Für mich persönlich ist BWV 63 (und dabei ganz besonders der überaus festlich-schwungvolle Eingangchor!) die einzige nennenswerte Alternative zur ersten Kantate des heißgeliebten Weihnachtsoratoriums des Thomaskantors.
Wie schön, dass es hier keine Konkurrenz-Entscheidung gibt und man guten Gewissens "Jauchzet, frohlocket" mit "Christen, ätzet diesen Tag" ergänzen kann, wenn man gar nicht genug bekommen kann von dieser typisch barocken Bach-Feierlichkeit, die für mich zu Weihnachten einfach dazu gehört
BWV 63: Christen, ätzet diesen Tag
Kantate zum ersten Weihnachtstag (Weimar 1713 oder 1716?)
Lesungen:
Epistel: Tit. 2,11-14 (Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes) oder Jes. 9,2-7 (Uns ist ein Kind geboren)
Evangelium: Luk. 2,1-14 (Geburt Christi, Verkündigung an die Hirten, Lobgesang der Engel)
Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 30 Minuten
Textdichter: unbekannt, Anklänge an Dichtungen Hallenser Theologen sind jedoch vorhanden; evtl. Johann Michael Heineccius (1674-1722)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Tromba I-IV, Timpani, Oboe I-III, Fagott, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Chorus (SATB, Tromba I-IV, Timp, Oboe I-III, Fagott, Streicher, Continuo)
Christen, ätzet diesen Tag
In Metall und Marmorsteine!
Kommt und eilt mit mir zur Krippen
Und erweist mit frohen Lippen
Euren Dank und eure Pflicht;
Denn der Strahl, so da einbricht,
Zeigt sich euch zum Gnadenscheine.
2. Recitativo (Alt, Streicher, Continuo)
O sel’ger Tag! O ungemeines Heute,
An dem das Heil der Welt,
Der Schilo, den Gott schon im Paradies
Dem menschlichen Geschlecht verhieß,
Nunmehro sich vollkommen dargestellt
Und suchet Israel von der Gefangenschaft und Sklavenketten
Des Satans zu erretten.
Du liebster Gott, was sind wir Arme doch?
Ein abgefall’nes Volk, so dich verlassen;
Und dennoch willst du uns nicht hassen;
Denn eh wir sollen noch nach dem Verdienst zu Boden liegen,
Eh muss die Gottheit sich bequemen,
Die menschliche Natur an sich zu nehmen
Und auf der Erden
Im Hirtenstall zu einem Kinde werden.
O unbegreifliches, doch seliges Verfügen!
3. Aria (Sopran, Bass, Oboe I solo [ersetzt durch obligate Orgel in einer späteren Version zu Leipzig nach 1723], Continuo)
Gott, du hast es wohl gefüget,
Was uns itzo widerfährt.
Drum lasst uns auf ihn stets trauen
Und auf seine Gnade bauen,
Denn er hat uns dies beschert,
Was uns ewig nun vergnüget.
4. Recitativo (Tenor, Continuo)
So kehret sich nun heut
Das bange Leid,
Mit welchem Israel geängstet und beladen,
In lauter Heil und Gnaden.
Der Löw’ aus Davids Stamme ist erschienen,
Sein Bogen ist gespannt, das Schwert ist schon gewetzt,
Womit er uns in vor’ge Freiheit setzt.
5. Aria (Alt, Tenor, Streicher, Continuo)
Ruft und fleht den Himmel an,
Kommt, ihr Christen, kommt zum Reihen,
Ihr sollt euch ob dem erfreuen,
Was Gott hat anheut getan!
Da uns seine Huld verpfleget
Und mit so viel Heil beleget,
Dass man nicht g’nug danken kann.
6. Recitativo (Bass, Oboe I-III, Streicher, Continuo)
Verdoppelt euch demnach, ihr heißen Andachtsflammen,
Und schlagt in Demut brünstiglich zusammen!
Steigt fröhlich himmelan
Und danket Gott vor dies, was er getan!
7. Chorus (Besetzung wie 1.)
Höchster, schau in Gnaden an
Diese Glut gebückter Seelen!
Lass den Dank, den wir dir bringen,
Angenehme vor dir klingen,
Lass uns stets in Segen geh’n,
Aber niemals nicht gescheh’n,
Dass uns Satan möge quälen!
Gerade die titelgebende Textzeile "Christen, ätzet diesen Tag" hat früher immer dazu geführt, dass ich als Kind der 1980er Jahre assoziierte, dass Christen diesen Tag besonders "ätzend", also "schrecklich" finden sollten :wacky: Diese Ansicht fand ich - gerade für einen frommen Mann wie Bach - doch extrem seltsam...
Das hat mich dann immerhin dazu gebracht, auf diese Kantate ganz besonders neugierig zu sein - und "ätzend" war daran dann eigentlich gar nichts - im Gegenteil :]
Die so üppig-assoziationsreiche Barockdichtung gibt uns auch hier wieder eines ihrer nie versiegenden Bildbeispiele, das man sonst wahrscheinlich nie mit Weihnachten in Verbindung gebracht hätte: In Stein und Marmor sollen wir Christenleut' den Weihnachtstag ätzen, um seine Bedeutung immer im Bewusstsein und vor Augen zu haben! Was für ein kraftvolles und originelles Bild!
Leider ist die Entstehungsgeschichte und der Textdichter dieser Kantate nicht ganz geklärt. Obwohl Bach diese Kantate in Leipzig 1723 anlässlich seines ersten Weihnachtsfestes dort als Thomaskantors aufführte (und auch in späteren Jahren nochmals), ist relativ sicher, dass er selbige schon während seiner Weimarer Zeit komponierte (und zur Aufführung brachte). Typisches Merkmal hierfür ist u. a. die für diese Zeit bei Bach typische Verfahrensweise bei der Komposition der Rezitative - diese werden immer wieder zu kleineren oder größeren Arioso-Abschnitten erweitert (in der Weimarer Kantate zum 4. Advent, BWV 132, verfährt Bach beispielsweise genauso).
Interessant an der Textdichtung ist, dass keine einzige Zeile aus einem Choral in ihr verwendet wird - es gibt nicht viele geistliche Bachkantaten, in denen das der Fall ist. Statt dem zu erwartenden einfachen Schlusschoral ist der Chorus Nr. 7 nochmals ein ausgewachsener Fest-Chor, mit fanfarenartigen Blöcken, die auch vom Chor in dieser Manier deklamiert werden, immer wieder unterbrochen von flinken Oboenläufen. Einfach herr - lich!
Bevor ich ein paar Bemerkungen zu einzelnen Interpretationen machen kann, möchte ich auch hier wieder zunächst ein paar Einspielungen miteinander vergleichen, u. a. die von Richter und Gardiner.
Wie gefällt Euch BWV 63 denn? Welche Einspielungen mögt Ihr besonders und warum? Ich bin sehr gespannt...