Orchester ohne Dirigenten

  • Hallo liebes Forum
    unlängst ist mir beim Stöbern folgende CD in die Hände gefallen:
    Orpheus Chamber Orchestra
    Haydn Symphonies nr.44 + nr.77
    DG
    das Besondere daran ist: das Orchester spielt ohne Dirigenten
    was bei mir sofort die Fragen aufwirft:
    kennt jemand von euch ähnliche Projekte ?
    was haltet ihr allgemein von einem Orchester ohne Dirigenten ?
    lg
    d.

    Es gibt kaum etwas Schöneres, als dem Schweigen eines Dummkopfes zuzuhören

  • Musik, die vor der "Erfindung" des Dirigenten im heutigen Sinne komponiert wurde (also bis ca. Anfang des 19. Jahrhunderts), kann natürlich auch ohne Dirigent aufgeführt werden. Irgendwer muss aber grundlegende Entscheidungen zur Aufführung treffen: welche Tempi, welche Artikulation, werden Wiederholungen gespielt etc. etc. Beim Orpheus Chamber Orchestra gibt es ja einen relativ komplizierten, aber demokratisch zu nennenden Prozess der Entscheidungsfindung. Bei anderen Ensembles - mir fällt hier das Freiburger Barockorchester ein - bestimmt der Konzertmeister weitgehend, wohin die Fahrt gehen soll (in Freiburg wechseln sich dabei Gottfried von der Goltz und Petra Müllejans ab). Das dürfte wohl einigermaßen der historischen Praxis entsprechen. Ein Viertel der Konzerte dieses Ensembles wird aber auch ganz "normal" von "richtigen" Dirigenten geleitet.


    Analog zur historischen Entwicklung gilt: Sobald das Orchester immer größer und klanglich komplexer wird, ist ein Dirigent unverzichtbar. Eine Beethoven-Symphonie lässt sich natürlich auch ohne Dirigenten erarbeiten - ob das z.B. bei Mahlers Neunter auch funktionieren würde, möchte ich bezweifeln. Sobald Vokalsolisten und Chor hinzutreten, scheint mir zwecks Abstimmung der Apparate ein Dirigent ohnehin wünschenswert zu sein.


    Die genannte Haydn-CD des Orpheus Chamber Orchestra habe ich übrigens mal gehört: eine blitzsaubere, gut klingende Version ohne irgendwelche besonderen, individuellen Merkmale, die mir im Gedächtnis geblieben wären.


    Viele Grüße


    Bernd

  • in der HIP-Szene kursiert ein Spruch, der es scherzhaft auf den Punkt bringt:
    "Ein Dirigent ist wie ein Kondom. Sicherer ist's mit, aber ohne macht's mehr Spaß."


    Den Ausführungen von Bernd ist nichts hinzuzufügen, außer...


    Zitat

    Original von Zwielicht
    ob das z.B. bei Mahlers Neunter auch funktionieren würde, möchte ich bezweifeln.


    Ausgerechnet zu Mahlers Neunter hat ein von mir hoch geschätzter Musiker mal erwähnt, eine der besten Aufführungen hätte ohne Dirigenten stattgefunden, und zwar mit dem alten Karajan, der nahezu regungslos vor dem Orchester gestanden hätte.
    Das war natürlich überspitzt gemeint. Aber das Beispiel zeigt, welchen immensen Einfluß die Verständigung der Orchestermusiker untereinander haben kann. Zweifellos ist es auch die Leistung eines Dirigenten, wenn er sich durch vorhergehende Probenarbeit oder auch eine quasi transzendente Präsenz scheinbar überflüssig macht.


    Die Kunst des Nicht-dirigierens wurde immer wieder von erstklassigen Dirigenten kultiviert (u.a. Bernstein, Carlos Kleiber). Als wollten sie auf diese Weise den Musikern ihren Spaß zurückgeben...


    Gruß, Khampan

  • Salut d.,


    das Concerto Köln spielt idR auch ohne Dirigenten; eine Ausnahme bilden hier die Opern, was nachvollziehbar ist. Für mich wirken solche Ensembles lebhafter, quirliger - meinthalben ein wenig "unkontrolliert", was sie ja letztlich dann von der Pultperspektive aus betrachtet auch sind. Auch bei Concerto Köln gilt das von Doppellaterne Geschriebene.


    Jedenfalls sind mir Orchester ohne Dirigenten lieber, als der Umkehrfall.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Khampan
    Ausgerechnet zu Mahlers Neunter hat ein von mir hoch geschätzter Musiker mal erwähnt, eine der besten Aufführungen hätte ohne Dirigenten stattgefunden, und zwar mit dem alten Karajan, der nahezu regungslos vor dem Orchester gestanden hätte.
    Das war natürlich überspitzt gemeint. Aber das Beispiel zeigt, welchen immensen Einfluß die Verständigung der Orchestermusiker untereinander haben kann. Zweifellos ist es auch die Leistung eines Dirigenten, wenn er sich durch vorhergehende Probenarbeit oder auch eine quasi transzendente Präsenz scheinbar überflüssig macht.


    Von Karajan stammt -meine ich- die sinngemäße Aussage, daß man bei einem guten Orchester nur den Einsatz geben müsse und den rest dann mit dem kleinen Finger dirigieren könne.


    Wenn man zum Beispiel Aufnahmen mit dem greisen Klemperer sieht, dann fühlt man sich mit Karajan bestätigt, denn eine klare Schlagtechnik war bei Klemperer nicht mehr vorhanden, eher mehr oder minder passende Armbewegungen.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • In der sehr hagiographisch gemeinten aber unfreiwillig sehr erhellenden Dokumentation von Peter Gelb "Karajan in Salzburg" sieht man ihn Wagner mit den Wiener Philharmonikern proben und dirigieren (Tristan Vorspiel & Liebestod mit Jessye Norman, Tannhäuserouvertüre...) - sehr intensiv und auch mit minimalem gestischen Aufwand mangels körperlicher Möglichkeit. Aber die Ausstrahlung ist dermaßen intensiv dass einem noch vor der Glotze der Schweiß ausbricht.


    In diesem Film zitiert Karajan dann zustimmend seinen Fluglehrer, der im gesagt habe, das Wichtigste sei, das Flugzeug "nicht zu stören" - und das sei beim Dirigieren nicht anders.



    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Der Komponist und Dirigent (!) Leif Segerstam hat eine Reihe von Symphonien für Orchester OHNE Dirigent geschrieben. Es halten sich also nicht alle Dirigenten für jederzeit vollkommen unentbehrlich.

    Dem Amateur ist nichts zu schwör.

  • Noch ein Nachsatz zum unbewegten Karajan:


    In seinen besten Jahren meinte Karajan, ein im Sitzen dirigierender Dirigent sei eigentlich eine üble Sache, man habe nicht die volle Kontrolle über das Orchester. Als Karajan nun selbst in die Lage kam sitzend diriegieren zu müssen, wurde er von dezenten Interviewern an seinen Satz erinnert. Karajan soll darauf (in etwa) geantwortet haben: "Selbst wenn ich am ganzen Körper gelähmt währ und zudem noch liegend dirigieren müsste, alein meine Augen zur Verfügung habend - "das Orchester würde in jedem Fall so spielen wie ich will"


    Zum eigentlichen Thema


    Es gab schon seit langem Formationen die ohne Dirigenten spielten, so etwa eines der ersten Orchester, die "auf Originalinstrumenten" spielten - das Collegium aureum - heute fast vergessen.


    Das von mir nicht besonders geliebte Concerto Köln spielt ebenfalls ohne Dirigenten, und des öfteren auch das Freiburger Kammerorchester....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Da fällt mir ein: es gibt auch Dirigenten, die hörbar stören - hier in London war ich in einem Konzert des Chamber Orchestra of Europe unter Roberto Abbado.


    Es war weder zu übersehen noch zu überhören: an jeder Schaltstelle war das Orchester seeeeeeeeeeehr vorsichtig (trotzdem immer perfekt zusammen - COE halt), um dann wieder aufzublühen.


    Jeder Übergang eine Zitterpartie - die hätten das Programm ohne Dirigenten besser hinbekommen...


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hallo,


    in der Sowjetunion gab es auch mal ein derartiges Experiment: das "Persimfans" (d.h. Erstes Sinfonisches Ensemble), ein Orchester, das von Anfang an ohne Dirigent alle möglichen Werke einstudierte und aufführte. Allerdings existierte es nur 10 Jahre lang (von 1922 bis 1932), bis es (wohl auch auf Grund von Meinungsverschiedenheiten) aufgelöst wurde. Die Reaktionen auf die Arbeit des Orchesters waren unterschiedlich: neben Anerkennung gab es auch solche unangenehmen Vorkommnisse wie in Falle von Mjaskowskis Zehnter Sinfonie, welche das Persimfans uraufführte.


    Diese Sinfonie ist ein recht kurzes, einsätziges, aber komplexes Werk. Mjaskowski ließ sich hier von Puschkins Ehernem Reiter inspirieren und schrieb ein emotional sehr angespanntes, düsteres, stellenweise geradezu aggressives Stück (das ich sehr schätze). Bei der Uraufführung kam es beim Fugenabschnitt in der Mitte der Sinfonie zu Koordinationsproblemen, bei einer späteren Aufführung geriet offenbar die Coda durcheinander (wie in Soja Gulinskajas Mjaskowski-Biographie nachzulesen ist). Mehr Informationen zum Persimfans gibt es übrigens auch in der Wikipedia.


    Viele Grüße
    Holger

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  • Komisch... im Frankreich des 17. Jh. war es üblich, dass das Orchester von einem Dirigenten geleitet wurde.


    Und soweit ich weiß, auch an jedem größeren Hof in Europa.


    Zwar erschöpfte sich das meist mit dem laustarken Schlagen des Taktes, aber die Kontrolle hatte er dennoch.
    Außerdem war auch er für die musikalische Gestaltung zuständig, all das was auch ein moderner Dirigent macht.
    Mit der Außnahme, das der Taktstock ca. 2m lang war und dann im Laufe der Jahrzehnte - nach einem bestimmten Unfall ( :D ) immer kürzer wurde.


    Im Frankreich des 18. Jahrhunderts gab es ebenfalls richtige Dirigenten, ihre Stäbe waren immer noch sehr groß (etwa die Länge eines Regenschirms).


    In Italien wurde das Orchester meist vom Cembalo aus mit einigen Gesten geleitet, bzw. das machte der Konzertmeister mit dem Bogen seiner Violine.


    Außerdem gibt es reichlich Darstellungen von "Dirigenten" nur hielten sie meist ein zusamen gerolltes Notenblatt in ihrer Hand.
    Von Lully gibt es z.B. eine Darstellung wie er dirigiert - aber eben nicht mit dem großen Takstock, sondern mit dem berühmten gerollten Notenblatt und das sogar auf einem Gobbelin, der im Auftrag Louis XIV in den Manufakturen hergestellt wurde.


    (das gerollte Notenblatt, ist auf Gemälden immer ein Hinweis darauf, das die dargestellte Person, eine Orchesterleitung hatte).


    Oder hier die Aufführung der "Princesse de Navarre" (Rameau) in Versailles:



    Dieses Ballett wurde zur Hochzeit des Dauphins aufgeführt - das Libretto stammte von Voltaire.


    und damit man den Dirigenten auch wirklich sehen kann - hier eine Vergrößerung- mit samt der passende CD :D :



    Das es also vor dem 19. Jahrhundert keine richtigen Dirigenten gegeben hätte ist so also nicht richtig, die zeitgenössischen Berichte und Darstellungen widerlegen das.
    (ich meine, dass der Ansatz einiger HIP Ensembles deshalb auch eher fragwürdig ist:
    Es war die Zeit des Absolutismus - da ist kein Platz für basisdemokratische Experimente...)



