Die Bachkantate (034): BWV73: Herr, wie du willt, so schicks mit mir

  • BWV 73: Herr, wie du willt, so schicks mit mir
    Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias (Leipzig, 23. Januar 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 12,17-21 (Christliche Lebensregeln)
    Evangelium: Matth. 8,1-13 (Heilung eines Aussätzigen; der Hauptmann von Kapernaum)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choräle: Nr. 1 Kaspar Bienemann (1582); Nr. 5 Ludwig Helmbold (1563)


    Besetzung:
    Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Horn (oder obligate Orgel), Violino I/II, Viola, Continuo




    1. Choral e Recitativo SATB, Sopran, Tenor, Bass, Oboe I + II, Horn (od. obligate Orgel), Streicher, Continuo
    Herr, wie du willt, so schicks mit mir
    Im Leben und im Sterben!

    Tenor
    Ach! aber ach! wieviel
    Lässt mich dein Wille leiden!
    Mein Leben ist des Unglücks Ziel,
    Da Jammer und Verdruss
    Mich lebend foltern muss,
    Und kaum will meine Not im Sterben von mir scheiden.
    Allein zu dir steht mein Begier,
    Herr, lass mich nicht verderben!

    Bass
    Du bist mein Helfer, Trost und Hort,
    So der Betrübten Tränen zählet
    Und ihre Zuversicht,
    Das schwache Rohr, nicht gar zubricht;
    Und weil du mich erwählet,
    So sprich ein Trost- und Freudenwort:
    Erhalt mich nur in deiner Huld,
    Sonst wie du willt, gib mir Geduld,
    Denn dein Will’ ist der beste.

    Sopran
    Dein Wille zwar ist ein versiegelt’ Buch,
    Da Menschenweisheit nichts vernimmt;
    Der Segen scheint uns oft ein Fluch,
    Die Züchtigung ergrimmte Strafe,
    Die Ruhe, so du in dem Todesschlafe
    Uns einst bestimmt,
    Ein Eingang zu der Hölle.
    Doch macht dein Geist uns dieses Irrtums frei
    Und zeigt, dass uns dein Wille heilsam sei.
    Herr, wie du willt.


    2. Aria Tenor, Oboe I, Continuo
    Ach senke doch den Geist der Freuden
    Dem Herzen ein!
    Es will oft bei mir geistlich Kranken
    Die Freudigkeit und Hoffnung wanken
    Und zaghaft sein.


    3. Recitativo Bass, Continuo
    Ach, unser Wille bleibt verkehrt,
    Bald trotzig, bald verzagt,
    Des Sterbens will er nie gedenken.
    Allein ein Christ, in Gottes Geist gelehrt,
    Lernt sich in Gottes Willen senken
    Und sagt:


    4. Aria Bass, Streicher, Continuo
    Herr, so du willt,
    So presst, ihr Todesschmerzen,
    Die Seufzer aus dem Herzen,
    Wenn mein Gebet nur vor dir gilt.


    Herr, so du willt,
    So lege meine Glieder
    In Staub und Asche nieder,
    Dies höchst verderbte Sündenbild.


    Herr, so du willt,
    So schlagt, ihr Leichenglocken,
    Ich folge unerschrocken,
    Mein Jammer ist nunmehr gestillt,
    Herr, so du willt.


    5. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Das ist des Vaters Wille,
    Der uns erschaffen hat;
    Sein Sohn hat Gut’s die Fülle
    Erworben und Genad’;
    Auch Gott der Heil’ge Geist
    Im Glauben uns regieret,
    Zum Reich des Himmels führet.
    Ihm sei Lob, Ehr’ und Preis!



    Bach hat insgesamt 4 Kantaten zum 3. Sonntag nach Epiphanias komponiert, jedenfalls sind uns diese vier erhalten. Dazu gehören außer der hier besprochenen noch BWV 111, BWV 72 und BWV 156.


    Alle vier Textdichter dieser Kantaten haben sich thematisch fast ausschließlich auf einen Aspekt des Sonntagsevangeliums bezogen - die Äußerung des Aussätzigen, der von Jesus geheilt wird und der in Matth. 8 Vers 2 zu ihm spricht: "Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen."
    Worauf es weiter heißt: "Und Jesus streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: 'Ich will's tun, sei rein!'"


    Dieses "Herr, wenn du willst", oder, wie es in altem Luther-Deutsch zu Bachs Zeiten noch hieß: "Herr, so du willt" kehrt wie ein "Leitmotiv" in den Textdichtungen aller vier Kantaten immer wieder.


    Grundgedanke aller Kantaten für diesen Sonntag ist also der, dass der Mensch hinfällig und krank (an Körper und/ oder Geist) sein Erdendasein fristet und sein irdisches Ende herbeisehnt. Ein typisch barocker Gedanke, der in vielen Bachkantatentexten wiederkehrt.
    Dieser kranke Mensch legt seine zukünftigen Erwartungen diesseits wie jenseits des Todes in die Hände Gottes, dessen Liebe zu den Menschen niemanden, der an ihn glaubt, zuschanden werden lässt, auch wenn den Lebenden der göttliche Wille nicht immer sofort (oder niemals) verständlich und nachvollziehbar scheint.


    Diese Thematik beherrscht nun also die vorliegende Kantate, die mit einer von rezitativischen Einschüben der Solistenstimmen durchsetzten Choralbearbeitung beginnt. Ursprünglich war eine Hornstimme von Bach für diesen Satz vorgesehen, in einer späteren Version ist diese (mangels eines zur Verfügung stehenden Hornisten?) in eine Stimme für obligate Orgel (Orgelpositiv) umgeschrieben worden.


