Leonard Bernstein - unumstritten oder langweilig?

  • Liebe Taminoianer,


    Wenn ich mir die Diskussionen über Dirigenten so ansehe, dann fällt auf, daß Leonard Bernstein - zu Lebzeiten einer der gefragtesten und bewundertsten Dirigenten überhaupt - im Forum kaum erwähni wird. Es gibt zwar einige Threads - aber sie verliefen braf und eigentlich wenig inspiriert.
    Ganz anders als die neuesten Karajan-Threads. Dabei gatl Lennnie lange Zeit als dessen Rivale (was Karajan in einem Buch dezidiert bestritt)


    Was bedeutet das ? Hat uns Bernstein heute nichts mehr zu sagen ? Wo ist seine "Fangemeinde"? Warum steigen die Anhänger bei Themen um Karajan, Norrington,Celibidache und Thieleman "auf die Barrikaden, während es um Bernstein auffallend still geworden ist.


    Was könnte die Ursache hiefür sein ?
    Wer von Euch schätzt noch heute seine Aufnahmen - und wer nicht ??


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich glaube nicht, dass es um Bernstein stiller geworden ist als um Celibidache, Böhm oder Jochum. Von allen toten Dirigenten ist nur Karajan noch permanent präsent und der hat verglichen mit seinem Ruhm zu Lebzeiten auch an Aufmerksamkeit eingebüßt.


    Mir gefällt an seinen Aufnahmen, dass er sich wenig um irgendwelche Konventionen scherte. Das klingt jetzt vielleicht pathetisch aber so ist es: Er wollte weder einen üppigen Schönklang mit dicken Streichern erreichen noch irgendwelche HIP-Ideen umsetzen. Ihm ging es um den Ausdruck und die Interpretation der Musik. Dadurch wird es schwer ihn zu vergleichen.


    Die absolute Emotionalität ist es, die ich bei ihm so schätze. Dabei wird er praktisch nie kitschig und das rechne ich ihm hoch an. Außerdem konnte er mit langsameren Tempi oft einer "heißeres" Feuer entfachen als Karajan. Überhaupt ist sein Stil flexibler und klarer als der von Karajan, was vielleicht seine Beliebtheit (in Wien) erklärt.


    Von seinen Aufnahmen kenne ich den Fidelio, den Wiener Beethoven Zyklus und seinen Schumann sowie späte Mozartsymphonien aus den 80ern. Am liebsten ist mit aber seine 9.Dvorak mit dem Israel Philharmonik. Der zweite Satz wird einfach traumhaft gespielt. Sicher 6 Minuten zu lang, aber an keiner Stelle fällt es auf. Ich liebe diese Aufnahme über alles!
    Auf meiner Liste steht außerdem noch sein Tschaikowski mit dem NYPO und vielleicht die eine oder andere Brahmssymphonie.


    Und sollte ich mich jemals Mahler widmen, weiß ich schon wem ich mich anvertraue.


    Müsste ich mich jetzt entscheiden, würde ich gemessen am Stellenwert die seine Aufnahmen bei mir haben sagen: UNUMSTRITTEN!!!


    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Irre ich mich, oder war es Bernstein, der Mahler in die Konzertsäle brachte, auch mit einem gewissen Druck?
    Ich habe den Thread am Nachmittag gelesen und er ging mir nicht mehr aus dem Sinn, da „Lenny“, wie er ja auch liebevoll genannt wurde, nicht nur sehr gut war, sondern auch sehr beliebt. Wenn ich nicht irre, gibt es auch Einspielungen von Klavierkonzerten, die er am Flügel selbst spielt. Vielleicht wird er zu oft als Komponist der „West Side Story“ gesehen; seine Oper „Candide“ war ja auch in Europa zu sehen. Für mich ist er einer der ganz großen Dirigenten; ich habe auch einige CDs von ihm, und ich fand immer er strahlt eine Vitalität aus, wie wenige Dirigenten seines Formats. Dazu vielleicht noch ein Link, der seine Bedeutung gebührend wiedergibt. http://www.klassikakzente.de/a…onard_bernstein_12147.jsp
    LG Micha:hello:

  • Ob es um irgendetwas oder irgendjemanden Still geworden ist, hängt von der Sichtweise jedes Einzelnen ab.


    Bei mir ist es was Leonard Bernstein anbetrifft keinesfalls Still geworden, denn er gehört zu meinen Lieblingsdirigenten von dem ich zahlreiche Aufnahmen und CD´s habe, die ich als referenzwürdig bezeichen würde.


    Dabei möchte ich ganz besonders folgende CD´s als ganz großen Wurf herausstellen:
    1. Hindemith: Sinfonie in ES, Konzertmusik op.50, Sinf. Metharmorphosen
    mit den New Yorker PH (SONY)
    2. Hindemith: Mathis der Maler, Sinf.Metharmorphosen, Konzertmusik op.50
    Israel PH (DG)
    3. Sibelius: Sinfonien mit den New Yorker PH (SONY)
    4. Nielsen: Sinfonien Nr.2-5 (SONY)
    5. Berlioz: Symphonie fantastique (SONY 1964)
    6. Strawinsky: Le Sacre (SONY 1959)
    7. Beethoven: Sinfonien mit den WPO (DG)
    8. Bernstein: Sinfonien Nr.1-3 u.andere Bernstein-Werke (SONY und DG)
    9. Bartok: Konzert für 2Klaviere und Orchester (SONY)
    ....
    ich könnte die Liste weiter fortsetzen.


    :yes: Jede Bernstein-CD, die mir heutzutage preiswert "in die Finger" kommt, wird erworben; auch wenn das jeweilige Werk schon von einem anderen Dirigenten vorhanden ist.
    Dabei erlebte ich bisher außerst selten eine Bernstein-Aufnahme, die nicht wenigstens mit der Vorhanden mithalten konnte, wenn sie diese nicht sogar übertreffen.


    Jüngstes Positiv-Beispiel ist die Jahrhundertaufnahme der
    Mahler-Sinfonien mit den New Yorker PH (SONY).


    :D Aber man soll auch nicht nur loben.
    Zwei Bernstein-Aufnahmen haben mich nicht überzeugt - das ist halt nicht seine Welt:
    1. Bruckner: Sinfonie Nr.9
    2. Liszt: Les Preludes, Ung.Rhapodien und andere Liszt-Werke



    8) Als Konkurent zu Karajan habe ich Bernstein nie gesehen,
    da jeder von beiden seine eigene Welt vertritt (schon durch die örtliche Entfernung). Auch wenn viele Komponisten von beiden gut interpretiert sind, so sind dann beide Aufnahmenzyklen interessant (Beispiel: Beethoven, Schumann, Sibelius ...)


    Leonard Bernstein ist weder "umstritten" und was ich weit von ihm weisen möchte - "langweilig" - (niemals).

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von Michael
    Irre ich mich, oder war es Bernstein, der Mahler in die Konzertsäle brachte, auch mit einem gewissen Druck?


    Hallo Micha,
    Mahler war nie aus den Konzertsälen verschwunden, dank Bruno Walter, Otto Klemperer, Willem Mengelberg, Hermann Scherchen und Dimitri Mitropoulos. Der in den Sechziger einsetzende Boom nahm die Initialzündung von Jascha Horenstein auf, der mit legendären Aufführungen in London brillierte. Bei dem dann einsetzenden Wettrennen hatte Bernstein insoweit die Nase vorne, weil er als erster eine Gesamteinspielung vorlegen konnte, dicht gefolgt von Rafael Kubelik, Bernard Haitink und Georg Solti. Zu den besten Einspielungen gehört dieser Zyklus mE aber nicht. Bernstein hat später noch einen neuen - viel besseren - Zyklus begonnen, den er leider nicht mehr beenden konnte.



    Um eine meiner (nicht gerade wenigen) Lieblingseinspielungen zu nennen:

    Brahms: 1. Klavierkonzert mit Glenn Gould :)



    Es grüßt Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Hallo Micha,
    Mahler war nie aus den Konzertsälen verschwunden, dank Bruno Walter, Otto Klemperer, Willem Mengelberg, Hermann Scherchen und Dimitri Mitropoulos. Der in den Sechziger einsetzende Boom nahm die Initialzündung von Jascha Horenstein auf, der mit legendären Aufführungen in London brillierte. Bei dem dann einsetzenden Wettrennen hatte Bernstein insoweit die Nase vorne, weil er als erster eine Gesamteinspielung vorlegen konnte, dicht gefolgt von Rafael Kubelik, Bernard Haitink und Georg Solti. Zu den besten Einspielungen gehört dieser Zyklus mE aber nicht. Bernstein hat später noch einen neuen - viel besseren - Zyklus begonnen, den er leider nicht mehr beenden konnte.


    Lieber Peter, was stimmt nun?
    Sein Rang (Gustav Mahlers) als Komponist dagegen war noch bis weit nach seinem Tod (1911) umstritten. Es bildete sich zwar schnell eine Gemeinde enthusiastischer Anhänger, aber in der musikinteressierten Öffentlichkeit trafen seine Schöpfungen zunächst überwiegend auf Desinteresse, Unverständnis oder Ablehnung.
    Erst in den 1960er Jahren konnte sich sein Werk im Zuge der so genannten „Mahler-Renaissance“ endgültig durchsetzen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Dirigent Leonard Bernstein, der auch die erste Stereo-Gesamteinspielung der Sinfonien aufnahm.
    LG Micha:hello:

  • Zitat

    Lieber Peter, was stimmt nun?
    Sein Rang (Gustav Mahlers) als Komponist dagegen war noch bis weit nach seinem Tod (1911) umstritten. Es bildete sich zwar schnell eine Gemeinde enthusiastischer Anhänger, aber in der musikinteressierten Öffentlichkeit trafen seine Schöpfungen zunächst überwiegend auf Desinteresse, Unverständnis oder Ablehnung.
    Erst in den 1960er Jahren konnte sich sein Werk im Zuge der so genannten „Mahler-Renaissance“ endgültig durchsetzen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Dirigent Leonard Bernstein, der auch die erste Stereo-Gesamteinspielung der Sinfonien aufnahm.
    LG Micha:hello:


    Lieber Peter, vielleicht war es doch eher auf Wien bezogen:
    Gustav Mahler (1860-1911) war Dirigent der Philharmoniker und auch Komponist. 1907 verließ er Wien und die Philharmoniker im Bösen, da es zwischen ihm und den Philharmonikern zu Differenzen der musikalischen Interpretation der Oper kam. In den letzten Jahren seines Lebens leitete er die New Yorker Philharmoniker.
    Bernsteins Ziel bestand nun darin, die Wiener Philharmoniker und ihr Publikum für Mahler zu gewinnen; er wollte Mahler mit Wien versöhnen. Die Konzertbesucher, die Mahlers Musik lauschten, lernten durch Bernstein Mahler zu verstehen und seine Musik zu schätzen. So hatte Bernstein ganz unerwartet eine Mahler-Renaissance eingeleitet, die sich bald überall einstellte, wo er auftrat. Letztendlich konnte Bernstein Wien wieder für Mahler gewinnen.
    Gesamter Link:
    http://www.bernstein-berlin.de…eler/bernstein/e_nyph.htm


    LG Micha:hello:

  • Zitat

    Original von Michael


    Lieber Peter, was stimmt nun?
    Sein Rang (Gustav Mahlers) als Komponist dagegen war noch bis weit nach seinem Tod (1911) umstritten. Es bildete sich zwar schnell eine Gemeinde enthusiastischer Anhänger, aber in der musikinteressierten Öffentlichkeit trafen seine Schöpfungen zunächst überwiegend auf Desinteresse, Unverständnis oder Ablehnung.
    Erst in den 1960er Jahren konnte sich sein Werk im Zuge der so genannten „Mahler-Renaissance“ endgültig durchsetzen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Dirigent Leonard Bernstein, der auch die erste Stereo-Gesamteinspielung der Sinfonien aufnahm.
    LG Micha:hello:


    Meine Reaktion war zunächst einmal auf die Bemerkung, dass Bernstein Mahler erst wieder in die Konzertsäle gebracht habe, das stimmt objektiv nicht, deshalb die Aufzählung der Dirigenten von Mengelberg über Walter bis Mitropoulos, die in den 30er bis 60er Jahren Mahler aufführten (und teilweise einspielten). Immerhin liegen von dem "Lied von der Erde" eine große Anzahl hervorragender Einspielungen in der Zwischenzeit vor (ich nenne nur einmal diejenigen von Bruno Walter).


    Sprichst du aber von der Mahler-Renaissance, dann hast du zweifellos Recht, die setzte Mitte der 60er ein. Dabei ist mir damals Haitink (den ich auch mehrfach mit Mahlersinfonien im Konzert erlebte) zunächst mehr aufgefallen als Bernstein. Ich denke aber, dass gerade das Medium der Stereo-LPs nicht unbeträchtlich zur Mahler-Renaissance beigetragen hat.


    Jascha Horenstein gehöte sicher zu den "Verschworenen", von ihm lag damals schon eine ganze Reihe von Einspielungen vor (u.a. bei VOX, das ich über den "Ring der Musikfreunde" erreichen konnte). Ob nun seine Aufführung der 8. am 20.3.1959 - wie etwa im Gramophone behauptet - den Durchbruch brachte, da kann man nur spekulieren. Es kam mE mehreres zusammen: das konstante Wirken der Mahler-Freunde (und da nenne noch einmal Haitink), ein Umschwung in der Beurteilung der Mahlerwerke, die u.a. durch Publikationen zu seinem 100. Geburtstag bewirkt worden waren, einige Initialerlebnisse (wie die bei Horenstein in London), der Durchbruch der Stereo-LP - und dann der medienwirksame Einsatz von Lennie, den ich alles andere als unterschätze.


    Es grüßt Peter

  • Zitat

    Original von Michael
    vielleicht war es doch eher auf Wien bezogen:


    Lieber Michael,


    sicher hat Wien auch eine Rolle gespielt. Aber Amsterdam eben auch, immerhin war Mengelberg (und an ihm knüpft Haitink an) einer der großen Mahler-Protagonisten, und eben auch London, wo Robert Simpson für 1960 einen kompletten Mahlerzyklus bei der BBC veranlasste - und natürlich auch New York, wo es dank Bruno Walter ja eine nicht abreißende Mahlerrezeption gab.


    Es zeigt nur: Mahler war für diesen Durchbruch überreif - dass er von einer Jahrhundertsfeier ausging, ist ja nicht so ungewöhnlich. Wenn du dir mal die Aufnahmedaten der verschiedenen Mahler-Zyklen ansiehst, so liegen die sehr eng beieinander. Bernstein war eben der sportlichste ;)


    Es grüßt Peter

  • Beim Thema "Bernstein" bin ich, ehrlich gesagt, hin- und hergerissen. Aufgewachsen bin ich mit seinem Beethoven-Zyklus bei CBS, von dem mir vor allem die "Eroica" unvergesslich ist. Viele seiner Aufnahmen aus den 50er und 60er Jahren gefallen mir sehr gut, teleton hat ja schon einige genannt, erwähnenswert wären hier noch seine Aufnahmen damals zeitgenössischer amerikanischer Komponisten (Copland) und die Einspielungen von Haydns "Pariser" und "Londoner" Symphonien.


    Probleme, sogar große Probleme, habe ich mit vielen späteren Aufnahmen bei der Deutschen Grammophon. Beim Mahler-Zyklus der DG bin ich der genau entgegengesetzten Meinung von Peter, mir ist der neue, "frische" Zugang zur symphonischen Welt Mahlers in den 60ern wesentlich lieber als die späteren Mitschnitte, die m.E. von einer bedenklichen Über-Identifikation Bernsteins und einer daraus folgenden Hysterisierung der Interpretationen bei gleichzeitiger Extremisierung der Tempi geprägt sind. Das mag anfänglich aufregend sein, der Überdruck ist für mich auf Dauer aber ermüdend, zumal Bernstein dort einseitig gewisse Aspekte der Mahlerschen Musik verabsolutiert und so m.E. das Gesamtbild verzerrt (z.B. bei den beiden DG-Einspielungen der 9., wobei der Berliner Mitschnitt in dieser Hinsicht der schlimmere ist). Als noch schlimmer empfinde ich seinen Tschaikowskij, insbesondere die berüchtigte New Yorker Live-Einspielung der 6. Symphonie ("Pathétique") von, ich glaube, 1986, die, man möge mir diesen Ausdruck nachsehen, zu meinen absoluten Hassplatten zählt. Hier wird Tschaikowskijs schon sehr emotionale Musik nochmals extremisiert über die Grenzen des guten Geschmackes hinaus, Bernstein badet im Finalsatz geradezu wohlig im Gefühligkeitskonzentrat, berauscht sich am existentiellen Leiden und öffnet alle Tränen-Schleusen. Aber wem´s gefällt...


    Für mich ist Leonard Bernstein jedenfalls ein Dirigent, über dessen diskographische Hinterlassenschaft man trefflich streiten kann. Daher: UMSTRITTEN !


    :hello:


    GiselherHH


    P.S.: Es ist auch eine von Bernstein selbst promotete Legende, dass er Mahler erst wieder nach Wien gebracht habe. Nach den 7 braunen Jahren gab es von 1945 bis zum ersten Auftreten Bernsteins fast keine Konzertsaison bei den Wiener Philharmonikern, wo Mahler nicht auf dem Programm stand, dirigiert u.a. von Böhm, Walter, Klemperer, Horenstein, Karajan, Abbado, Mehta etc.

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Lenny verdanke ich meinen Einstieg in die Klassik, weil er es schaffte, Klassik gezielt durchs TV zu vermitteln. Insofern wusste er geschickt die Medien zu nutzen, ob man dies nun mag oder nicht. Desweiteren war er ein Partylöwe, der seinerzeit mit dem Rat-Pack unterwegs war, Wanderer zwischen den (sexuellen) Welten, Partylöwe, auch als Komponist zwischen den Welten unterwegs, immer pendelnd zwischen U und E, aber in meinen Augen immer voller Begeisterung. Ich erinnere mich daran, wie er "She's leaving home" von den Beatles auseinandernahm und... lobte!
    Für Klassik-Puristen ist jemand mit Whiskyglas und Zigarette sicherlich weniger als Kultobjekt geeignet, so ganz ohne Riefenstahl-Optik und Verklärung oder "nur" Professionalität. Irgendwie der erste Popstar der Klassik, was ja immer verdächtig ist. Aber ich vermute, die Bernstein-Anhänger gehen deshalb nicht auf die Barrikaden, wenn gegen ihn gewettert wird, nicht, weil es sie nicht gäbe, sondern weil sie einfach "cool" sind und schmunzelnd das Whiskyglas füllen... Prost!

  • Hallo zusammen,
    ich meine Bernstein ist keineswegs vergessen und ich glaube auch nicht, daß ihm wirklich ein Vergessen droht. Dies aus zwei ganz verschiedenen Gründen. Zum einen, weil Bernstein unter den Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sicherlich eine Ausnahmefigur insofern darstellt, als er, wenn er auch nicht unbedingt schulebildend gewirkt hat, so doch einen sehr einmaligen Personalstil ausgeprägt hat: wenig kompromißbereit, nicht auf Konsensinterpretationen sondern sehr an einer persönlichen, expressiv-emotionalen Lesart ausgerichtet. Ich würde sagen: sein Interpretationsstil ist stets verbindlich - aber eben nicht allgemeinverbindlich. Und sicherlich scheiden sich an seinen Interpreatationen - insbesondere denen seit Mitte der 1970er Jahren - die Geister. Ich habe viele Freunde, die seine oftmals langsamen, aber nie breiten Tempi ablehnen (besonders markant etwa in seinen DGG-Aufnahmen von Tschaikowskys 6. Symphonie (Finale), oder von Brahms 1. (Kopfsatz)) und Bernsteins Lesarten für emotional-überladen, sentimental, ja kitschig halten.
    Mir geht es da genau umgekehrt. Ich finde, bei aller persönlichen Extrovertiertheit, seinen Zugriff hochspannend und zumeist auch hoch-suggestiv. Ich könnte eine ganze Reihe von Einspielungen und Mitschnitten Bersteinscher Interpretationen nennen, die für mich gewissermaßen Offenbarungscharakter haben, beschränke mich aber nur einige wenige:


    Berlioz' Requiem, der Brahms Zyklus mit den Wienern, der Beethoven-Zyklus mit den Wienern (an dem sich sicherlich die Geister scheiden werden, der mich aber hat zu Beethoven zurückfinden lassen, wenn ich das mal so pathetisch formulieren darf), die Schumann Symphonien, das Brahmsche Doppelkonzert mit Kremer und Maisky, Dvoraks 9. (und zwar beide Einspielung, die ältere mit den New Yorkern und jene hier im Thread schon erwähnte mit dem Israel Philharmonic Orchestra. An diesen beiden Interpreatationen läßt sich übrigens die Entwicklung des Bernsteinschen Personalstils sehr schön nachvollziehen); seine beiden großen Mahler-Zyklen sind natürlich exorbitant (den jetzt auf DVD erschienenen dritten kenne ich leider noch nicht), und, und, und... Ich liebe auch seine älteren Interpretationen von Haydens Pariser- und Londoner-Symphonien.


    Bernstein hat IMO sein Herzblut in jede seiner Interpretation gegeben und so Großartiges geschaffen - und ist zum Teil auch großartig gescheitert (IMO etwa mit seiner Fassung des Händel'schen »Messiah« aus den 1950ern, die ich persönlich schon irgendwie mag, die aber sehr, sehr neben jeder Spur herfährt, mit seinem »Tristan« oder bisweilen auch als Schostakowitsch-Dirigent).


    Der zweite wichtige Aspekt, der Berstein sicherlich vor dem Vergessen werden bewahren wird, ist, daß er ja nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist war - und zwar ein meiner Meinung nach hochinteressanter. Der ihm oftmals vorgeworfene »Ekletizismus« scheint mir auf einem gründlichen Mißverständnis seines ästhetischen Programms zu beruhen. Ich glaube nämlich, der Bersteinsche »Ekletizismus« (wenn man schon bei diesem in Europa doch sehr negativ besetztn Begriff bleiben will) ist Programm im Konzept einer diasporistischen Ästhetik (wie man sie in der Kunst etwa im Werk von Ron B. Kitaj, in der Philosophie bei Vilém Flusser oder in der Literatur bei William Saroyan findet). Aber das gehört vielleicht einmal gesondert diskutiert.
    Leider wird Bernsteins kompositorisches Schaffen ja oftmals auf die (zugegebener Maßen: geniale) »West Side Story« reduziert. Aber seine drei Symphonien, das Konzert für Orchester (Jubilee Games), die Serenade, die Ballette »Faksimile« und »Dybbuk«, seine Oper »A Quiet Place«, die orgiastische »Mass« usw. gehören zu jenen Werken des 20. Jahrhunderts, die IMO einer wirklichen Entdeckung noch bedürfen.
    Übrigens, und jetzt wieder zu Bernstein als Interpreten zurück, gefällt mir der junge Bernstein (also in seiner CBS-Zeit) als Interpret seiner eigenen Werke oftmals erheblich besser als der späte - das gilt insbesondere für die drei Symphonien, für die er mit den New Yorkern wirklich mitreißende und berührende Interpretation vorgelegt hat. Die früheren Einspielungen atmen einfach den Kontext der Entstehungszeit der Werke, sie machen die Musik so unmittelbar lebendig, haben so gar nichts museal-künstliches. Das ist einfach lebendige klassische Musik im Moment ihrer Entstehung präsentiert.
    Herzlichst,
    Medard

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Probleme, sogar große Probleme, habe ich mit vielen späteren Aufnahmen bei der Deutschen Grammophon. Beim Mahler-Zyklus der DG bin ich der genau entgegengesetzten Meinung von Peter, mir ist der neue, "frische" Zugang zur symphonischen Welt Mahlers in den 60ern wesentlich lieber als die späteren Mitschnitte, die m.E. von einer bedenklichen Über-Identifikation Bernsteins und einer daraus folgenden Hysterisierung der Interpretationen bei gleichzeitiger Extremisierung der Tempi geprägt sind. Das mag anfänglich aufregend sein, der Überdruck ist für mich auf Dauer aber ermüdend, zumal Bernstein dort einseitig gewisse Aspekte der Mahlerschen Musik verabsolutiert und so m.E. das Gesamtbild verzerrt (z.B. bei den beiden DG-Einspielungen der 9., wobei der Berliner Mitschnitt in dieser Hinsicht der schlimmere ist).


    Lieber Giselher,
    Geschmäcker sind eben verschieden :) Der erste Bernstein-Zyklus war für mich damals nicht der Orientierungspunkt, ich zog Haitink vor, sicher auch, weil ich ihn mehrfach im Konzert mit Mahler erlebt hatte, Bernstein aber nicht. Und dann hatte ich sowieso all meine Schätze aus den 40er und 50er Jahren und war für einen Zyklus von einem Dirigenten noch nicht so eingenommen, stellte mir also ohnedies meinen eigenen Mahlerzyklus zusammen. Als ich mich wieder für einen Zyklus interessierte, gab es eine große Auswahl auf dem Markt. Von dem zweiten Zyklus von Bernstein habe ich auch entsprechend nur wenig erstanden, vor allem war es wohl die Achte, ich muss mal nachsehen :)


    Zitat

    Für mich ist Leonard Bernstein jedenfalls ein Dirigent, über dessen diskographische Hinterlassenschaft man trefflich streiten kann.


    Das sehe ich auch so, obwohl ich doch meine, dass man eine Reihe von Einspielungen (einige wurde hier ja schon genannt) als maßstäblich ansehen kann. Mich hat vor allem damals das musikpädagogische Engagement Bernsteins erreicht, diese vorzüglichen Einführungen in die 3. und 5. Sinfonie Beethovens, und natürlich seine eigenen Kompositionen.


    LG Peter


  • Hallo GiselherHH,
    jetzt haben sich unsere Beiträge überschnitten - was insofern witzig ist, weil wir so ziemlich entgegensetze Einschätzungen des frühen und des späten Bernstein vertreten. So sieht man, daß Du recht hast und daß ich recht habe - Bernstein ist kein Konsensdirigent, nie gewesen und hat es nie sein wollen. Damit ist er tatsächlich - im besten Sinne des Wortes - UMSTRITTEN ;)


    Herzlichst,
    Medard

  • Hallo Peter,


    als Fernseh-Musikpädagoge - da gebe ich Dir völlig recht - war Bernstein (und ist es wohl noch) unübertroffen, weil er einerseits den Zuschauern und den anwesenden Kindern gegenüber völlig offen und unprätentiös war, sich aber andererseits nicht durch Absenken des Niveaus anbiederte. Man war eingeladen, auf eine große und abenteuerliche Reise in die Welt der Musik zu gehen, aber der Expeditionsleiter verlangte, dass man sich anstrengte, das Etappenziel auch zu erreichen. Eine unwiderstehliche Mischung aus Spaß und Disziplin.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von Klawirr
    So sieht man, daß Du recht hast und daß ich recht habe - Bernstein ist kein Konsensdirigent, nie gewesen und hat es nie sein wollen. Damit ist er tatsächlich - im besten Sinne des Wortes - UMSTRITTEN ;)


    Hallo Medard,


    darauf können wir uns problemlos einigen! ;)


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Schön, daß noch ein Versuch in Sachen Bernstein gestartet wird.


    Daß es um ihn heute ruhiger geworden ist, hängt meiner Meinung nach damit zusammen, daß man ihn selbst erleben mußte, um in seinen Bann zu geraten. Seine Persönlichkeit war ungeheuer stark, eine Ausstrahlung unfaßbar. Und er war, neben Boulez, sicher der intellektuellste Dirigent mit den weitestgespannten Interessen von Literatur bis zu Malerei und Philosophie.


    Das ermöglichte ihm, seine Interpretationen nicht eben nur aus den Noten abzuleiten - Bernstein dirigierte quasi die Kulturgeschichte eines Werkes mit - und dennoch war es kein gelehrtes Aufsagen der Töne, sondern ein auf emotionale Siedehitze gebrachtes sinnliches Musikerlebnis. Teilweise waren die Ergebnisse freilich eigentümlich, teilweise war es aber auch so überragend, daß die Aufnahmen, obwohl nicht so faszinierend wie das Live-Erlebnis, bis heute unübertroffen sind.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Beim Mahler-Zyklus der DG bin ich der genau entgegengesetzten Meinung von Peter, mir ist der neue, "frische" Zugang zur symphonischen Welt Mahlers in den 60ern wesentlich lieber als die späteren Mitschnitte, die m.E. von einer bedenklichen Über-Identifikation Bernsteins und einer daraus folgenden Hysterisierung der Interpretationen bei gleichzeitiger Extremisierung der Tempi geprägt sind. Das mag anfänglich aufregend sein, der Überdruck ist für mich auf Dauer aber ermüdend, zumal Bernstein dort einseitig gewisse Aspekte der Mahlerschen Musik verabsolutiert und so m.E. das Gesamtbild verzerrt (z.B. bei den beiden DG-Einspielungen der 9., wobei der Berliner Mitschnitt in dieser Hinsicht der schlimmere ist). Als noch schlimmer empfinde ich seinen Tschaikowskij, insbesondere die berüchtigte New Yorker Live-Einspielung der 6. Symphonie ("Pathétique") von, ich glaube, 1986, die, man möge mir diesen Ausdruck nachsehen, zu meinen absoluten Hassplatten zählt. Hier wird Tschaikowskijs schon sehr emotionale Musik nochmals extremisiert über die Grenzen des guten Geschmackes hinaus, Bernstein badet im Finalsatz geradezu wohlig im Gefühligkeitskonzentrat, berauscht sich am existentiellen Leiden und öffnet alle Tränen-Schleusen. Aber wem´s gefällt...



    Hallo Giselher,


    klar hat Bernstein bestimmte Aspekte der Musik Tschaikowskys und Mahlers überzeichnet und andere dafür vernachlässigt. Aber Tschaikowsky, Mahler und Bernstein treffen sich kongenial in einem Punkt: dass ihnen die "Grenzen des guten Geschmacks" - man möge mir den folgenden Ausdruck nachsehen - scheißegal waren bzw. um es mit Thomas Mann vornehmer auszudrücken: dass sie den guten Geschmack "sterbenssatt" hatten. Gerade in der entschiedenen Integration des Trivialen und Vulgären sind sich Mahler und Bernstein sehr nahe.




    Zitat

    Original von GiselherHH
    P.S.: Es ist auch eine von Bernstein selbst promotete Legende, dass er Mahler erst wieder nach Wien gebracht habe. Nach den 7 braunen Jahren gab es von 1945 bis zum ersten Auftreten Bernsteins fast keine Konzertsaison bei den Wiener Philharmonikern, wo Mahler nicht auf dem Programm stand, dirigiert u.a. von Böhm, Walter, Klemperer, Horenstein, Karajan, Abbado, Mehta etc.



    Die entscheidende Frage ist natürlich, welche Werke von Mahler da aufgeführt wurden. Es gibt entsprechende Literatur zur Rezeption Mahlers innerhalb und außerhalb Wiens, an die ich mich leider nur noch relativ vage erinnere. Ein Großteil der aufgeführten Werke müsste sich jedenfalls aus den Liederzyklen plus dem "Lied von der Erde" zusammengesetzt haben (womit die Herren Karajan und Böhm ihre Schuldigkeit schon getan haben dürften). Dann noch am ehesten die Sinfonien 1, 2, 4, 5 und 9. Die Sinfonien 6 und 8 dürften wohl nur jeweils einmal von Mitropoulos dirigiert worden sein (1957 und 1960), bei Nr. 7 habe ich keine Ahnung, wann die erste Aufführung war. Nr. 3 ist m.W. zum erstenmal von Bernstein mit den Philharmonikern aufgeführt worden. Bei Horenstein bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt mit den Philharmonikern Mahler aufgeführt hat (mit den Symphonikern mehrfach). Die Widerstände im Orchester (nicht nur in diesem natürlich) sollen bis in die 70er Jahre hinein beträchtlich gewesen sein (was nicht nur via Bernstein belegt ist).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Eine ganz besondere Ader hatte Lennie jedenfalls für die Romantik und für Weber. Zu meinen Favoriten gehört die CBS-LP, die 1976 herauskam und neben der "Aufforderung zum Tanz" (Berlioz-Fassung) von 1965 auch die Ouverturen zu "Freischütz" (1963), "Euryanthe (1968 ) und "Oberon" (1960) enthält.


    LG


    Waldi

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Nr. 3 ist m.W. zum erstenmal von Bernstein mit den Philharmonikern aufgeführt worden. Bernd


    Immerhin: 1951 erfolgte mit den Wiener Symphonikern die Schallplatten-Ersteinspielung durch Charles Adler, der im selben Jahr auch die 6. erstmals für Schallplatte aufnahm. Adler, der 1958 starb (soweit ich das im Kopfe habe) war Schüler von Gustav Mahler, die erwähnte Aufnahme dürfte in einer höchstmöglichen Nähe von Dirigent und Komponist enstanden sein.


    Lange Zeit bin ich auch der Fama aufgesessen, daß Bernstein der eigentliche Mahler-Erwecker gewesen sei. In den Booklets der auf drei Boxen verteilten Gesamteinspielung der Mahlersinfonien wird allerdings auf die Reihe der Vorreiter bei den Schallplatteneinspielungen hingewiesen, Scherchen, Mitropoulos und Walter werden da genannt.


    Und die Liste läst sich nach Kräften verlängern; Horenstein wurde bereits mehrfach genannt, der bereits 1928 anfing, Mahler aufzunehmen und der bei einem seiner ersten öffntlichen Auftriit bereits Mahlers erste dirgiert hatte.


    Was aber die Verdienste Bernsteins um Mahler nicht schmälert. Auch ich schätze Lenni, für eine leider vergriffene Platte mit Werken von Honegger und Debussy, die Schumann-Sinfonien, Mendelssohn und natürlich für seine erste GA der Mahler-Sinfonien.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Hallo Bernd,
    ich wollte nicht die Mahler-Erweckungslegende nicht wieder falsifizieren müssen, weil sie leider eine weniger schöne Seite an Bernstein zeigt, nämlich seinen Missionierungstrieb.
    Dennoch stimmt es: Als Bernstein nach Wien kam, war das Mahler-Feld durchaus gut beackert. Ich habe schon einmal die genaue Liste der Wiener Mahler-Aufführungen vor Bernstein bei Tamino gepostet, schaffe es aber nicht, sie zu finden. Bernstein leistete jedenfalls keine Pionierarbeit, wie er es gerne gehabt hätte. Neu war allerdings der Mahler-Stil Bernsteins - aber das war nichts Wien-Spezifisches.


