Die Bachkantate (028): BWV154: Mein liebster Jesus ist verloren

  • BWV 154: Mein liebster Jesus ist verloren
    Kantate zum 1. Sonntag nach Epiphanias (Leipzig, 9. Januar 1724)



    Lesungen:
    Epistel: Röm. 12,1-6 (Die Pflichten des Christen)
    Evangelium: Luk. 2,41-52 (Der zwölfjährige Jesus im Tempel)



    Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Nr. 3 Martin Jahn (1661); Nr. 8 Christian Keymann ( 1658 )


    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass, Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Violino I/II, Viola, Continuo (mit Cembalo)


    1. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Mein liebster Jesus ist verloren:
    O Wort, das mir Verzweiflung bringt,
    O Schwert, das durch die Seele dringt,
    O Donnerwort in meinen Ohren.


    2. Recitativo Tenor, Continuo
    Wo treff’ ich meinen Jesum an,
    Wer zeiget mir die Bahn,
    Wo meiner Seelen brünstiges Verlangen,
    Mein Heiland, hingegangen?
    Kein Unglück kann mich so empfindlich rühren,
    Als wenn ich Jesum soll verlieren.


    3. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Jesu, mein Hort und Erretter,
    Jesu, meine Zuversicht,
    Jesu, starker Schlangentreter,
    Jesu, meines Lebens Licht!
    Wie verlanget meinem Herzen,
    Jesulein, nach dir mit Schmerzen!
    Komm, ach komm, ich warte dein,
    Komm, o liebstes Jesulein!


    4. Aria Alt, Oboe d’amore I + II, Streicher, Cembalo
    Jesu, lass dich finden,
    Lass doch meine Sünden
    Keine dicken Wolken sein,
    Wo du dich zum Schrecken
    Willst für mich verstecken,
    Stelle dich bald wieder ein!


    5. Arioso Bass, Continuo
    Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?


    6. Recitativo Tenor, Continuo
    Dies ist die Stimme meines Freundes,
    Gott Lob und Dank!
    Mein Jesus,
    mein getreuer Hort,
    Lässt durch sein Wort
    Sich wieder tröstlich hören;
    Ich war vor Schmerzen krank,
    Der Jammer wollte mir das Mark
    In Beinen fast verzehren;
    Nun aber wird mein Glaube wieder stark,
    Nun bin ich höchst erfreut;
    Denn ich erblicke meiner Seelen Wonne,
    Den Heiland, meine Sonne,
    Der nach betrübter Trauernacht
    Durch seinen Glanz mein Herze fröhlich macht.
    Auf, Seele, mache dich bereit!
    Du musst zu ihm
    In seines Vaters Haus, hin in den Tempel zieh’n;
    Da lässt er sich in seinem Wort erblicken,
    Da will er dich im Sakrament erquicken;
    Doch, willst du würdiglich sein Fleisch und Blut genießen,
    So musst du Jesum auch in Buß und Glauben küssen.


    7. Aria Alt, Tenor, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Wohl mir, Jesus ist gefunden,
    nun bin ich nicht mehr betrübt.
    Der, den meine Seele liebt,
    Zeigt sich mir zu frohen Stunden.
    Ich will dich, mein Jesu, nun nimmermehr lassen,
    Ich will dich im Glauben beständig umfassen.


    8. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Meinen Jesum lass ich nicht,
    Geh’ ihm ewig an der Seiten;
    Christus lässt mich für und für
    Zu den Lebensbächlein leiten.
    Selig, wer mit mir so spricht:
    Meinen Jesum lass ich nicht.




    Alfred Dürr vermutet, dass diese Kantate am 9. Jänner 1724 nicht zum erstenmal erklungen ist, sondern wohl noch aus Bachs Weimarer Zeit (1708-17) stammen müsste. Ein Aufführungsdatum aus diesem Zeitraum ist allerdings nicht überliefert. Außerdem wurde diese Kantate irgendwann in der 2. Hälfte der 1730er Jahre mindestens noch einmal erneut aufgeführt.


    Als ich den Titel dieser Kantate zum ersten Mal las, dachte ich spontan an eine Passions-Kantate. Dass sie sich aber auf einen Sonntag in der Weihnachtszeit bezieht, merkt man erst bei genauerem Lesen des Textes:
    Es geht - dem Evangelium des Tages entsprechend - um die Geschichte des 12-jährigen Jesus, der seinen Eltern Maria und Joseph bei einem Besuch in Jersualem im Strom der Pilger abhanden kommt und den sie erst nach langem, verzweifelten Suchen im Tempel wiederfinden, wo er, umringt von Schriftgelehrten und Priestern, die Schrift in einer für ein Kind unerhört klugen und erfahrenen Art auslegt, dass die gelehrten Herren sich darüber nur verwundern können (eine Szene, die man oft auf alten Gemälden dargestellt sieht).
    Auf die etwas vorwurfsvolle Frage seiner Eltern, warum er sich denn ohne etwas zu sagen von ihnen getrennt und sich hierher in den Tempel begeben hätte, antwortet er nur ganz erstaunt, ob sie denn nicht wüssten, dass er hier im Hause seines Vaters sein müsse.
    Der Evangelist Lukas erzählt diese Begebenheit direkt nach seiner berühmten Weihnachtsgeschichte (so gesehen passt sie gut für einen Sonntag unmittelbar nach Weihnachten) und es ist die einzige Begebenheit aus der Kindheit Jesu, die uns die Bibel überliefert. Umso mehr sind zahlreiche Kindheits-Legenden und Anekdoten über die Jahrhunderte dazu erfunden worden...


    Der unbekannte Textdichter hat jedenfalls eine geradezu exemplarische Kantatendichtung um diese Begebenheit herum gedichtet.
    Sein Hauptgedanke war, die Perspektive der verzweifelt suchenden Eltern Jesu auf die in der Jetzt-Zeit zuhörende Christengemeinde zu übertragen, die ebenfalls immer wieder neu in den Fährnissen des sündhaften Alltags nach der leitenden und helfenden Hand des Heilands sucht.


    Daher ist die erste Zeile der Aria Nr. 1 auch im Sinne von "verloren gegangen" zu verstehen und nicht, wie man auf den ersten Blick im Zusammenhang mit der Passionsgeschichte auch meinen könnte, im Sinne von "zum Tode verurteilt".


    Nachdem im Rezitativ Nr. 2 der Tenorsolist verzweifelt nach dem scheinbar entschwundenen Heiland gefragt hat, die Gemeinde im Choral Nr. 3 ein bittendes "Komm, ach komm, ich warte dein" hinzugefügt und der Alt in der Arie Nr. 4 diesen Gedanken nochmals aus individueller Sicht verstärkt hat, kommt im Arioso Nr. 5 die entscheidende Wendung der Kanatate:
    Der nur in diesem Satz (und damit besonders wirkungsvoll!) zum Einsatz kommende Solo-Bass zitiert in eindrücklicher Weise die oben erwähnte Antwort Jesu (ein Bibelzitat aus Lukas 2, 49) - damit gibt der Bass als "Vox Christi" (immer ein Bariton/ Bass!) die alles erlösende Antwort auf die bange "Wo"-Frage der ersten Sätze.


    Entsprechend frohgestimmt und dankbar ist dann der Inhalt der noch folgenden 3 Sätze, wobei es mir besonders das als Aria bezeichnete Duett zwischen Alt und Tenor (= Nr. 7), mit den beiden Oboen als Begleitung angetan hat. :jubel:


    Eine instrumentatorische Besonderheit weist übrigens die Aria Nr. 4 auf: Die übliche Continuo-Begleitung fällt hier weg, die beiden Violinstimmen und die Viola (was im Text oben als "Streicher" bezeichnet ist) übernehmen hier diese Funktion. Hinzu tritt ein Cembalopart, den Bach wahrscheinlich so für die Leipziger Erstaufführung im Jahr 1724 hinzugefügt hat.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Wie MarcCologne musste ich beim Lesen des Titels spontan an die Passionszeit denken und nicht an den 1. Sonntag nach Epiphanias. Auch der abrupte und hochdramatische Beginn (Arie Nr. 1) hat für mein Empfinden recht deutliche Anklänge an die Passionszeit. Da ist zum einen der chromatisch absteigende ostinate Bass, da ist zum anderen die leidenschaftliche Klage der Violinen im Wechsel mit der Tenorstimme. Das könnte so oder so ähnlich auch aus der Matthäus- oder Johannespassion stammen. Ich finde gerade diesen Eingangssatz großartig.


    Bekanntlich geht es hier aber um den als Kind im Tempel kurzzeitig seinen Eltern abhanden gekommenen 12-jährigen Jesus. Diese Begebenheit wird im Text stark ausgeweitet und überhöht, der christliche Glaube als solches wird zum Thema, in dem die Beziehung und Nähe zu Jesus immer wieder verlorengehen, aufs Neue gesucht und schließlich wiedergefunden werden kann. Schulze verweist in diesem Zusammenhang auf die mystische Auslegungstradition des biblischen Hohenliedes, an die der Text deutliche Anklänge zeige.


    Von zentraler Bedeutung sind nach meinem Verständnis die drei Arien der Kantate. Nach der verzweifelt-dramatischen Klage des Tenors in Satz 1 folgt als Satz 4 die Altarie "Jesus, laß dich finden", die einen eher schlichten, sehnsüchtig-bittenden Charakter hat. Zur Frage, warum in dieser Arie die übliche Continuo-Begleitung (Orgel und andere Bassinstrumente) fehlt, und statt dessen lediglich Geige und Bratsche ein sog. "Bassettchen" als Unterstimme spielen, gibt es offenbar unterschiedliche Meinungen. Dürr vertritt die Auffassung, diese spezielle Instrumentierung müsse als "Symbol der Unschuld" verstanden werden, die sich in der Textzeile "Laß doch meine Sünden keine dicken Wolken sein" ausdrücke. Schulze liefert hingegen noch eine andere Deutung: Einem Satz ohne Basso Continuo fehle gleichsam das Fundament und der Halt, dies sei als musikalischer Ausdruck der "umherschweifenden Suche" zu hören


    Mir selbst erscheint Dürrs Deutung plausibler, die Arie wirkt auf mich in ihrem ganzen Duktus eher kindlich bittend als umherschweifend suchend.


    Die dritte Arie "Wohl mir, Jesus ist gefunden (Nr. 7) ist dann erwartungsgemäß ein beschwingt-tänzerischer Freudengesang. Warum sie als Duett von Alt und Tenor ausgestaltet wurde, will mir nicht so recht einleuchten, schließlich ist hier kein Dialog vertont worden. Schulze äußert die Vermutung, dass hier ein bereits vorhandener Satz nachträglich mit einem neuen Text versehen wurde, es sich also nicht um eine Originalkomposition handelt.


    Ich kenne diese Kantate bisher lediglich in dieser Kuijken-Interpretation, kann also nichts vergleichen.



    Mir gefällt diese Aufnahme sehr gut. Da in der Kantate kein "richtiger" Chor vorkommt, lediglich zwei Choräle, kann ich hier auch mit der solistischen Besetzung sehr gut leben. Die Altarie in Satz 4 (mit dem "Bassettchen" - tolles Wort!), lässt Kuijken übrigens ohne Cembalo spielen.


    Mit Gruß von Carola

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von Carola


    Mir gefällt diese Aufnahme sehr gut. Da in der Kantate kein "richtiger" Chor vorkommt, lediglich zwei Choräle, kann ich hier auch mit der solistischen Besetzung sehr gut leben.


    Habe diese Kuijkeneinspielung heute morgen in der sonntäglichen Kantatensendung auf SWR mir anhört und war angetan (kann mir einen Kauf vorstellen) :jubel:
    Hab einen größeren Chor auch nicht unbedingt vermisst, Bach ja nur einfache vierstimmige Choräle bei dieser Kantate vorgesehen, wollte wohl seinen Chor schonen oder fehlene Probezeiten ausgleichen, hat Bach ja öfters praktiziert (oder auch den Chor mit "colla parte" spielenden Zinken und Posaunen verstärkt) ?


    Zitat

    Die Altarie in Satz 4 (mit dem "Bassettchen" - tolles Wort!), lässt Kuijken übrigens ohne Cembalo spielen.


    Mit Gruß von Carola


    Eine wirklich schöne Altarie :yes:


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard