Russischer Orchesterklang - Nur eine Frage der Instrumente?

  • Liebe Taminas und Taminos,


    in vielen Threads zur russischen Musik wird er lobend erwähnt: der russische Orchesterklang. Knarzige Rauheit in den Blech- und Holzbläsern zeichnet ihn aus. Gern wird er von Fans dieses Klanges gerade bei Schostakowitsch-Aufnahmen dem Big Band-Klang von Bernstein entgegengehalten. Das allmähliche Aussterben dieses Klanges wird beklagt.


    Nun lese ich im Fono Forum 4/2007 in einer Besprechung der Tschaikowskij-Einspielungen Pappanos von Werner Pfister (S. 73):


    "Die Holzbläser klingen zeitweise... derart fahl, als wäre man noch mitten im sozialistischen Realismus, als bekanntlich erstklassige Instrumente weitgehend fehlten."


    Da stelle ich mir doch die Frage: War der besondere russische Orchesterklang nur die Folge schlechter Instrumente?


    Was meint ihr?


    fragt Thomas

  • Edwin, hast Du etwa Urlaub? Dein Typ wird verlangt... :boese2:
    (Das hast Du jetzt davon, dass Du immer Propaganda für die "knarzigen" Sowjetaufnahmen machen musst :D )


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Knarzig? Das würde ich nicht sagen. Auf den geglätteten und polierten Schönklang (wie das bei einigen amerikanischen Orchestern und in deren Folge auch bei europäischen der Fall war) scheint man zu Sowjetzeiten allerdings nicht geachtet zu haben. Die Folge: eine gesteigerte Emotionalität bei vielen sowjetischen Einspielungen im Vergleich zu westlichen.


    Da die technische Qualität der sowetischen Platten nicht immer Top war (zumindest dem Vernehmen nach; ich selbst hatte bislang noch kein arges Pech) mag der von dem vorgenannten Schreiberling beklagte fahle Klang auf Aufnahmetechnische Mängel zurückzuführen sein.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zur näheren Beschreibung des russischen Orchesterklangs sei Edwins Kurzcharakterisierung aus einem Schostakowitsch-Thread zitiert:


    Zitat

    Im Zusammenhang mit Schostakowitschs Musik haben russische Orchester einen unschätzbaren Vorteil: Sie produzieren den Klang, den Schostakowitsch im Ohr hatte.
    Das bedeutet: Körnige Holzbläser mit im Baß rumorenden Fagotten, scharf konturiertes Blech (mit Vibrato, wenn solistische Melodien gespielt werden), Streicher in riesiger Besetzung (etwa mit 10 Kontrabässen), deren Klangkraft es ermöglicht, ohne extremen Bogendruck präsent zu sein und an den Höhepunkten wirklich durchdringend zu klingen.
    Dazu kommt die ungeheure Spannung, unter die sich russische Orchester setzen: Auch die Ruhe vibriert geradezu und die Höhepunkte sind von einer Klanggewalt, die unvergleichlich ist.



    Thomas

  • Zitat

    Original von Santoliquido


    (...) mag der von dem vorgenannten Schreiberling beklagte fahle Klang auf Aufnahmetechnische Mängel zurückzuführen sein.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:


    Hallo,


    a) Werner Pfister ist kein Schreiberling.


    b) Was mir bei historischen, sowjetischen Aufnahmen manchmal auffällt: Die Holzbläser spielen nicht so intonationsgenau wie auf westlichen Einspielungen. Ich frage mich immer, ob das an den Instrumenten liegt oder an den Musikern oder an der Aufnahmetechnik.


    Freundliche Grüße


    Heinz

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  • Ich behaupte mal, dass zumindest im Durchschnitt auf kaum einer historischen Aufnahme die Holzbläser so intonationsgenau spielen wie es heute normalerweise der Fall ist, egal ob Berliner unter Furtwängler, Wiener oder wer auch immer. Ich habe zwei Schumann-Sinfonien unter Schuricht, IIRC mit einem französischen Orchester, da zieht's einem mitunter die Schuhe aus. :rolleyes: :wacky:


    Der Zusammenhang von "fahlem" Klang und erstklassigen oder zweitklassigen Blasinstrumenten erschließt sich mir nicht direkt. Das für den Laien auffallendste der russischen Aufnahmen der 50er bis 70er ist das Blech, sehr durchdringend, mitunter grell und mit deutlichem, manchmal aufdringlichem vibrato. Das ist also eher das Gegenteil von fahl.
    Beim Holz könnte ich jetzt aus dem Stand nicht sagen, was hier das für russische Tradition besondere sei. Meiner Erinnerung nach auch eher mehr vibrato als in D, A oder dem angelsächsischen Bereich üblich.
    Aber hier gibt es ziemlich deutliche regionale Unterschiede, z.B. im vibrato, in Klangfarbe und teils auch Bauart (frz. "basson" frz. u. deutsche Klarinetten), aber auch Spielweisen. Und entsprechende Geschmacksunterschiede (was sich ja z.B. hier im Forum an Kommentaren eines professionellen Bläsers zum Holz eines sehr berühmten Orchesters gezeigt hat). Wenn man z.B. einen charakteristisch "quäkigen" Oboenklang bevorzugt, wird man einen jüngeren Oboisten wie Mayer, der eher weich und recht "neutral" klingt, evtl. fade finden. Ähnlich stechen "böhmische" Klarinetten mitunter durch einen eher hellen, fast quietschigen Klang heraus, während man sonst einen dunkleren Ton pflegt. Auch franz. Klarinetten klingen traditionellerweise anders (auch eher hell).


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ein gut Teil des Klanges ist sicherlich auf die Aufnahmetechnik zurückzuführen. Man denke an den ebenfalls ganz besonderen Klang der RRG-Tonbänder aus den 1940er Jahren, die Instrumenten und Sängern einen ungemein saftigen, metallischen Klang bescherten. War man daran gewöhnt, klangen einige spätere Aufnahmen enttäuschend. Ich glaube, daß viele der russischen Aufnahmen aus den fünfziger Jahren - benutzte man in der SU die Magnetophon-Technik, die man nach Ende des Krieges eventuell aus Deutschland mitgebracht hatte? - mit heutiger Aufnahmetechnik weniger "extrem" klingen würden. Die Aufnahmen der symphonischen Dichtungen von Liszt unter Golovanov beispielsweise oder viele der schönen Operngesamtaufnahmen, die in derselben Zeit gemacht wurden. Es herrscht, zumindest was die Sänger angeht, ein himmelweiter Unterschied, wenn man eine Studio-Aufnahme aus der SU zur Hand nimmt und diese mit live-Mitschnitten vergleicht, die von denselben Sängern andernorts mit anderer Technik gemacht wurden.
    Was das mit der Intonation zu tun hat, verstehe ich allerdings nicht. Und freilich gibt es einen russischen Klang, nur glaube ich, daß dieser durch die Aufnahmetechnik vieler berühmter Aufnahmen auf die Spitze getrieben wurde.

  • Danke für das Zitat, Thomas, da muß ich nicht mehr auf die Suche gehen. :D


    Natürlich hängt der Klang mit den Instrumenten zusammen. Man merkt's speziell beim Blech, das etwas enger mensuriert ist. Klanglich sind die Hörner das Bindeglied zwischen Holz- und Blechbläsern - also ganz so wie im Orchester der Romantik, was man in alten Partituren daran sieht, daß die Hörner oberhalb der Fagotte, also bei den Blechbläsern, notiert waren. Konsequenterweise werden im russischen Orchester die Posaunen als Verlängerung der Trompeten in den Baß aufgefaßt.


    Der "fahle" Klang stimmt bis zu einem gewissen Grad: Das Blech tritt im piano nicht hervor, tiefe Flöte und tiefe Trompete sind ähnlich im Klang.


    Im forte ist das Blech extrem präsent, aber nicht mit Klangfülle, sondern mit mitunter schneidender Schärfe - also der denkbar größte Kontrast zum "Brass" der Amerikaner, dasauch von den Europäern immer mehr angestrebt wird. Und in letzter Zeit leider auch von den Russen.


    Was obendrein zu dem als "russisch" empfundenen Klang führt, sind natürlich auch die Interpretationsentscheidungen der Dirigenten der russischen Schule, die auf Kontraste setzen und das europäische "Orchesterpedal", also den mitunter als wohlig empfundenen opulenten Sound, ablehnen.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Im forte ist das Blech extrem präsent, aber nicht mit Klangfülle, sondern mit mitunter schneidender Schärfe - also der denkbar größte Kontrast zum "Brass" der Amerikaner, dasauch von den Europäern immer mehr angestrebt wird. Und in letzter Zeit leider auch von den Russen.


    :hello:


    Nur zum Verständnis:


    Wie würdest Du die Bläser bei Beethovens 3. Symphonie unter Toscanini in der Aufnahme von 1949 bezeichnen (auch wenn dort die Techniker vielleicht etwas nachgebessert haben?), falls Du diese Aufnahme kennst?
    - Amerikanisch - "Brass" oder
    - "mit schneidender Schärfe".


    (Dies ist keine ironische Frage!)


    Bis dann.

  • Beitrag gelöscht und in den richtigen Thread verschoben. Die Irritation war entstanden, weil dieses Reste-Thema hier unter dem Namen des Dirigenten Otmar Suitner im Themenvereichnis geführt wird.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Eigentlich ist das ein höchst spannendes Thema. Ein Wunder, dass es anderthalb Jahrzehnte unberührt blieb.


    Im forte ist das Blech extrem präsent, aber nicht mit Klangfülle, sondern mit mitunter schneidender Schärfe - also der denkbar größte Kontrast zum "Brass" der Amerikaner, dasauch von den Europäern immer mehr angestrebt wird. Und in letzter Zeit leider auch von den Russen.

    Das Zitat datiert bereits auf 2007. Tendenziell stimmt das ja auch. Wobei ich erfreulicherweise schon mehrfach das Vergnügen hatte, Wladimir Fedossejew mit seinem Orchester (dem ehemaligen des Allunions-Rundfunks der UdSSR, dem er ja seit 1974 ununterbrochen vorsteht) live zu erleben und eigentlich jedes Mal das bestätigt fand, was mir auch neuere Aufnahmen nahelegten, dass zumindest unter den großen alten Maestri der alte russische Orchesterklang durchaus noch existiert. Dumm nur, dass allmählich die allerletzten aus dieser Dirigentengeneration verschwinden. Gennadi Roshdestwenski (2018 verstorben) war auch so ein Fall, wo man es mitunter kaum glauben konnte, aber wenn er am Pult stand, klang das Orchester (das einstige des Kulturministeriums der UdSSR, wo heute Waleri Poljanski Chefdirigent ist) selbst in den 2010er Jahren noch genauso, wie man es aus seinen längst legendären sowjetischen Aufnahmen kennt. Juri Temirkanow, Juri Simonow und vielleicht noch drei andere sind weitere noch lebende Repräsentanten des alten Klanges.

    Die allermeisten (jüngeren) russischen Dirigenten verfolgen aber in der Tat ein anderes Klangideal, egal ob sie nun Kirill oder Wassili Petrenko heißen, aber auch eigentlich alte Hasen wie Dmitri Kitajenko, sowjetisch sozialisiert und in seinen frühen Aufnahmen formidabel, der seit seinem Weggang in den Westen (1990) fast nur mehr westliche Orchester dirigiert und mit den Jahren leider auch immer beliebiger wurde.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die allermeisten (jüngeren) russischen Dirigenten verfolgen aber in der Tat ein anderes Klangideal, egal ob sie nun Kirill oder Wassili Petrenko heißen, aber auch eigentlich alte Hasen wie Dmitri Kitajenko, sowjetisch sozialisiert und in seinen frühen Aufnahmen formidabel, der seit seinem Weggang in den Westen (1990) fast nur mehr westliche Orchester dirigiert und mit den Jahren leider auch immer beliebiger wurde.

    Lieber Josef,


    vor vielen Jahren gab es mal die Übertragung einer interessanten Probe mit Neeme Järvi. Da erklärte er einem westlichen Orchester den typischen russischen Bogenstrich, wodurch die Celli diesen typischen satten Klang bekommen. Der "typisch russische Klang" liegt also vor allem auch an Spieltraditionen und der Ausbildung der Musiker in Russland in einer solchen Tradition, und nicht nur am Dirigenten! :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wobei ich erfreulicherweise schon mehrfach das Vergnügen hatte, Wladimir Fedossejew mit seinem Orchester (dem ehemaligen des Allunions-Rundfunks der UdSSR, dem er ja seit 1974 ununterbrochen vorsteht) live zu erleben und eigentlich jedes Mal das bestätigt fand, was mir auch neuere Aufnahmen nahelegten, dass zumindest unter den großen alten Maestri der alte russische Orchesterklang durchaus noch existiert.

    Was Deine Beobachtungen anbelangt, bin ich ganz bei Dir, lieber Joseph. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich russische Orchester durch die Ausgrenzung seitens des Westens, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt, wieder mehr auf eigene Traditionen besinnen wie sie sich einst hinter dem Eisernen Vorhang so lange hielten. Nach drei Jahrzehnten der Öffnung senkt sich dieser Vorhang wieder. Man darf also gespannt sein, was sich dahinter künstlerisch tut. Abschottung hat ihr eigenes kreatives Potenzial.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent