Die Bachkantate (009): BWV191: Gloria in excelsis Deo

  • BWV 191: Gloria in excelsis Deo


    Kantate zum ersten Weihnachtstag (?)


    Lesungen:
    Epistel: Tit. 2,11-14 (Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes) oder Jes. 9,2-7 (Uns ist ein Kind geboren)
    Evangelium: Luk. 2,1-14 (Geburt Christi, Verkündigung an die Hirten, Lobgesang der Engel)


    Drei Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Text: Aus dem lateinischen „Gloria“ des „Ordinarium missae“, bzw. der lateinischen Textfassung von Lukas Kapitel 2 Vers 14 + die lateinische „Kleine Doxologie“


    Besetzung:
    Soli: Sopran, Tenor; Coro: S I und II, ATB; Tromba I-III, Timpani, Flauto traverso I + II, Oboe I + II, Violino I/II, Viola, Continuo


    1. Chor (S I und II, ATB, Tromba I-III, Timpani, Flauto traverso + Oboe I, Flauto traverso + Oboe II, Streicher, Continuo)
    Gloria in excelsis Deo. Et in terra pax hominibus bonae voluntatis


    Post orationem (= Nach der Predigt):


    2. Duetto (Sopran, Tenor, Flauto traverso I und II, Streicher, Continuo)
    Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto.


    3. Chor (S I und II, ATB, Tromba I-III, Timpani, Flauto traverso I + II, Oboe I + II, Streicher, Continuo)
    Sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum, amen.




    Tja - was haben wir hier?
    Handelt es sich hierbei überhaupt um eine klassische Bach-Kantate?
    Die Tatsache, dass sich die vergebene BWV-Nummer innerhalb der ersten 200 Zahlen befindet, weist - zumindest aus Sicht der damals in den 1950er Jahren verantwortlichen Musikwissenschaftler - diesem Musikstück eindeutig eine solche Gattungszugehörigkeit zu. Charakteristisch ist ebenso der Hinweis "Post orationem" - die Aufteilung einer Kantate in Stücke, die vor und dann entsprechend nach der Predigt zu musizieren waren, findet sich häufiger in Bachs Kantaten.


    Aber:
    Der Text ist lateinisch - das wäre für damalige Leipziger Gottesdienstverhältnisse undenkbar gewesen! Zumal die deutsche Übersetzung des Textes ohne Weiteres hätte verwendet werden können (sie wurde zum Beispiel im Weihnachtsoratorium als Nummer 21 virtuos in Töne gesetzt)!
    Ok - Gegenargument: Das Magnificat zum Beispiel ist in Leipzig auch in lateinischer Sprache aufgeführt worden...
    Außerdem ist der Textgehalt der vorliegenden Kantate äußerst knapp und auch nur auf drei Sätze verteilt. Es fehlen theologisch-lyrische Betrachtungen, es gibt keinen Choral - alles sehr untypische Merkmale!


    Zur Entstehungszeit von BWV 191 habe ich ein vages "um 1740" gefunden (bei Arnold Werner-Jensen 1993), andere Autoren, darunter Dürr, legen sich lieber überhaupt nicht fest.


    Der Anlass für die Komposition ist ebenfalls unbekannt. Eventuell ist BWV 191 eine Auftragskomposition von außerhalb gewesen, bzw. war gar nicht für den Leipziger Gottesdienst gedacht?


    Fragen über Fragen... ?(


    Fakt ist:
    Die Musik dieser festlichen und reich besetzten Kantate stammt aus Bachs h-moll-Messe.
    Der Eingangssatz des dortigen "Gloria" wurde fast ohne jede Abänderung in die vorliegende Kantate als 1. Satz übernommen (hier wie da steht der Satz in D-Dur). Es mussten auch keine Worte abgeändert werden.
    Der 2. Satz der Kantate ist in der h-moll-Messe aus dem dortigen "Domine Deus" des Gloria hervorgegangen - etwas verkürzt und mit neuem Text versehen erscheint es hier nun.
    Und der 3. Satz dieser Kantate war in der h-moll-Messe das "Cum Sancto Spiritu" aus dem Gloria. Hier wurde ebenfalls der Text angepasst und diesmal war eine geringfügige Verlängerung des musikalischen Satzes erforderlich, da der Text der sogenannten "Kleinen Doxologie" ("Sicut erat in principio....", etc.) länger ist als der Originaltext des Satzes aus der h-moll-Messe.


    Alles in allem also eine sehr wirtschaftliche Verarbeitung eines (thematisch mehr oder weniger identischen) bereits existierenden musikalischen Satzes, bzw. einiger Nummern daraus für die vorliegende Kantate unbekannter Bestimmung.