    Bernstein liebte solche Legendenbildungen übrigens sehr, er behauptete auch, er habe in Wien als erster Sibelius heimisch gemacht. Auch das stimmt so nicht, denn heimisch ist Sibelius nach wie vor nicht in Wien, und ob er es geworden wäre, hätte Bernstein seinen Zyklus vollenden können, wage ich zu bezweifeln. Umgekehrt hat es Sibelius in Einzelaufführungen imer wieder gegeben. Auch hier hat also der Missionierungstrieb bei Lennie zu einem leicht verzerrten Bild geführt.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Bernd,
    ich wollte nicht die Mahler-Erweckungslegende nicht wieder falsifizieren müssen, weil sie leider eine weniger schöne Seite an Bernstein zeigt, nämlich seinen Missionierungstrieb.
    Dennoch stimmt es: Als Bernstein nach Wien kam, war das Mahler-Feld durchaus gut beackert. Ich habe schon einmal die genaue Liste der Wiener Mahler-Aufführungen vor Bernstein bei Tamino gepostet, schaffe es aber nicht, sie zu finden. Bernstein leistete jedenfalls keine Pionierarbeit, wie er es gerne gehabt hätte. Neu war allerdings der Mahler-Stil Bernsteins - aber das war nichts Wien-Spezifisches.



    Hallo Edwin,


    an Deine Liste erinnere ich mich auch noch - m.W. war die aber nicht nach einzelnen Werken spezifiziert? D.h. es wäre theoretisch möglich, dass 50 % dieser Aufführungen die Gesellen- und die Kindertotenlieder sowie das Lied von der Erde beinhalteten?


    Im übrigen gebe ich Dir völlig recht, dass man Bernsteins Rolle bei der Mahler-Renaissance innerhalb und außerhalb Wiens nicht überschätzen sollte. Mir ging es eher um drei andere Punkte:


    - Wenn vor ca. 1970 in Wien Mahler aufgeführt wurde, waren es (mit minimalen Ausnahmen) nicht die Wiener Hausgötter Karajan, Böhm et al., sondern entweder die ehemaligen Emigranten aus der Mahler-Schule (Walter, Klemperer, Horenstein, auch Mitropoulos wäre am ehesten in diese Gruppe einzusortieren) oder die junge Generation (z.B. Abbado) und dann eben Bernstein.


    - Es wurde ein verzerrtes Bild von Mahler dargeboten, d.h. die Lieder und das "Spätwerk" beherrschten das Terrain, bestimmte Werke wurden dagegen so gut wie nie aufgeführt: etwa die Sinfonien 3, 6 und 7. Wenn es nicht Mitropoulos und Horenstein (und den von Thomas erwähnten Charles Adler) gegeben hätte, die sich gerade für diese Werke eingesetzt haben...


    - Dass Mahler mit bewundenswertem Einsatz von einigen wenigen Dirigenten immer wieder aufs Programm gesetzt wurde, heißt nicht, dass er "durchgesetzt" gewesen wäre. Im Gegenteil hat es massive Vorbehalte bei Orchestern, Publikum und Presse gegeben (was auch reichhaltig durch Quellen dokumentiert ist - die müsste ich aber erst wieder raussuchen).


    All dies gilt natürlich nicht nur für Wien bzw. für die Wiener Philharmoniker. Und ich weiß, dies ist ein Bernstein- und kein Mahler-Thread... ;)


    Viele Grüße


    Bernd

  • Weder-noch !


    Am nachhaltigsten dürfte Lennie als Schöpfer der West Side Story in den Geschichtsbüchern Platz finden. Das war eine einmalige Leistung.
    Am Dirigentenpult hatte er viele ebenbürtige und auch überlegene Kollegen.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo Bernd,
    natürlich gab es ein verzerrtes Mahler-Bild, weil naturgemäß die Lieder und die Symphonien 1 und 4, wenn ich mich recht erinnere, dominierten. Allerdings schreibt noch der um 1955 herausgegebene Schumann-Konzertführer vom geringen Wert etwa der Neunten, und auch der Reclam-Konzertführer von etwa 1970 (!) kanzelt Mahler ab. Es ist also nichts Spezifisch-Wienerisches, sondern es gab ein Mahler-Bild, das einfach nicht stimmte.
    Die Emigranten kamen zwar als Mahler-Interpreten zurück, aber eben nicht nur. Und auch nicht mit dem kompletten Mahler, denn weder Walter noch Klemperer und meines Wissens nach auch nicht Mitropoulos hatten alle Mahler-Symphonien im Repertoire. (Horenstein, glaube ich, hatte alle - aber da bin ich mir nicht sicher.)


    Insofern war natürlich Bernstein enorm wichtig: Er vermittelte als erster Dirigent ein geschlossenes Mahler-Bild. Und wenn man es als solches auffaßt, dann kann man auch Bernsteins Vorreiterrolle akzeptieren.


    Nur hatte sich Bernstein damit ja nicht zufrieden gegeben. Er behauptete immerhin, er habe dem Orchester (Wiener Philharmoniker) erst erklären müssen, wie man Mahler spielt. Und das geht eindeutig zu weit. Denn die Philharmoniker hatten ihren Mahler immerhin mit Walter und etlichen anderen Dirigenten erarbeitet, die ihrerseits teilweise noch Mahler selbst kannten.


    Was Bernstein dem Orchester beibringen mußte, war eher, Mahler rückhaltlos emotional zu spielen - er mußte ihnen also das Bernsteinsche Mahler-Bild (das ich, um nur ja kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, heiß liebe) beibringen. Nur mit dieser zweifellos richtigen Behauptung hätte er sich nie zufrieden gegeben. Also setzte er die Legende in die Welt, daß die Wiener Philharmoniker noch nie Mahler gespielt hätten und er ihnen diese Musik erst beibringen mußte.


    Man muß leider auch bei diesem Menschen zum Schluß kommen: Ein großes Genie, ein unglaublicher Intellekt und eine Säule der Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber charakterlich gab's, wie bei allen Großen, leider auch bei ihm Schattenseiten.


    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    völlige Zustimmung meinerseits zu fast allen Deinen Ausführungen (wohlgemerkt: in diesem Thread :D).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich habe jetzt noch mal in die Liste der Mahler-Aufführungen des WPO 1945-1970 reingeschaut (bei Lebrechts "Mythos vom Maestro", S. 221 abgedruckt). Also allein bei den Wiener Philharmonikern gab es in dieser Zeit Mahler-Konzerte mit den Dirigenten Fanta (1x), Krips (4x), Moralt (3x), Klemperer (3x), Walter (9x), Furtwängler (3x), Kubelik (9x), Krauss (1x), Mitropoulos (6x), Böhm (7x), Karajan (3x), Solti (1x), Abbado (3x), Mehta (1x), Bernstein (6x).


    Die Werke:


    1. Symphonie: 6x
    2. Symphonie: 10x
    3. Symphonie: ./.
    4. Symphonie: 7x
    5. Symphonie: 1x
    6. Symphonie: 2x
    7. Symphonie: 2x
    8. Symphonie: 1x
    9. Symphonie: 6x


    LvdE: 10x
    LefG: 5x
    KdToLie: 11x


    Bernstein hat zuerst 1966 3 mal das "Lied von der Erde" und 1967 3 mal die 2. Symphonie aufgeführt, also 2 Werke, die in der Mahler-Nachkriegs-Playlist der Wiener ohnehin weit oben standen.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Die entscheidende Frage ist natürlich, welche Werke von Mahler da aufgeführt wurden. Es gibt entsprechende Literatur zur Rezeption Mahlers innerhalb und außerhalb Wiens, an die ich mich leider nur noch relativ vage erinnere. Ein Großteil der aufgeführten Werke müsste sich jedenfalls aus den Liederzyklen plus dem "Lied von der Erde" zusammengesetzt haben (womit die Herren Karajan und Böhm ihre Schuldigkeit schon getan haben dürften). Dann noch am ehesten die Sinfonien 1, 2, 4, 5 und 9. Die Sinfonien 6 und 8 dürften wohl nur jeweils einmal von Mitropoulos dirigiert worden sein (1957 und 1960),


    Hallo Bernd


    Zur 6.:


    Adler, Charles F. - Viennna SO, 1953 S.P.A./ LP-CD
    Mitropoulos, Dimitri - New York Philh, 1955 Replica/ LP-CD
    Flipse, Eduard - Rotterdam PO, 1955 Epic/ LP
    Van Beinum, Eduard - Amsterdam CO, 1955 Tahra/ CD
    Mitropoulos, Dimitri - Cologne RSO, 1959 Fonit Cetra/ LP-CD
    Scherchen, Hermann - Leipzig RO, 1960 Tahra/ CD
    Rosbaud, Hans - Southwest GRO, 1961 Rococo/ LP-CD
    Leinsdorf, Erich - Boston SO, 1965 RCA Victor/ LP-CD
    Barbirolli, John - Berlin PO, 1966 Hunt/ CD
    Horenstein, Jascha - Stockholm PO, 1966 Nonesuch/ LP-CD
    Neumann, Vaclav - Leipzig GH, 1966 Eterna/ LP-CD
    Barbirolli, John - New Philh O, 1967 Hunt/ CD
    Abbado, Claudio - Rome RAI Orch, 1967 Cetra/ CD


    ... und dann kam erst Lennie ...


    Zur 8.:



    Stokowski, Leopold - New York Philh, 1950 Penzance/ LP-CD
    Scherchen, Hermann - Vienna SO, 1951 Columbia/ LP-CD
    Flipse, Eduard - Rotterdam PO, 1954 Philips/ LP-CD
    Horenstein, Jascha - London SO, 1959 Discocorp/ LP-CD
    Mitropoulos, Dimitri - Vienna PO, 1960 Everest/ LP-CD
    Abravanel, Maurice - Utah SO, 1963 Vanguard/ LP-CD



    Zitat

    bei Nr. 7 habe ich keine Ahnung, wann die erste Aufführung war.


    wenn du die Uraufführung meinst: 1908 in Prag unter Mahler. Einspielungen vor Bernstein:


    Scherchen, Hermann - Vienna SO, 1950 Orfeo/ CD
    Rosbaud, Hans - Berlin RSO, 1952 Urania/ LP-CD
    Scherchen, Hermann - Vienna SOO, 1953 Westminster/ LP-CD
    Rosbaud, Hans - Southwest GRSO, 1957 Wergo/ CD
    Barbirolli, John - BBC NoSO, Halle O, 1960 BBC Music/ CD
    Abravanel, Maurice - Utah SO, 1964 Vanguard/ LP-CD
    Scherchen, Hermann - Toronto SO, 1965 Music & Arts/ CD


    Zitat

    Nr. 3 ist m.W. zum erstenmal von Bernstein mit den Philharmonikern aufgeführt worden. Bei Horenstein bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt mit den Philharmonikern Mahler aufgeführt hat (mit den Symphonikern mehrfach). Die Widerstände im Orchester (nicht nur in diesem natürlich) sollen bis in die 70er Jahre hinein beträchtlich gewesen sein (was nicht nur via Bernstein belegt ist).


    ... oder ging es dir nur um die Philharmoniker?


    LG Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    ... oder ging es dir nur um die Philharmoniker?



    Lieber Peter,


    ich fürchte ja ;).


    Trotzdem herzlichen Dank für Deine aufschlussreichen Zusammenstellungen!


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    ... denn weder Walter noch Klemperer und meines Wissens nach auch nicht Mitropoulos hatten alle Mahler-Symphonien im Repertoire. (Horenstein, glaube ich, hatte alle - aber da bin ich mir nicht sicher.)



    :hello:


    Leider nicht, lieber Edwin,


    ich gehe jetzt einmal von den erhaltenen Rundfunkaufzeichnungen aus, die zusammen mit seiner Diskographie auf einer ihm gewidmeten Internetseite nachzulesen sind. Demzufolge fehlt leider die Nr.2. Explizit für die Schallplatte hatte Horenstein die Nr. 1 (2x), die Nr.3, Nr. 4, Nr. 6 und Nr. 9 eingespielt. Die übrigen erhaltenen Aufnahmen sind Veröffentlichungen aus dem BBC-Archiv. Immerhin, die Initialzündende Aufführung der 8 aus 1959 (?) ist auch dabei.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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