    Die Überbleibsel dieser großen Takstöcke sieht man immer noch in jeder zweiten Militärkapelle.



    :hello:

  • Da war 17 Jahre Ruhe im Karton.


    Ulli erwähnt in Beitrag 4 das Concerto Köln.

    In der Beschäftigung mit diesem Ensemble stiess ich auf dieses Zitat aus einem Artikel "Der Zeit".


    „Es gibt Einstudierer und Vordenker, gewiss, aber auf dem Podium spielt jeder aus eigener Kraft fürs große Ganze, ohne dass ihn einer vom Kapellmeisterpult autoritär befuchtelt. Das erklärt die frappierende Demokratie des Klangs.“


    So präsentiert sich das Concerto Köln gegenwärtig auf ihrer Homepage, das es seit 1985 gibt. Ein offizieller Dirigent ist nicht angegeben.


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    Bestimmt hat die Besetzung der Musiker und Musikerinnen des Concerto Köln in den 47 Jahren geändert. Am Gedanken ohne Dirigenten aufzutreten hat man festgehalten.


    Oder doch nicht? Ganz ohne geht es nicht, denn das Concerto Köln tritt auch mit Dirigent auf. Auf der Wikipedia Seite steht: Die Riege an Gastdirigenten reicht von Ivor Bolton hin zu Daniel Harding und Peter Dijkstra. Kent Nagano ist der Ehrendirigent. Das Concerto Köln hat mit ihm die beethovensche Missa Solemnis und aktuell Wagners Ring aufgeführt. Liest man die Chronik des Orchesters ist oft vermerkt, dass die Musiker in Projekten mitwirken, die eine Leitung haben. Oft sind es Chöre mit denen das Concerto Köln zusammen musiziert. Die Komplexität gewisser Werke wird der Grund sein.

    In den Liner Notes der CD Einspielungen ist bei barocken Werken ohne Chorbeteiligung kein Dirigent aufgeführt.


    * * * * *


    Übrigens: Die Chronik auf der Homepage des Concerto Köln endet 2013. Vielleicht wird das noch nachgeführt, wenn jemand des Orchesters das hier lesen sollte. ;)

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Beitrag 7 im Thread hat mich neugierig gemacht.


    in der Recherche stösst man auf Erstaunliches. Der Finne Leif Segerstam hat Werke komponiert, die ohne Dirigent auskommen sollen. Aus der Produktinformation des Werbepartners habe ich das entnommen:


    Mehr als 250 Sinfonien hat Segerstam bereits komponiert. Dafür hat er ein einzigartiges Notationsverfahren entwickelt, mit dem die Partitur dem Ausführenden ein großes Maß an Freiheiten zulässt, und dennoch kein Dirigent erforderlich ist, um das Orchester zu leiten. So entwickelt sich jede einzelne Aufführung seiner Werke zu einem einmaligen Hörerlebnis.


    In dieser Aufnahme der Symphonien Nr. 81, 162, 181 spielen die Musikerinnen und Musiker des Bergen PO jeweils ohne Dirigent.



    Bis 2018 ist Leif Segerstam bei der Sinfonie Nr. 295 "ulFSöDErBlom in Memoriam..." angekommen. Er vertraut aber auch dem Dirigieren, wenn er Johannes Brahms' 4. Sinfonie aufnimmt.


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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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  • Ich finde, dass die Klavierkonzerte, bei denen der Pianist auch dirigiert, praktisch immer Aufführungen ohne Dirigenten sind.

    In der venezianischen Oper gab es (Cavalli) nur ein Grundgerüst von Stimmen und einzelnen Instrumenten, der Konzertmeister "dirigierte". Wie das bei Händel und Bach war, würde mich interessieren.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)