    Zumindest die weihnachtliche Thematik scheint BWV 191 als passend für den ersten Weihnachtstag zu prädestinieren. Der vorgetragene Text aus Lukas 2, 14 gehört immerhin zum Evangelium des Tages.
    Aber selbst das ist reine Vermutung in diesem nebulösen Kantatenfall...


    Die Musik ist mit ihrer festlichen und reichen Instrumentierung zumindest einer Aufführung an einem der Weihnachtstage angemessen - wenigstens das lässt sich wohl ohne jeden Zweifel feststellen.


    Vielleicht hat der Eine oder die Andere von Euch ja noch weitere Fakten zu diesem so interessanten wie rätselhaften, eventuell sogar tatsächlich weihnachtlichen Objekt bachscher Musizierpraxis? Ich harre mit Spannung.... :hello:

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Liebe Kantatenfreunde!


    Warum soll Bach in Zeitmangel für die stupiden Leipziger nicht mal ein eigenes Werk entlehnen? Die Gottesdienstbesucher haben das vielleicht gar nicht gemerkt, da die H-moll Messe ja für den Dresdner Hof komponiert und eingereicht war. Lateinisch gab es wie schon erwähnt auch schon 2-3 Musikstücke in St.Thomas zu hören. Warum gerade an Weihnachten ohne Latein? Durch die eigenhändige Bemerkung 'post orationem' hat Bach dann dem Fragment aus der H-Moll-Messe eben eine 2.Chance verschafft und dies als Kantate erklärt. Warum sollte er es den Leipzigern nicht mal zeigen, was für August den Starken gut war, muß ja auch den Leipzigern ein Lächeln abgewinnen.


    Meint Wolfgang nach einer weihnachtlichen Flasche Rotwein!


    Wolfgang

    Magnificat anima mea

  • Zitat

    Original von wolfgadamo
    Warum soll Bach in Zeitmangel für die stupiden Leipziger nicht mal ein eigenes Werk entlehnen? Die Gottesdienstbesucher haben das vielleicht gar nicht gemerkt (...)


    Stupide Leipziger? :)
    Na na, das glaube ich nun wirklich nicht. Gehen wir ruhig davon aus, dass diese Kantate NICHT für den Leipziger Hauptgottesdienst geschrieben wurde.


    "Den Anlass der Entstehung kennen wir nicht" teilt Alfred Dürr schlicht mit. Vielleicht sei es ja eine Auftragsarbeit für einen uns unbekannten Besteller gewesen. Und diesmal hat Johann Sebastian Bach es sich tatsächlich einfach gemacht. Alle drei Sätze sind aus der Missa der h-Moll-Messe genommen, Satz 1, Eingangssatz des Gloria, quasi unverändert, Satz 2 ist das Domine deus, nur leicht gekürzt, Satz 3 als Umtextierung aus dem Cum Sancto Spirito, ein wenig verlängert - so erläutert es Dürr. Der Text ist Lukas 2 Vers 14 mit angehängter Kleiner Doxologe.


    Aber das hat MarcCologne oben ja alles bereits erklärt.


    Alfons

  • ich dachte, die forschung wäre schon seit einiger zeit d'accord, daß 'gloria in excelsis' KEINE kantate sei ?!?
    ich zähle sie jedenfalls nicht mehr dazu. und da die (natürlich grandiose) musik aber sowieso eine (fast vollständige) parodie ist,läuft sie bei mir unter ...ganz ferner liefen... da höre ich gleich das 'original' ;)


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Zitat

    Original von klingsor
    ich dachte, die forschung wäre schon seit einiger zeit d'accord, daß 'gloria in excelsis' KEINE kantate sei ?!?


    Das stimmt. Aber wir haben ja ein großes Herz...


    Alfred Dürr hat BWV 191 nach wie vor auch in der neuesten Auflage (2005) von "Johann Sebastian Bach - Die Kantaten" noch drin, er nennt das Werk diplomatisch mal "Weihnachtsmusik", mal "Kantate".


    Schulze ("Die Bachkantaten") folgt dem Stand der Forschung und hat BWV 191 rigoros aussortiert.


    In den Gesamteinspielungen wird es unterschiedlich gehalten. Rilling und Koopman haben "Gloria in excelsis Deo" mit drin, Leusink und Harnoncourt/Leonhardt nicht.


    Ich habe die drei Sätze bislang durchaus als Kantate verstanden, da bin ich nicht so pingelig (wie bei BWV 11 übrigens auch nicht).


    Alfons