Die Bachkantate (031): BWV155: Mein Gott, wie lang, ach lange

  • BWV 155: Mein Gott, wie lang, ach lange
    Kantate zum 2. Sonntag nach Epiphanias (Weimar, 19. Januar 1716)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 12,6-16 (Wir haben mancherlei Gaben, Lebensregeln)
    Evangelium: Joh. 2,1-11 (Die Hochzeit zu Kana)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 13 Minuten


    Textdichter: Salomon Franck (1659-1725) aus dessen „Evangelischem Andachts-Opffer“
    Choral: Paul Speratus (1524)


    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Fagott, Violino I/II, Viola, Continuo



    1. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
    Mein Gott, wie lang, ach lange?
    Des Jammers ist zuviel!
    Ich sehe gar kein Zeil
    Der Schmerzen und der Sorgen.
    Dein süßer Gnadenblick
    Hat unter Nacht und Wolken sich verborgen,
    Die Liebeshand zieht sich, ach! ganz zurück!
    Um Trost ist mir sehr bange!
    Ich finde, was mich Armen täglich kränket,
    Das Tränenmaß wird stets voll eingeschenket,
    Der Freudenwein gebricht;
    Mir sinkt fast alle Zuversicht.


    2. Aria Alt, Tenor, Fagott, Continuo
    Du musst glauben, du musst hoffen,
    Du musst Gott gelassen sein!
    Jesus weiß die rechten Stunden,
    Dich mit Hülfe zu erfreu’n.
    Wenn die trübe Zeit verschwunden,
    Steht sein ganzes Herz dir offen!


    3. Recitativo Bass, Continuo
    So sei, o Seele! sei zufrieden!
    Wenn es vor deinen Augen scheint,
    Als ob dein liebster Freund
    Sich ganz von dir geschieden;
    Wenn er dich kurze Zeit verlässt!
    Herz! glaube fest,
    Es wird ein Kleines sein,
    Da er für bitt’re Zähren
    Den Trost- und Freudenwein
    Und Honigseim für Wermut will gewähren!
    Ach! denke nicht,
    Dass er von Herzen dich betrübe;
    Er prüfet nur durch Leiden deine Liebe;
    Er machet, dass dein Herz bei trüben Stunden weine,
    Damit sein Gnadenlicht
    Dir desto lieblicher erscheine;
    Er hat, was dich ergötzt.
    Zuletzt
    Zu deinem Trost dir vorbehalten;
    Drum lass ihn nur, o Herz, in allem walten!


    4. Aria Sopran, Streicher, Continuo
    Wirf, mein Herze, wirf dich noch
    In des Höchsten Liebesarme,
    Dass er deiner sich erbarme.
    Lege deiner Sorgen Joch,
    Und was dich bisher beladen,
    Auf die Achseln seiner Gnaden.


    5. Choral SATB, Fagott, Streicher, Continuo
    Ob sich’s anließ, als wollt’ er nicht,
    Lass dich es nicht erschrecken,
    Denn wo er ist am besten mit,
    Da will er’s nicht entdecken.
    Sein Wort lass dir gewisser sein,
    Und ob dein Herz spräch’ lauter Nein,
    So lass dir doch nicht grauen.




    Das Evangelium dieses 2. Sonntags nach dem Dreikönigstag beinhaltet die Episode, in der Jesus mit seiner Mutter Maria Gast auf der besagten Hochzeit zu Kana ist und dort das Wasser in den Krügen zu (wohlgemerkt: exzellentem!) Wein werden lässt und damit auf diese ungewöhnliche Weise für die Festgesellschaft rechtzeitig vor dem "Trockenlaufen" für Nachschub sorgt. :D


    Diese Geschichte gilt als "Auftakt" zu den von Jesus bewirkten Wundern und steht damit noch ganz am Anfang seines Wirkens.


    Überraschenderweise wird diese doch recht heiter-festliche Episode dieses Sonntags in keiner der vorhandenen Bach-Kantaten für diesen Sonntag (neben BWV 155 sind dies noch BWV 3 und BWV 13) zum Anlass für fröhliche Dichtung/ Musik genutzt.
    Im Gegenteil: Die Texte aller drei Kantaten sind ausgesprochen düster - viel ist von Sorgen, Tränen und dergleichen die Rede...


    Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass - wie in der erwähnten Hochzeitsgeschichte - Jesus sich noch nicht als der Messias zu erkennen gegeben hat und quasi noch im Verborgenen wirkt. Dementsprechend groß ist die Verzweiflung der auf den Erlöser hoffenden Christenheit. Dass diese Hoffnung dereinst nicht umsonst sein werde, dass ist die trostbringende Erkenntnis, die jeweils am Ende der Kantatendichtungen für diesen Sonntag steht.


    Ab und an ist in den Kantaten mal von Wein die Rede - das sind dann aber auch die einzigen Bezüge der Textdichter auf das Evangelium des Sonntags.


    Die Arie Nr. 2, die ja eigentlich ein Duett zwischen Alt und Tenor ist, mag ich in dieser Kantate besonders gern, weil hier der seltene Einsatz eines obligaten Solo-Fagotts von Bach vorgesehen ist. Ein sehr virtuoser Satz für den Fagottisten, der mir ausgesprochen wohlgefällt. ;)

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Ich begeistere mich gerade für diese Kantate. Schon das Anfangsrezitativ -- eine Kantate, die mit einem Rezitativ beginnt -- "Mein Gott, wie lang, ach lange" ist sehr ausdrucksstark: Tonart d-Moll. Der Anfang "Mein Gott" ist wie in "Erbarme dich" und auch BWV 82 "Ich habe genung" eine Sext aufwärts. Das Harren wird durch einen durchgehenden Orgelpunkt auf der Tonika im Basso continuo ausgedrückt. Kleine Sekund auf "Schmerzen". Die "Freuden" wie in BWV 82. Naheliegende musikalische Textausdeutung von "sinkt".


    Zum Nachhören: