Die Bachkantate (008): BWV110: Unser Mund sei voll Lachens

  • Heute mal als Erstes eine Orchestersuite



    Das Schönste, was man tun kann, um diese Kantate kennen zu lernen, ist: erst einmal eine ganz andere Platte zu hören. Nämlich Bachs Orchestersuite Nr. 4 in D-Dur, BWV 1069, ein weithin bekanntes Werk mit einer prächtigen Ouvertüre. Wenn wir anschließend Bachs Kantate für den 1. Weihnachtstag 1725 auflegen, haben wir nicht nur dieses Vergnügen bereitende „Ha, das kenne ich doch“-Erlebnis, wir haben auch ein beeindruckendes Beispiel, wie geschickt und aufwändig Johann Sebastian Bach seine eigenen Kompositionen umgearbeitet hat.


    Die festlich strahlende Ouvertüre aus der Orchestersuite ist natürlich eine wunderbare Vorlage für den Einleitungssatz einer Festtags-Kantate. Aber Bach hat nicht etwa, um sich die Arbeit einfach zu machen, bei sich selber abgeschrieben. Nein. Der Aufwand an Umgestaltung, den er hier treibt, ist enorm. Bach fügte die Singstimmen zum Teil in den flott konzertierenden fugierten Mittelteil der Ouvertüre ein, zum Teil gestaltete er dafür auch die Stimmen der Oboen und der Streicher um. Den Flötenpart komponierte er aufwändig neu hinzu, ebenso die Pauken und Trompeten, die „in der Originalfassung der Orchestersuite augenscheinlich nicht vorgesehen“ waren, wie Hans-Joachim Schulze in seinem Bachkantaten-Buch schreibt.


    Noch ein weiterer Satz dieser Kantate darf einem bekannt vorkommen. Das Duett Nr. 5 „Ehre sei Gott in der Höhe“, das einen Bibeltext aus der Weihnachtsgeschichte in Musik setzt, entnahm Bach seinem zwei Jahre vorher komponierten Magnificat in Es-Dur. Dort ist es das Duett „Virga Jesse floruit“. Bach transponierte es nur von F-Dur nach A-Dur. Bachforscher bezeichnen die Übernahme als Glücksfall. Denn die lateinische Erstfassung des Duetts ist nur unvollständig erhalten, dank der Übernahme in die Kantate „Unser Mund sei voll Lachens“ konnte sie aber rekonstruiert werden.


    Mehr zu Textgestalt und Aufbau der Kantate sowie einige Ansichten über den Verfasser des Librettos folgen in Kürze.



    Text, Entstehungszeit, Besetzung


    Besetzung
    Soli: S A T B, Coro: S A T B, Tromba I-III, Timpani, Flauto traverso I/II, Oboe I-III, Oboe d'amore, Oboe da caccia, Fagotto, Violino I/II, Viola, Continuo


    Entstehungszeit
    Erste Aufführung 25. Dezember 1725 (1. Weihnachtstag) in der Leipziger Nicolaikirche.


    Text
    Georg Christian Lehms 1711; 1.Satz: Psalm 126,2-3; 3.Satz: Jeremias 10,6; 5.Satz: Lukas 2,14; 7.Satz: Kaspar Füger 1592





    Alfons

  • Jesuskind oder Erbfolgekrieg?


    Bach, diesem großen Zauberer der Musik, wird manches Zauberkunststück zugetraut. Zum Beispiel, dass er nicht nur mit seiner Musik, sondern mit den Noten selber Bilder malte, indem etwa die Zeichen auf dem Notenpapier manchmal Wellen (BWV 81) oder Kreuze (BWV 6) nachbilden (beides stimmt übrigens). Oder dass die Anzahl der Nennungen des Namens Gottes in der Bibel in seinem Werk ablesbar seien (das halte ich für Unfug). Oder auch, dass er verschlüsselt in seiner Musik zu Tagesereignissen und eigenen Befindlichkeiten Stellung nahm – letzteres halte ich übrigens für gut möglich. Oder ist es etwa nicht auffallend, dass gleich die erste Kantate seines ersten Leipziger Jahrgangs den sprechenden Titel „Die Elenden sollen essen“ (BWV 75) trägt? Uraufgeführt am 30. Mai 1723, zwei Wochen nach der ersten Gehaltszahlung – und wir wissen, dass er in Leipzig weniger verdiente, als man ihm ursprünglich zugesagt hatte...


