Die Bachkantate (036): BWV72: Alles nur nach Gottes Willen

  • BWV 72: Alles nur nach Gottes Willen
    Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias (Leipzig, 27. Januar 1726)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 12,17-21 (Christliche Lebensregeln)
    Evangelium: Matth. 8,1-13 (Heilung eines Aussätzigen; der Hauptmann von Kapernaum)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 20 Minuten


    Textdichter: Salomon Franck (1659-1725), aus dessen „Evangelischem Andachtsopffer“ (Dichtung von 1715)
    Choral: Markgraf Albrecht von Brandenburg-Preußen (1547)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Violino I/II, Viola, Continuo



    1. Chor SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Alles nur nach Gottes Willen,
    So bei uns Lust als Traurigkeit,
    So bei gut- als böser Zeit.
    Gottes Wille soll mich stillen
    Bei Gewölk und Sonnenschein!
    Alles nur nach Gottes Willen!
    Dies soll meine Losung sein.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    O sel’ger Christ,
    Der allzeit seinen Willen
    In Gottes Willen senkt,
    Es gehe, wie es gehe,
    Bei Wohl und Wehe!
    Herr, so du willt, so muss sich alles fügen!
    Herr, so du willt, so kannst du mich vergnügen!
    Herr, so du willt, verschwindet meine Pein!
    Herr, so du willt, werd ich gesund und rein!
    Herr, so du willt, wird Traurigkeit zur Freude!
    Herr, so du willt, find ich auf Dornen Weide!
    Herr, so du willt, werd ich einst selig sein!
    Herr, so du willt, - lass mich dies Wort im Glauben fassen
    Und meine Seele stillen! -
    Herr, so du willt, so sterb ich nicht,
    Ob Leib und Leben mich verlassen,
    Wenn mir dein Geist dies Wort ins Herze spricht!


    3. Aria Alt, Violino I/II, Continuo
    Mit allem, was ich hab’ und bin,
    Will ich mich Jesu lassen,
    Kann gleich mein schwacher Geist und Sinn
    Des Höchsten Rat nicht fassen;
    Er führe mich nur immer hin
    Auf Dorn- und Rosenstraßen!


    4. Recitativo Bass, Continuo
    So glaube nun!
    Dein Heiland saget: Ich will’s tun!
    Er pflegt die Gnadenhand
    Noch willigst auszustrecken,
    Wenn Kreuz und Leiden dich erschrecken,
    Er kennet deine Not und löst dein Kreuzesband!
    Er stärkt, was schwach!
    Und will das nied’re Dach
    Der armen Herzen nicht verschmähen,
    Darunter gnädig einzugehen!


    5. Aria Sopran, Oboe I, Streicher, Continuo
    Mein Jesus will es tun! Er will dein Kreuz versüßen.
    Obgleich dein Herz liegt in viel Bekümmernissen,
    Soll es doch sanft und still in seinen Armen ruh’n,
    Wenn ihn der Glaube fasst! Mein Jesus will es tun!


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Was mein Gott will, das g’scheh allzeit,
    Sein Will’, der ist der beste;
    Zu helfen den’n er ist bereit,
    Die an ihn glauben feste.
    Er hilft aus Not, der fromme Gott,
    Und züchtiget mit Maßen:
    Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut,
    Den will er nicht verlassen.



    In dieser Kantate, die Salomon Franck gedichtet hat (Franck war der Haupttextlieferant für Bachs Kantaten, die während seiner Weimarer Jahre [1708-17] entstanden), wird der theologische Bezug auf die in meiner Erläuterung zu BWV 73 gemachte "Herr, so du willt"-Aussage auf die Spitze getrieben: Allein im Rezitativ Nr. 2 wird dieser Text neun Mal wiederholt!
    Ein klassisches Beispiel für das Stilmittel "Anapher"! :]


    Aber auch in den anderen Sätzen, beginnend mit dem "Alles nur nach Gottes Willen" im Eingangschor, konzentriert Franck seine Kantatendichtung fast ausschließlich auf diese Aussage.
    Wie gesagt, in den anderen Kantaten für diesen Sonntag spielt selbige zwar auch eine Rolle, aber in dieser Kantate dürfte das Maximum an "wollen" in jeglicher Form erreicht sein... ;)


    So gesehen ist es nur konsequent, dass auch diese Kantate mit dem schönen Choral "Was mein Gott will, das g'scheh allzeit" endet (siehe auch BWV 111)....


    Die Arie Nr. 5 mit der Solo-Oboe ist übrigens wieder einmal ein Genuss für alle Oboenfreunde! :yes:

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo Bachfreunde (und solche die es werden wollen ;) ),


    für den Aufnahmevergleich habe ich natürlich wieder die üblichen Verdächtigen am Start, nämlich Leusink, Harnoncourt und Koopman.


    Beginnen wir mit Leusink.
    Bei dieser Kantate kommen im Eingangschor - im Gegensatz zum "Schwesterwerk" BWV73 - wieder alle negativen Merkmale des Leusinkschen Knabenchores zur vollen Entfaltung. Zusätzlich muß ich diesmal aber auch das Orchester schelten, besonders die Geigen, die unsauber und oftmals nicht zusammen spielen. Interpretatorisch ist mir das insgesamt zu wenig ausgearbeitet - mit anderen Worten, mir kommt das nur runtergespielt vor. Obwohl mir das Tempo an sich ganz gut gefällt. Ein weiterer Negativpunkt, wie anscheinend beim gesamten Zyklus, ist das Klangbild, welches sehr flach ist und die Tiefenstaffelung vermissen läßt.


    Die beiden folgenden Teile für Alt singt der andernorts vielgeschmähte Buwalda. Für diese Kantate kann ich den Schimpf allerdings nicht nachvollziehen. Ich höre hier eine ganz normale Altusstimme, die den Vergleich mit anderen nicht zu scheuen braucht. Man hört zwar auch hier eine gewisse Schärfe heraus, die wohl in anderen Einspielungen sehr unangenehme Ausmaße annehmen kann, aber wie geschrieben, in dieser Kantate bleibt das im Rahmen. Und so werden beide Sätze durchaus zum Hörvergnügen.


    Bas Ramselaar singt das folgende Rezitativ in gewohnter Qualität.


    Nun folgt das Glanzstück dieser Aufnahme, die Sopranaire mit Ruth Holten. In ruhigem, aber fließend schwingendem Tempo nimmt Leusink die Arie, was mir ganz ausgezeichnet gefällt. Und die Solistin passt sich dem wunderbar an, wobei sie durch ihre fast knabenartige Stimme besonders gut in den Gesamtklang hineinzupassen scheint. Und wie sie ihren drittletzten Ton, der weit nach oben aus der Gesanglinie ausbricht, hervorzaubert, das ist umwerfend schön.


    Beim abschließenden Choral kann ich dem Chor schließlich noch Schlampereien bei der Aussprache bescheinigen:
    Was mein Gott will, das g’scheh allzeit,
    Sein Will’, der ist der bääästä;
    Zu helfen den’n er ist bereit,
    Die an ihn glauben fäääästä.



    Nun zu Koopman.
    Die Kantate beginnt bei Koopman sozusagen im ICE-Tempo. Chor und Orchester können das spielend bewältigen und ich finde das im Großen und Ganzen sehr gefällig, allerdings gibt es auch Passagen, die mir zu schnell sind. Sehr gut gefällt mir der Klang von sowohl Chor als auch Orchester mit einer gewissen Massivität - etwas was bei Leusink fehlt. Trotz des hohen Tempos gelingt es Koopman vorbildlich, Spannungsbögen zu finden und herauszuarbeiten. Und es geht fast ungebremst in den Schlußakkord hinein, als fast ohne Ritardanto.


    Die bei Koopmans Bachkantaten sehr oft zum Einsatz kommende Altistin Bogna Bartosz singt die beiden folgenden Sätze. Ihr Stimme gefällt mir sehr gut. Während Leusink den sperrigen Rhythmus im Rezitativ bei der neunfachen Wiederholung von Herr, so du willt eher glattbügelt, arbeitet das Koopman geradezu heraus. Und das ist eine, wie ich finde, sehr passende Textausdeutung von Herr, so du willt, so muss sich alles fügen!. Auch wenn´s nicht so recht zusammenpassen mag, so müssen sich Text und Musik doch zusammenfügen. Allerdings tun sie es an dieser Stelle sehr widerwillig. Die Altarie setzt dann das schnelle Tempo von Eingangschor fort. Herrausragend gefällt mir dabei, wie die beiden Sologeigen miteinander und mit der Solisten konzertieren. Dabei spielt im Continuo die Laute eine dominierende Rolle - auch das finde ich einen großartigen Effekt, wie überhaupt das Continuo in dieser Arie nicht nur die harmonische Basis liefert sondern im Konzert der anderen voll mitmischt.


    Klaus Mertens findet im Baßrezitativ eine sehr textnahe und entsprechend im Tempo freie Interpretation, die ich sehr ansprechend finde.


    Die Sopranarie ist mir nun aber eindeutig zu schnell. Auch wenn alle Beteiligten das wirklich prima und klangschön singen und spielen, wirkt die Arie in dem Tempo einfach nicht. Da heißt es u.a. im Text Soll es doch sanft und still in seinen Armen ruh’n und ich frage mich, wie das in dem Tempo funktionieren kann.


    Und auch den Schlußchoral finde ich eine Spur zu hastig.



    Zum Schluß (vorerst) noch Harnoncourt.
    Nachdem ist Leusink zuerst gehört hatte, habe ich mich schon auf eine weitere Aufnahme mit Knabenchor "gefreut". Aber Überraschung! So schlecht ist das nun wirklich nicht! Die Tölzer haben einen wesentlich homogeneren Chorklang und auch ein deutlich größeres technisches Können als der Hollands Boy Choir. Auch meine ich bei den Tölzern - im Gegensatz zu Leusinks Chor - zu hören, dass sie mit Begeisterung bei der Sache waren. Also das ist sehr viel besser anhörbar. Was dafür IMO überhaupt nicht gut ist, das sind der Orchesterklang und Harnoncourts Interpretation. Ersterer ist sehr scharf und spitz, oftmals sogar schrill, bedingt vor allem durch die Geigen. Und auch die Oboen quäken ihres dazu, wenn die forte spielen müssen; im piano klingen sie gut. Ganz unschuldig daran ist wohl auch die Aufnahmetechnik nicht, denn die Aufnahme klingt als ob die Musiker in einer Tonne saßen, die Mikros aber vor dieser standen. An der Interpretation gefällt mich das Abgehackte überhaupt nicht. Es kommt dadurch zustande, dass Harnoncourt die Akzente auf betonte Taktteile oder bestimmte Worte maßlos übertreiben läßt und dann nachfolgende unbetonte Noten auch noch sehr zurücknimmt. Ein Beispiel: Al-les. Das verhindert jegliches musikalisches Fließen und zerhackt den Chor in kleinste sinnlose Stücke.


    Paul Esswood singt die dann folgenden Sätze für Alt. Vom Klang sind er und Syste Buwalda sehr nahe beieinander - was meine obige Einschätzung bestätigt, dass BWV72 eine der guten Aufnahmen mit Buwalda sein dürfte. In der Arie zeigt sich, woran das Orchester im Eingangschor vermutlich krankt - es fehlt die Homogenität im Klang und vielleicht auch im Können bei den Geigen. Denn was man in dieser Arie von den zwei Sologeigen zu hören bekommt, das ist durchaus ansprechend - auch wenn sie im Vergleich zu den anderen HIP-Aufnahmen recht dünn klingen. Aber schieben wir das mal auf die Aufnahmetechnik.


    Ruud van der Meer singt das Rezitativ nah am Text - so soll es sein.


    Mit einem Knabensopran (Wilhelm Wiedl) bekommt man dann die Sopranarie präsentiert und zwar durchaus ansprechend. Auch wenn man kleine technische Mängel zu hören bekommt, so ist das doch für einen Teenager eine sehr beachtliche Leistung, die sich vor "echten" Sopranen nicht zu verstecken braucht! Sehr schön kriegt er auch den hohen Ton kurz vor Schluß hin. Vom Tempo her gefällt mir´s auch, allerdings fehlt es etwas an der Entwicklung größerer Bögen.


    Im Schlußchoral passiert wieder das Gleiche wie im Eingangschor, Harnoncourt zerhackt den Choral durch übermäßige Betonungen bzw. durch viele kleine Löcher nach betonten Silben.




    Übrigens ist die oben angeführte Aufführungsdauer etwas zu hoch gegriffen. Alle drei von mit besprochene Aufnahmen bleiben deutlich darunter (Leusink und Harnoncourt jeweils 17 Minuten; Koopman nur 14). Die Zeitunterschiede kommen eigentlich nur durch Eingangschor und die beiden Arien zustande. Bei den Rezitativen ist man sich ob des Tempos relativ einig. Aber ich will nicht in Zweifel stellen, dass es unter den Aufnahmen auch 20-Minüter geben wird.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo Thomas,


    danke für Deinen interessanten Interpretations-Vergleich :hello:


    Das mit der Aufführungsdauer, die in meinen Einführungen angegeben wird und die bisher auch in den Fällen, wo ich selber Kantaten mit verschiedenen Einspielungen verglichen habe, immer als viel zu lange angegeben war (selbst bei Richter :] ), hat mich auch überrascht.


    Ich entnehme diese spezielle Angabe immer Alfred Dürrs Standardwerk zu den Bachkantaten, da er der Einzige ist, der sich überhaupt traut, sich mit einer derartigen Zeitangabe aus dem Fenster zu lehnen :yes:


    Keine Ahnung, wo er diese Zeitangaben hergenommen hat... evtl. stammen sie noch aus einer Zeit, in der selbst Karl Richter noch als flinker Bachinterpret galt? :D


    Oder er schätzt nur einfach ganz großzügig und schlägt aus "Kulanzgründen" bei seinen Angaben immer noch ein, zwei Minuten Aufführungsdauer drauf :wacky:


    Wer weiß.... ?(


    Vergleicht man allerdings diese Dürr-Zeitangaben ausschließlich untereinander, vermögen sie einem evtl. ja doch ein Verhältnis der Länge der einzelnen Kantaten im Vergleich miteinander zu geben... und das ist ja auch schon was.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Zitat

    Original von MarcCologne
    Oder er schätzt nur einfach ganz großzügig und schlägt aus "Kulanzgründen" bei seinen Angaben immer noch ein, zwei Minuten Aufführungsdauer drauf :wacky:



    Wenn er die Aufnahmen von Fritz Werner und seinem Württembergischen Kammerorchester zugrunde gelegt hat, dann hat Dürr wohl immer ein paar Minuten abgezogen. :D


    Aber danke für die Aufklärung!



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo Thomas,


    Du wirst lachen: Das sagt mir jetzt gar nichts....


    Wann ist das Württembergische Kammerorchester unter Fritz Werner denn im Bachsektor aktiv gewesen - war das noch vor Karl Richter?


    Wenn ja, wäre es sicher interessant, einige Kantateneinspielungen von denen hier im Bachkantatenforum vorzustellen - "Exoten" (gleich welcher Art) finde ich immer spannend - sie helfen, die eigenen Hörgewohnheiten mal in Frage zu stellen...

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Salut Marc,


    die Aufnahmen stammen aus einem Zeitraum von den späten 50ern bis in die frühen 70er Jahre. Werner hat immerhin etwa ein Drittel der Bachkantaten für Erato eingespielt. Heutzutage gibt es diese Aufnahmen in zwei 10-CD Boxen. Und in einer weiteren 10-CD Box den großen Oratorien...



    :hello:
    Thomas



    Edit: Ich hab das Württembergisches Kammerorchester falsch im Gedächtnis gehabt. Richtig muß es heißen: Kammerorchester Pforzheim

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -