BWV 166: Wo gehest du hin
Kantate zum Sonntag Cantate (Leipzig, 7. Mai 1724)
Lesungen:
Epistel: Jak. 1,17-21 (Alle gute Gabe kommt von dem Vater des Lichts)
Evangelium: Joh. 16,5-15 (Abschiedsreden Jesu: So ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choräle: Nr. 3 Bartholomäus Ringwaldt (1582); Nr. 6 Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1686)
Besetzung:
Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Arioso Bass, Oboe, Streicher, Continuo
Wo gehest du hin?
2. Aria Tenor, Oboe, Solo-Violine, Continuo
Ich will an den Himmel denken
Und der Welt mein Herz nicht schenken.
Denn ich gehe oder stehe,
So liegt mir die Frag’ im Sinn:
Mensch, ach Mensch, wo gehst du hin?
3. Choral S, Streicher, Continuo
Ich bitte dich, Herr Jesu Christ,
Halt mich bei den Gedanken
Und lass mich ja zu keiner Frist
Von dieser Meinung wanken,
Sondern dabei verharren fest,
Bis dass die Seel’ aus ihrem Nest
Wird in den Himmel kommen.
4. Recitativo Bass, Continuo
Gleich wie die Regenwasser bald verfließen
Und manche Farben leicht verschießen,
So geht es auch der Freude in der Welt,
Auf welche mancher Mensch so viele Stücken hält;
Denn ob man gleich zuweilen sieht,
Dass sein gewünschtes Glücke blüht,
So kann doch wohl in besten Tagen
Ganz unvermut’ die letzte Stunde schlagen.
5. Aria Alt, Oboe, Streicher, Continuo
Man nehme sich in acht,
Wenn das Gelücke lacht.
Denn es kann leicht auf Erden
Vor abends anders werden,
Als man am Morgen nicht gedacht.
6. Choral SATB, Oboe, Streicher, Continuo
Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod;
Ach wie geschwinde und behende
Kann kommen meine Todesnot.
Mein Gott, ich bitt’ durch Christi Blut:
Mach’s nur mit meinem Ende gut!
Wenn es einen Sontag im Kirchenjahr gibt, zu dem die Aufführung einer Kantate passt, dann ist es der heutige, der sogar "Cantate" heißt!
Der Name geht zurück auf den in der Liturgie für den heutigen Sonntag vorgesehenen Mess-Beginn, der aus Psalm 98 Vers 1 stammt: "Singet dem Herrn ein neues Lied!" und der (natürlich) auf Lateinisch vorgetragen wurde.
Jedenfalls ein wunderbares Motto, das heutzutage in evangelischen Gemeinden vielfach als Aufforderung genommen wird, den heutigen Sonntags-Gottesdienst musikalisch besonders aufwendig zu gestalten.
Zu Bachs Zeiten war ein solches "Motto" nicht nötig, denn abgesehen von Fasten- und Adventszeit erklang schließlich das ganze Jahr über zu allen Sonn- und Feiertagen reichhaltig Musik in den Gottesdiensten!
Das Evangelium für den heutigen Sonntag befasst sich erneut mit einem Aspekt der sogenannten "Abschiedsreden Jesu", die im Johannes-Evangelium Kapitel 16 festgehalten sind. Schon in den Kantaten der vergangenen Woche ging es um eine andere Passage dieses 16. Johannes-Kapitels.
Mit dem Jesuswort "Wo gehest du hin?" aus dem 5. Vers dieses 16. Kapitels beginnt denn auch die hier besprochene Kantate aus dem Jahr 1724. Der Solo-Bass als traditionelle "Vox Christi" bekommt dieses Bibelwort zugewiesen. Bach macht hieraus eine Mischform aus Arie und Arioso und erreicht eine eindringliche Vertonung dieser bangen Frage.
Des Weiteren dreht sich der Kantaten-Inhalt um die Vergänglichkeit des trügerischen "Glückes", das man auf Erden erringen kann - getreu dem Motto: "Glück und Glas, wie leicht bricht das!"
Der musikalische Höhepunkt dieser Kantate ist für mich eindeutig die Arie Nr. 2, in der Solo-Oboe und -Violine zusammen mit dem Tenorsolisten ein ganz wunderbares Zusammenspiel vollbringen!
Diese g-moll-Arie ist im Instrumentalsatz bedauerlicherweise nur unvollständig überliefert worden - sie musste im Rahmen der Erstellung der Neuen Bach-Ausgabe von Alfred Dürr rekonstruiert werden, was sehr überzeugend unter Zuhilfenahme des g-moll-Trios BWV 584 (für Orgel) geschah, das wiederum eine (leider nicht von Bach persönlich angefertigte) Transkripition ebendieser Arie ist.
Trotzdem: Gut, dass es diesen Satz BWV 584 gibt, denn sonst wäre diese fantastische Arie leider nur unvollständig erhalten und das wäre sehr schade um dieses gerade instrumental so besondere Schmuckstück!
Der Choral Nr. 3 dürfte wohl vom Chor-Sopran dargeboten werden. Eventuell hat aber auch der ein oder andere Interpret hierbei auf eine Solostimme zurückgegriffen?
Die Arie Nr. 5 ist so richtig "echte" Barock-Musik, die ja sehr von den dargestellten Affekten lebt: Das im Text erwähnte "lachende Gelücke" nimmt Bach zum Anlass, auch musikalisch das Lachen unwiderstehlich und tänzerisch-heiter darzustellen, obwohl es ja in der Arie eigentlich eher um eine Warnung vor zuviel vordergründiger Heiterkeit gehen sollte :wacky: