner Auflistung der besten Einspielungen den 1. Platz frei gehalten! :D


    Alfons,
    der jetzt die Herreweghe-Einspielung bestellt.

  • Ich besitze von dieser schönen Kantate, die nach meinem Eindruck immer ein wenig und ganz zu Unrecht im Schatten von "Nun komm, der Heiden Heiland" steht, diese Aufnahme.



    Alfons´Kritik an der manchmal ein wenig allzu weichgespülten Lesart von Gardiner kann ich vor allem im Hinblick auf den von ihm erwähnten Choral "Der du bist dem Vater gleich" nachvollziehen. Da kommen die Oboen auch für meinen Geschmack ein wenig allzu leutselig und tänzerisch daher, das passt nicht zu der Strenge, die der Text vorgibt, und in dem es immerhin um Kampf und Sieg geht. Aber das ist in der Tat ein "Jammern auf hohem Niveau".


    Am schönsten finde ich an dieser Kantate und in dieser Aufnahme (das ist für mich mangels Vergleichsaufnahme eins) das Choralduett für Sopran und Alt auf "Nun komm der Heiden Heiland", wunderschön gesungen von Nancy Argenta, Sopran und Petra Lang, Alt. Und die Sopranarie "Auch mit gedämpften schwachen Stimmen" mit der umherschweifenden Violine ist in der Tat zum Dahinschmelzen. Und vor allem (oft bei Gardiner ein Problem) nicht zu schnell.


    Alles in allem ist das eine gelungene Aufnahme, zumal man mit dieser CD für wenig Geld gleich alle drei Bachkantaten zum 1. Adventssonntag beisammen hat.


    Mit Gruß von Carola

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  • Hallo Carola,


    die von Dir erwähnte Aufnahme habe ich auch und finde sie auch sehr gelungen!


    Interessant ist die Tatsache, dass Bach ja neben seinen beiden "Nun komm, der Heiden Heiland"-Kantaten auch in dieser weiteren Adventskantate auf diesen Choral nicht verzichten konnte oder wollte - das von Dir erwähnte Choralduett für Sopran und Alt auf diese Choralweise ermöglicht somit einen weiteren Vergleich mit den anderen Bach-Sätzen, die er in den beiden anderen Adventskantaten unter Einbeziehung dieser Melodie erklingen lässt.


    Er muss diesen Choral wirklich sehr gemocht haben (evtl. war er aber auch in Leipzig besonders beliebt?) - schließlich hätte er noch eine Menge anderer Adventslieder zur Verfügung gehabt...
    Das ist eigentlich schade, denn heute gibt es für uns ja einige Adventschoräle, die uns eher geläufig sind als ausgerechnet "Nun komm, der Heiden Heiland" - ich denke da z. B. an "Es kommt ein Schiff, geladen" oder "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit".
    Es wäre doch toll, wenn es auch eine Bach-Adventskantate gäbe, die einen dieser Choräle musikalisch beinhaltet.


    P. S.: Ich neige manchmal zu Wiederholungen - das hatte ich in dieser Art so schon vor einem Jahr von mir gegeben, wie ich gerade merke. Man möge es mir verzeihen :rolleyes:
    Daran sieht man, dass ich meine Meinung nicht geändert habe (und das nach sooo vielen anderen Bachkantaten, die mir in 2007 über den Weg klangen...) :D

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Seit 2007 kein Eintrag mehr in diesem Thread zur Kantate BWV36 Schwingt freudig euch empor.

    Es lohnt die Textstrecke zu lesen.


    Die Gründe, weshalb ich ihn wiederbelebe, sind zwei:


    Zum einen ein Persönlicher...


    Ich habe eine Neuanschaffung bei meinen Musikinstrumenten getätigt: Eine Oboe d'amore. Ich weiss, dass dieses Instrument in dieser bachschen Kantate zum ersten Advent oft zum Einsatz kommt. ich nehme dies zum Anlass, mich durch die Erarbeiten dieser Partitur mit dem instrument vertraut zu machen.

    In dieser Kantate kommen bedeutende Stimmen vor, in denen dieses tiefe Doppelrohrblatt-Instrument, manchmal sogar doppelt besetzt, spielt:


    1. Teil

    Im Eingangschor ist die Oboe d'amore gleich zweifach unisono zu hören. Im zweiten Satz lässt Bach die Sopran- und Alt-Stimmen des Chores unisono je mit einer Oboe d'amore erklingen. Im dritten Satz umspielt das Instrument die Tenorstimme. Im vierten Satz sind die beiden Oboe d'amore wieder dem Sopran und dem Alt im Choralsatz zugeordnet.


    2. Teil

    Im ersten Satz haben beide Instrumentalisten eine Verschnaufpause. Im zweiten Satz sind schnelle Läufe von den beiden Holzbläsern gefordert. Bei der Arie des Soprans schweigen die Oboe d'amore. im abschliessenden Choral unterstützen wieder die Instrumente die Sopranistinnen und Altistinnen.



    Der andere und wichtigere Grund ist dieser Übergeordnete:


    Seit 2007 hat sich im Internet einiges getan. Dank You Tube kann man Musik in Bild und Ton zugänglich machen.


    Das Mitlaufen der Partitur ermöglicht den Notentext mit der klingenden Musik zu verfolgen.

    Es ist eine Live-Aufnahme der Netherlands Bach Society, die zum Notentext spielt




    Der Dirigent des Konzertes der Netherlands Bach Society, Jos van Veldhoven, gibt auf Niederländisch ebenfalls eine Einführung. Seine Worte sind englisch untertitelt.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Die von unserem verehrten Tamino-Mitglied Glockenton bevorzugte Aufnahme mit Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale gibt es auf You Tube. Die Solisten sind Sibylla Rubens, Sopran; Sarah Connolly, Alt; Christoph Prégardien, Tenor; Peter Kooy, Bass


    0:02 Schwingt freudig (Chorus)

    4:01 Nun komm (Choral)

    7:35 Die Liebe zieht (Aria)

    13:32 Zwingt die Saiten (Choral)


    14:56 Willkommen (Aria)

    18:33 Der du bist (Choral)

    20:21 Auch mit gedämpften (Aria)

    28:58 Lob sei Gott (Choral)



    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ja eine sehr schöne Kantate.


    ich höre sie gerade aus der Gardiner Box. Tolle Sänger, Chor sowieso.


    Kalli