    Ein untergründiger Sinn wurde in der Bachforschung auch der Kantate BWV 110 zugeschrieben. Das liegt nahe, weil man einerseits lange Zeit wenig über die Entstehung dieser Kantate wusste und andererseits der Text, von dem Lukas-Zitat im 5. Satz einmal abgesehen, mit Weihnachten nicht viel zu tun hat. Der inhaltliche Kern des Kantatentextes: Gott wird für eine Erlösungstat gepriesen. Aber welche? Arnold Schering hat 1933 in seinen „Kleinen Bachstudien“ die Idee referiert, Johann Sebastian Bach nehme mit seiner Kantate Stellung zu dem für Sachsen glücklichen Ausgang des Polnischen Erbfolgekrieges Ende 1734.


    Das ist gar nicht so abwegig, wenn man sich zum Beispiel den Text des 1. Satzes anschaut: „Unser Mund sei voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens. Denn der Herr hat Großes an uns getan.“ Das ist ein bewusst entstelltes Zitat aus dem Psalm 126, wo es um die Hoffnung auf ein Ende der Gefangenschaft geht: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ Diese Verse auf Weihnachten und die Geburt Christi zu beziehen ist schon ziemlich kühn. Da drängt sich leicht die Frage auf: Wollte Bach damit etwas ganz anderes sagen?


    Die Spekulation erledigte sich dann aber, als der Textdruck gefunden, der Librettist ausgemacht und die Kantate eindeutig auf den 1. Weihnachtstag 1725 datiert werden konnte. Eine hübsche Idee war es aber schon vom Herrn Schering...


    Bach hat den Text zur 1725er Weihnachtskantate – es war sein dritter Leipziger Kantatenjahrgang – aus dem 1711 erschienenen ersten Jahrgang „Gottgefälliges Kirchen-Opffer“ mit Kantaten des Darmstädter Hofpoeten Georg Christian Lehms entnommen. In zehn der heute bekannten Bachkantaten verwendet er Texte von Lehms, eine elfte mit dem Titel „Liebster Gott, vergisst du mich“ ist verschollen. Lehms hatte für jeden Sonntag des Kirchenjahres zwei Kantaten verfasst, eine für den Hauptgottesdienst mit Arientexten, Choralstrophe und Bibelworten, eine weitere für die Nachmittagsandacht, in der auch frei gedichtete Rezitative ihren Platz hatten – also die neuere Kantatenform nach Neumeister, die Bach bevorzugte. Fast immer nahm Bach aus dem Buch von Lehms die Nachmittags-Kantaten. Nur einmal verwendete er die Vormittags-Form mit den Bibelworten. Nämlich in dieser Weihnachtskantate BWV 110.


    Auf den Herrn Lehms komme ich weiter unten noch einmal zu sprechen – ein interessanter Charakter, mal so gesagt.


    Kostbarkeit in nur fünf Takten


    Drei Arien für Tenor, Alt und Bass bilden das Rückgrat der Kantate. Die drei Bibelworte, die mit den Arien abwechseln, hat Bach unterschiedlich und höchst phantasievoll gestaltet. Das erste, die verfälschten Psalmenverse, hat er in seine Ouvertüre BWV 1069 eingebettet. Die zweite, ein nur fünf Takte langes Rezitativ mit einem Bibelzitat aus Jeremias 10 Vers 6, ist „eine Kostbarkeit“, sagt Alfred Dürr.


    Recht hat er. Wie verschwenderisch Bach oft mit seinen Ideen um sich wirft! Allein aus diesen aufwärts weisenden Streicher-Figuren, die den Bass-Gesang begleiten, würde man heute in der Pop-Musik einen ganzen Schlager zimmern können („Und nun, seit drei Wochen auf Platz 1 der Hitparade, Elton John mit >You are great<“) – uuups, hoffentlich kommt niemand auf die Idee! Nummer 3, das „Ehre sei Gott in der Höhe“ aus der Weihnachtsgeschichte, ist als wunderbares Duett, Sopran und Tenor, aus dem Magnifikat BWV 243 a adaptiert. Der abschließende Choral ist die fünfte und letzte Strophe aus dem Kirchenlied „Wir Christenleut“ von Kaspar Füger, das auch heute noch im Evangelischen Gesangbuch steht.


    Fortsetzung folgt


    Alfons

  • Des Menschen Niedrigkeit


    Der Text der Kantate hat, wenn man ihn genauer betrachtet, durchaus etwas mit Weihnachten zu tun, aber auf eine besondere, Lehms’sche Art. Der Hofpoet kommentiert das Weihnachtsgeschehen sozusagen von außen. Er fordert seine „Gedanken und Sinnen“ auf, himmelwärts zu steigen und über die „Tat“ Gottes, nämlich dessen Menschwerdung, nachzudenken. Als nächstes spricht er, in dem ausgewählten Jeremias-Wort, Gottes Größe an, was ihm endlich Anlass gibt, im Umkehrschluss zu seinem Lieblingsthema zu kommen: der Niedrigkeit des Menschen. Da läuft Lehms zur Hochform auf. In anderen Kantaten noch mehr als hier – BWV 199 „Mein Herze schwimmt in Blut“ ist da ein schauriges Beispiel. Aber auch diese Alt-Arie ist ja recht ausdrucksstark: „Ach Herr, was ist ein Menschenkind? Ein Wurm, den du verfluchest“.


    Lehms suhlt sich gerne in seiner Erniedrigung. Zerknirschung und Reue sind seine Leitmotive. Dafür verfälscht er ungeniert schon mal das Wort der Bibel. Die Frage „Ach Herr, was ist ein Menschenkind“ ist nämlich wiederum ein Zitat aus den Psalmen, Psalm 8 Vers 5: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Doch im Psalm folgt dann nichts von einem verfluchten Wurm. Im Gegenteil: „Du hast ihn weniger niedrig gemacht als Gott, mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.“


    Nach dem Gotteslob der Engel aus Lukas 2.14 fordert Lehms in der dritten Arie auch die Gläubigen auf, Freudenlieder zu singen. Er tut das mit einem erlesen schiefen Bild: „Wacht auf, ihr Adern und ihr Glieder, und singt dergleichen Freudenlieder“.


    Nun ist die barocke Dichtung ja voller Allegorien und Bilder – „das von Blut fette Schwert“ (Gryphius), „das Angedenken der Zuckerlust“ (Hofmannswaldau), und bei Paul Gerhardt gibt es sogar Jesus in der Gestalt eines Huhns: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein“ – aber selbst wenn man hinter Lehms’ skurrilen Reimen die Allegorie von der Kirche als Leib Christi vermuten würde: das Bild von den schlafenden Adern, die nach dem Wecken fröhlich Lieder singen, ist einfach nur schlechte Dichtung und muss damals schon unfreiwillig komisch gewirkt haben.



    Deutschlands erster Frauenrechtler


    Als Bach die Kantate schrieb, über die wir heute sprechen, war Lehms bereits tot – gestorben am 15. Mai 1717 an Lungentuberkulose, 33 Jahre alt. Wer war dieser Georg Christian Lehms?





    Die biographischen Daten sind rar. Nicht einmal seinen Geburtstag wissen wir, nur das Jahr: 1684. Geboren im schlesischen Liegnitz, das heute Legnica heißt und zu Polen gehört. Er besucht das Gymnasium in Görlitz, studiert dann in Leipzig. Dort lernt er den ein Jahr älteren Christoph Graupner kennen – der spätere Komponist Graupner ist Thomaner, studiert bei Schelle und ab 1701 bei dem Bach-Vorgänger Kuhnau.


    Seine erste Anstellung findet Lehms am Hof des Herzogs Johann Ernst von Sachsen-Weißenfels, wo er die neue Art, Kantaten zu dichten, von Erdmann Neumeister kennen lernt. Neumeister – auch er hatte an der Leipziger Universität studiert und später auch gelehrt – war von 1704 bis 1706 Hofdiakon in Weißenfels.


    Ende 1710, als 26-Jähriger, wird Lehms in das weit entfernte Darmstadt berufen, als Hofpoet und Hofbibliothekar des Fürsten, Landgraf Ernst-Ludwig von Hessen-Darmstadt.


    Eine gut funktionierende Seilschaft nennt man so etwas heute. Denn seit 1709 ist Christoph Graupner Hof-Kapellmeister in Darmstadt. Und auch der Vize-Kapellmeister ist ein alter Bekannter aus Leipzig: Gottfried Grünewald. Dass die guten Verbindungen allerdings nicht immer funktionieren, wird Kapellmeister Graupner später merken, 1723, als er Nachfolger seines Lehrers Kuhnau werden möchte und sich um die Stelle des Thomaskantors in Leipzig bewirbt. Er kriegt den Job – aber Landgraf Ernst-Ludwig, nicht nur Musikliebhaber, sondern gar selber Komponist, gibt ihn nicht frei. So wird dann ein gewisser Bach Thomaskantor.


    Kaum in Darmstadt angekommen, beginnt Lehms mit der Produktion von Kantaten, der erste Jahrgang erscheint schon 1711: „Gott-Gefälliges Kirchen-Opffer“. Aus diesem Buch hat Johann Sebastian Bach die elf Kantaten entnommen, von denen uns heute noch zehn als Bach-Werke bekannt sind. Zwei dieser Kantaten komponiert Bach bereits 1714 oder früher, die anderen acht (wahrscheinlich sogar neun) in der Zeit zwischen Weihnachten 1725 und dem 8. September 1726. Auch andere Komponisten vertonen Texte von Lehms: Graupner und Grünewald natürlich, aber zu meinem Erstaunen sogar Telemann.


    Erst 1970 hat die Bach-Forschung festgestellt, dass Lehms zu Bachs Librettisten zählt. Dass es mit Elisabeth Noack eine Frau war, die ihm auf die Spur kam, würde ihn sicher gefreut haben. Gilt der Darmstädter Hofpoet doch heute als „the first german Frauenrechtler“ – so eine amerikanische Website über die Entwicklung der Frauen-Emanzipation.


    Diesen Ruhm erwarb sich Lehms mit einem Lexikon. 1715 erschien „Teutschlands galante Poetinnen. Mit ihren sinnreichen u. netten Proben. Nebst e. Anh. ausländ. Dames, so sich gleichfalls durch schöne Poesien bey d. curieusen Welt bekannt gemacht, u. e. Vorrede, daß das weibl. Geschlecht so geschickt z. Studieren, als das männl.“ 48 Schriftstellerinnen stellte Lehms in diesem Werk vor. Und wirbt zugleich dafür, Frauen zur Universität zuzulassen.


    Alfons


    Fortsetzung folgt

  • Ob Weiber wohl Menschen sind?


    Das Thema, das im Posting oben angesprochen wurde, lag damals in der Luft. Einerseits, weil gerade zur Zeit des Spätbarock viele selbstbewusste Frauen als Schriftstellerinnen an das Licht der Öffentlichkeit traten – auf die Gottschedin und die Bach-Librettistin Mariane von Ziegler werden wir in diesem Forum sicher noch zu sprechen kommen. Zum anderen, weil zu jener Zeit immer noch oder schon wieder heftig diskutiert wurde, „ob die Weiber Menschen seyn“. Das Buch mit diesem provozierenden Titel war da zwar schon mehr als 100 Jahre alt, aber die Frage derart aktuell, dass nicht nur Lehms in seinem Schriftstellerinnen-Lexikon darauf eingeht, sondern dass auch Mariane von Ziegler in einem Spottgedicht Stellung nimmt:


    Die Männer müssen doch gestehen,
    Daß sie, wie wir, auch Menschen sind.
    Daß sie auch auf zwey Beinen gehen;
    Und dass sich manche Schwachheit findt.


