Wie schon im Rahmen der Vorstellung der Kantaten zum Sonntag Estomihi erwähnt, hatte in Leipzig während der Passionszeit die Figuralmusik in den Kirchen zu schweigen. Bach hatte somit genügend Zeit, sich den äußerst anspruchsvollen Kompositionen seiner Passionsmusiken für den Karfreitag zu widmen - ein für die gesamte Musikwelt sehr praktischer Umstand also. Denn wer weiß, wieviel Zeit Bach für die Komposition beispielweise einer Matthäus-Passion geblieben wäre, wenn er während der gesamten Passionszeit den gewohnten sonntäglichen Kantaten-Kompositionsrhythmus hätte beibehalten müssen?
Somit stammen die wenigen Kantaten, die für Sonntage der Passionszeit entstanden sind, nicht aus Bachs Leipziger Zeit. Die Kantate für den Sonntag Oculi ist somit während Bachs Weimarer Zeit entstanden.
Der Name des Sonntags leitet sich vom Beginn des Psalms, der im Gottesdienst des heutigen Tages vorgetragen wird, her. Es ist Vers 15 aus Psalm 25: "Meine Augen sehen stets auf den Herrn", nur eben auf lateinisch.
BWV 54: Widerstehe doch der Sünde
Kantate zum Sonntag Oculi (vermutlich Weimar 1714)
Lesungen:
Epistel: Eph. 5,1-9 (Ermahnung zu reinem Lebenswandel)
Evangelium: Luk. 11,14-28 (Jesus vertreibt die bösen Geister nicht mit Beelzebubs Hilfe)
Drei Sätze, Aufführungsdauer: ca. 14 Minuten
Textdichter: Georg Christian Lehms, aus dessen Dichtung „Gottgefälliges Kirchen-Opffer“ (1711)
Besetzung:
Solo: Alt; Violino I/II, Viola I/II, Continuo
1. Aria Alt, Streicher, Continuo
Widerstehe doch der Sünde,
Sonst ergreifet dich ihr Gift.
Lass dich nicht den Satan blenden;
Denn die Gottes Ehre schänden,
Trifft ein Fluch, der tödlich ist.
2. Recitativo Alt, Continuo
Die Art verruchter Sünden
Ist zwar von außen wunderschön;
Allein man muss
Hernach mit Kummer und Verdruss
Viel Ungemach empfinden.
Von außen ist sie Gold;
Doch will man weiter geh’n,
So zeigt sich nur ein leerer Schatten
Und übertünchtes Grab.
Sie ist den Sodomsäpfeln gleich,
Und die sich mit derselben gatten,
Gelangen nicht in Gottes Reich.
Sie ist als wie ein scharfes Schwert,
Das uns durch Leib und Seele fährt.
3. Aria Alt, Streicher, Continuo
Wer Sünde tut, der ist vom Teufel,
Denn dieser hat sie aufgebracht.
Doch wenn man ihren schnöden Banden
Mit rechter Andacht widerstanden,
Hat sie sich gleich davongemacht.
Die Entstehung der Kantate für den Sonntag Oculi ist nicht ganz eindeutig zu belegen, jedoch spricht z. B. der Bezug der Dichtung auf die Epistel für den heutigen Sonntag und die im Evangeliumstext enthaltenen Hinweise auf Teufel und Beelzebub und deren Vertreibung für eine Komposition, die anlässlich dieses Fastensonntags entstanden ist.
Da jedoch das Thema "Sünde", bzw. "Versuchung" ein zentrales christliches Thema darstellt, wäre natürlich auch eine andere Bestimmung dieser Kantate denkbar. Alfred Dürr vermutet u. a. den 7. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1714 als weiteren möglichen Entstehungsanlass, da es auch an diesem Tag in den Lesungen um die Sünde geht.
Außerdem hatte Bach in Weimar nur alle 4 Wochen eine Kantatenkomposition anzufertigen (sonst gäbe es sicher noch einige weitere Kantaten für Fastensonntage aus seiner Weimarer Zeit) und hielt diesen Rhythmus anscheinend recht strikt ein. Die Entstehung einer Kantate zum Sonntag Oculi des Jahres 1714 passt nun anscheinend nicht in dieses 4-wöchige Schema, fällt also aus dem Rhythmus.
Aber deshalb sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Kantate nun nicht für diesen Fastensonntag entstanden sein sollte: Es gibt so oft irgendwelche außerplanmäßigen Vor- und Zufälle, die unerwartete und unvermutete Maßnahmen erfordern, dass es ohne Weiteres sein kann, dass Bach für diese Komposition aus seinem gewohnten 4-wöchigen Kompositionsrhythmus ausscheren musste (z. B. weil ein Kollege erkrankt war) und somit für den Sonntag Oculi des Jahres 1714 eine vorher so nicht geplante Komposition schuf.
Dafür spräche die Knappheit der Komposition: Eine nur dreiteilige Kantate, die zudem weder Chorbeteiligung und außer einem Streichensemble auch keine weiteren "Zusatzinstrumente" erfordert, sondern nur von einer einzigen Solostimme bestritten wird, ist in Bachs Kantatenschaffen eher die Ausnahme.
Man hat aufgrunddessen auch lange angenommen, dass diese Kantate nur unvollständig überliefert wurde, bis man den zugrundeliegenden Textdruck entdeckte und feststellte, dass tatsächlich keine weiteren Sätze dieser Kantate mehr existieren konnten.
Die hier vorliegende Satzfolge Arie-Rezitativ-Arie ist wohl so etwas wie die rudimentärste Form einer Kantate überhaupt.
Während die Eingangsarie aus dem Gegensatz "Schönheit der Sünde" und dem erforderlichen "Widerstand" dazu lebt und zur Illustration des Textes u. a. mit einem dissonanten Einsatz beginnt, ist das Rezitativ Nr. 2 in seiner Machart wohl typisch für den jungen Bach der Weimarer Zeit zu nennen - es endet mit einem ausgeprägten Arioso.
Nachdem nun die Passionszeit-Sonntage Invocavit und Reminiscere bereits verstrichen sind (für sie existieren keine Bach-Kantaten), steht nun die nächste Bachkantate erst wieder für den 25. März an: Das noch zur Bachzeit auch von Protestanten begangene Fest Mariae Verkündigung.