    Die Arie Nr. 4 weist eine ungewöhnliche Form auf: Nicht die von Bach so häufig verwendete Da Capo-Form, sondern eine der Textvorlage gemäße dreiteilige Arie, deren einzelne Teile sich aus einem immer wieder neu variierten Leitmotiv (das auf die einleitenden Worte "Herr, so du willt" gebildet ist) speisen.
    Zu Beginn jeder "Strophe" werden diese Worte wiederholt und am Ende des Satzes tauchen sie ebenfalls nochmals auf. Ein Beleg für die Bedeutung dieser ein grenzenloses Gottvertrauen ausdrückenden Worte. Sowohl Textdichter wie auch Komponist dürften sich in der Beurteilung der Bedeutung dieser Äußerung einig gewesen sein.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Zunächst nochmal besten Dank für deine Beständigkeit!
    Meine Kantatendiskographie weist noch erhebliche Lücken auf, so fehlt noch BWV 72, aber die hier höre ich jetzt gerade zum zweiten Mal hintereinander.


    Ein faszinierendes Stück, schon dieser völlig krasse Eingangschor, Mischung aus Choral und Recitativo accompagnato. Wobei mir nicht ganz klar ist, was die Orchesterbegleitung ausdrücken soll, aber diese Figuren sind derart prägnant, dass muß eine ziemlich klare Bedeutung habe; vielleicht doch die Furcht und Spannung, trotz der letzlich ausgedrückten Zuversicht.
    Und die Oboe in der ersten Arie :jubel: :jubel: Ich muß mir doch mal die rekonstruierten Oboenkonzerte nach dem Cembalokonzerten besorgen.
    Die von Dir schon hervorgehobene Bass-Arie ist ebenfalls ganz außergewöhnlich, mit solch plastischer Tonmalerei ("in Asche nieder", dann die Leichenglocken usw.)!


    Gehört habe ich Herreweghes Aufnahme. Nach meinen zugegeben beschränkten Vergleichsmöglichkeiten (oft nicht bei derselben Kantate) würde ich seine Einspielungen jedem Einsteiger nahelegen: Meistens sehr gute Sänger (Peter Kooy :jubel: ), guter Chor, keine Knaben, guter Klang und teils auch sehr gute Instrumentalsolisten (es steht hier leider nicht dabei, aber vermutlich Marc Ponseele an der Oboe)
    Sie sind halt nur noch lange nicht komplett...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • In der Tat, BWV73 ist eine eine außergewöhnliche und faszinierende Kantate!


    JR hat schon auf die Struktur des Eingangschores hingewiesen. Einerseits der zuversichtliche, von Gottvertrauen erfüllte Choral, der andererseits durch Kommentare durch die Solisten unterbrochen wird. Dann gibt es da aber noch am Ende den mehrfachen Ausruf Herr, wie du willt. vom Chor. Und diese Ausrufe finde ich verstörend, denn die klingen nicht mehr nach grenzenlosem Vertrauen sondern mehr nach Protest gegen den göttlichen Willen. Insgesamt empfinde ich diesen Eingangschor als ziemlich sperrig und schwer verdaulich - was meines Erachtens auch teilweise den Reiz dieses Stückes ausmacht.


    Nun noch kurz zu ein paar Aufnahmen. In meiner Sammlung finden sich Leonhardt, Leusink und Herreweghe. Davon gebe ich letzterer den Vorzug, schon allein weil da kein Knabenchor singt. Allerdings gibt es auch an dieser Einspielung etwas zu mäkeln, beispielsweise die ungenaue Absprachen von harten Konsonanten durch den Chor, oder Barbara Schlick, deren Stimme nicht jedermanns Sache ist (meine ist es nicht...). Leusink gefällt mir bei dieser Kantate deutlich besser als in allen bisher besprochenen Kantaten, was wahrscheinlich daran liegt, dass der Chor eigentlich nur Choräle zu singen hat. :wacky: Natürlich gibt´s hier auch die schon mehrfach beschriebenen Mängel, aber man kann damit leben. Herausragend gesungen ist die Baßarie, das gefällt mir noch besser als Kooy (Herreweghe und van Egmont (Leonhardt). Leonhardt ist mir insgesamt zu langsam, es gelingt ihm nur phasenweise, das Tempo mit Spannung zu füllen. Naja, und die Soloknaben tun ihr Möglichstes...



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Der Eingangschor ist ein faszinierendes Stück Musik. Er verknüpft Choral mit Rezitativ, was bei Bach zwar gelegentlich zu finden ist, doch selten in dieser motivischen Konsequenz. Die Rezitative von Tenor, Bass und So-pran haben durch die fortgesetzte instrumentale Begleitung die Form eines Accompagnato und sind äußerst eng mit Choral und Ritornell verbunden. Dieses exponiert zu Beginn das von Holzbläsern eingeleitet und rhythmisch markante Motto des gesamten Satzes. Es ist aus dem Beginn der Choralmelodie extrahiert und wird stets mit Orgel verstärkt. Doch sofort stoppt die musikalische Bewegung und das erste Rezitativ setzt mit einem inhaltlichen Kontrapunkt zum Choraltext ein. „Herr wie du willt, so schicks mit mir im Leben und im Sterben“, lautet der Anspruch des Chorals. „Aber ach, wie viel lässt mich dein Wille leiden“, merkt dagegen der Tenor an. Es folgt eine längere Verhandlung. Erst Bass und Sopran finden einen Weg, wie die Gläubige Seele mit dem oft undurchschaubaren Willen Gottes umgehen kann: Am Ende heißt es nach manchem Abwägen: „Und zeigt, dass uns dein Wille heilsam sei.“

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)