    Die Begründung, dass Frauen keine Menschen seien, hatte der anonyme Autor übrigens aus der Bibel abgeleitet. Dort sei keine Stelle zu finden, in der Frauen als menschlich bezeichnet würden. Lehms schildert in seinem Frauen-Lexikon die Anekdote, dass ein Student aus Köln, der vor einem weiblichen Publikum diese Ansicht vortrug, von den Zuhörerinnen mit ihren Stühlen erschlagen worden sei. Die These von Lehms, dass „das weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren als das männliche“ sei, muss gerade in einer Universitätsstadt wie Leipzig für Aufsehen gesorgt haben. Etwa zu der Zeit, als Lehms in Leipzig studierte, hatte sich die Universität dort ein wenig für Frauen geöffnet – die Kollegien zur Bibel fanden in deutscher Sprache außerhalb des Universitätsgeländes statt und waren damit zugänglich auch für Leipziger Bürgerinnen.


    Otterngift und Gnadenfinger


    Ein fleißiger, fast schon arbeitswütiger Poet ist Lehms. Mehrere doppelte Kantaten-Jahrgänge, das Dichterinnen-Lexikon, Opernlibretti, Gelegenheitsdichtungen und vor allem „galante“ (gemeint sind: leicht erotische) Romane – seine Produktion ist enorm.


    Wenn auch nicht gut. Gefühlsüberschwang und überbordend-kühne Bilder sind sicher typisch für das Barock, wenn sie auch zur Zeit Bachs bereits aus der Mode kamen. Doch schiefe Bilder waren nie modern. Die singenden Adern aus der Kantate 110 oder „der Mund voll Otterngift, der oft die Unschuld tödlich trifft“ aus BWV 170 trafen schon zu damaligen Zeiten auf Stirnrunzeln. Ebenso die unbeholfenen Reime, die entstanden, wenn Lehms aktuelle Nutzanwendung aus biblischem Geschehen ziehen wollte, etwa wenn er aus der Heilung eines Taubstummen (Markus 7, 31-37, Evangelium für den 12. Sonntag nach Trinitatis) diese Bitte destillierte: „Ach, lege nur / den Gnadenfinger in die Ohren, / sonst bin ich gleich verloren. / Rühr auch das Zungenband / mit deiner starken Hand“ (BWV 35).


    Dass der Leipziger Literaturpapst Johann Christoph Gottsched ihn ob solcher poetischen Fehlleistungen nicht mochte, ist leicht einzusehen. Er hat Lehms nicht nur nicht gemocht, er hat ihn heftig in Streitschriften befehdet. Dabei hätten sich die beiden Dichter eigentlich gut verstehen müssen, denn in Sachen Frauenemanzipation waren sie einer Meinung: Gottsched gab in Leipzig 1725 „Die vernünftigen Tadlerinnen“ heraus – die erste deutsche Frauenzeitschrift.


    Pallidors Lebensekel


    Wer Lehms’ Texte anschaut, merkt schnell, dass ihn drei Themenkreise faszinieren: Erotik, Reue&Zerknirschung, Todessehnsucht.


    Erotisch getönt, um mit diesem Blickpunkt Lehms’scher Dichtung zu beginnen, sind sogar manche seiner Kantaten. In BWV 57 „Selig ist der Mann“ lässt der Dichter Jesus singen „Ich reiche dir die Hand und damit auch das Herze“, worauf die Seele antwortet „Ach! Süßes Liebespfand...“ – das könnte ebenso gut aus einem seiner Romane sein. Wie auch der Dialog aus BWV 32: „Nun will ich nicht von dir lassen / Und ich dich auch stets umfassen“.


    Zum Barock-Autor gehört das schicke Pseudonym: „Pallidor“ nannte sich Lehms, wenn er seine „galanten“ Erzählungen verfasste (in denen am Ende natürlich zugleich mit der Liebe auch die Keuschheit siegt). Die Themen fand er, das war sozusagen sein Erfolgstrick, in der Bibel, sie reichten von der tugendsamen Zurückweisung unsittlicher Angebote wie bei Susanna im Bade bis zum Liebesleben des Königs Salomo. Unter dem unverdächtigen Titel „Helden-Liebe der Schrifft alten und neuen Testaments zweyter Theil“ zum Beispiel schilderte Lehms „16 anmuthige Liebes-begebenheiten“; das Frontispiz dieses im Mai 1710 erschienenen Werks zeigte „Sinnbilder der Geilheit und der Keuschheit: der rechten der beiden Frauen, die geil auf üppiger Wiese das Knie zeigt, schlägt der Blitz den Anker entzwei; der linken, in grüner Wiese bleibt solches Ungemach bei Sonnenschein erspart“. Das Spannende an dieser Notiz, die ich in einem Antiquariatskatalog fand, steht am Schluss: „dedication Fridericen Elisabethen Herzogin von Sachsen-Weißenfels, signet George Christian Lehms“ – er hat sein Buch, handsigniert, seiner Dienstherrin verehrt.


    Auf Lehms’ ans Pathologische grenzende Sucht, sich selber zu erniedrigen, habe ich weiter oben schon hingewiesen. Die wenigen Kantaten, die Bach aus seinem Werk heraus gegriffen hat, bieten da eindrucksvolle Beispiele: „Mein Jammerkrug ist ganz / mit Tränen angefüllet“ (BWV 13), „Mein Herz, das sonst in Ach und Schmerz sein ewig Leiden findet, und sich als wie ein Wurm in seinem Blute windet“ (BWV 57) oder „Doch Gott muß mir gnädig sein, weil ich das Haupt mit Asche, das Angesicht mit Tränen wasche, mein Herz in Reu und Leid zerschlage“ (BWV 199).


    Größer (und erschreckender) ist nur seine Todessehnsucht. Mal wunderbar poetisch: „Ach! Jesu, wär ich schon bei dir, / Ach striche mir / der Wind schon über Gruft und Grab...“ (BWV 57), mal voller Verzweiflung: „Mein liebster Jesu, löse doch / das jammerreiche Schmerzensjoch / und laß mich bald in deinen Händen / mein martervolles Leben enden!“ (BWV 35), mal als lapidare Feststellung: „Mich ekelt mehr zu leben, / Drum nimm mich, Jesu, hin!“ (BWV 170) oder gar als eine fröhliche Aufforderung, die aus heutiger Sicht wie die Ankündigung eines Selbstmords klingt: „Ich ende behände mein irdisches Leben. Mit Freuden zu scheiden verlang ich itzt eben. Mein Heiland, ich sterbe mit höchster Begier, hier hast du die Seele, was schenkest du mir?“ (wieder BWV 57).


    „Ist das morbide!“ habe ich gedacht, als ich diese Verse das erste Mal hörte. Aber wenn ich nun überlege, dass Georg Christian Lehms sich als Lungenkranker tot gehustet hat, mit gerade einmal 33 Jahren, dann meine ich: Er durfte so schreiben.


    Alfons


    Besprechungen der einzelnen Aufnahmen der Kantate BWV 110 folgen noch.

  • Auch wenn man seinen Text zehnmal durchliest und dreimal korrigiert - irgend ein Fehler flutscht doch durch. :(


    Korrigieren muss ich im Werdegang von Georg Christian Lehms den Namen seines Dienstherrn in Weißenfels. Der hieß Johann Georg (nicht Johann Ernst), regierte von 1697 bis zu seinem Tod im März 1712 und war der ältere Bruder des ab 1712 regierenden Herzogs Christian von Sachsen-Weißenfels - richtig, genau der, für den Bach dann die Jagd-Kantate schrieb: "Wo Regenten wohl regieren, kann man Ruh und Frieden spüren". (Was der Christian übrigens nicht tat, seine Prachtentfaltung trieb das kleine Herzogtum fast in den Ruin. Aber da war Lehms ja längst in Darmstadt.)


    Auf Lehms' Dienstherrn Johann Georg von Sachsen-Weißenfels war Johann Sebastian Bach übrigens gar nicht gut zu sprechen. Denn der Herzog hatte 1702 seine Anstellung als Organist in Sangerhausen verhindert. Der Stadtrat von Sangerhausen hatte den erst 17-jährigen Bach bereits gewählt, als der Landesherr eingriff, den Ratsbeschluss kassierte und einen älteren und erfahrenen Organisten, Johann Augustin Kobelius, durchsetzte.


    Alfons