BWV 86: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch
Kantate zum Sonntag Rogate (Leipzig, 14. Mai 1724)
Lesungen:
Epistel: Jak. 1,22-27 (Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein)
Evangelium: Joh. 16,23-30 (Abschiedsreden Jesu: So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 18 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choräle: Nr. 3 Georg Grünwald (1530); Nr. 6 Paul Speratus (1523/24)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Arioso Bass, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben.
2. Aria Alt, Solo-Violine, Continuo
Ich will doch wohl Rosen brechen,
Wenn mich gleich die Dornen stechen.
Denn ich bin der Zuversicht,
Dass mein Bitten und mein Flehen
Gott gewiss zu Herzen gehen,
Weil es mir sein Wort verspricht.
3. Choral Sopran, Oboe d’amore I + II, Continuo
Und was der ewig gütig’ Gott
In seinem Wort versprochen hat,
Geschwor’n bei seinem Namen,
Das hält und gibt er g’wiss fürwahr.
Der helf’ uns zu der Engel Schar
Durch Jesum Christum, amen!
4. Recitativo Tenor, Continuo
Gott macht es nicht gleichwie die Welt,
Die viel verspricht und wenig hält;
Denn was er zusagt, muss geschehen,
Dass man daran kann seine Lust und Freude sehen.
5. Aria Tenor, Streicher, Continuo
Gott hilft gewiss;
Wird gleich die Hülfe aufgeschoben,
Wird sie doch drum nicht aufgehoben.
Denn Gottes Wort bezeiget dies:
Gott hilft gewiss!
6. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Die Hoffnung wart’ der rechten Zeit,
Was Gottes Wort zusaget;
Wenn das geschehen soll zur Freud’,
Setzt Gott kein g’wisse Tage.
Er weiß wohl, wenn’s am besten ist,
Und braucht an uns kein’ arge List;
Des soll’n wir ihm vertrauen.
Der heutige Sonntag Rogate trägt seinen Namen aufgrund der schlichten Aufforderung „Betet!“ – diese dürfte wohl in jeder Messe und in jedem Gottesdienst mehrfach ausgesprochen werden.
Es besteht zwischen dem heutigen und den beiden vorangegangenen Sonntagen Cantate und Jubilate hinsichtlich des Sonntagsevangeliums eine interessante Verbindung – denn auch heute geht es wieder um eine Passage aus den „Abschiedsreden Jesu“, wie sie im Johannes-Evangelium im 16. Kapitel geschrieben stehen. In diesem Fall ist es die Zusage Jesu, dass die Bitten der Jünger an Gottvater im Namen des Sohnes erhört werden.
Und um die Freude der Christengemeinde (als Nachfolger der Jünger Jesu) über diese Gewissheit dreht sich nun die Kantatendichtung zu BWV 86.
Aufgrund der erwähnten thematischen Verbindung zwischen den erwähnten Sonntagen überrascht es denn auch nicht, dass der Aufbau der hier besprochenen Kantate stark an den der beiden Kantaten erinnert, die Bach für den vorangegangenen Sonntag Cantate komponiert hat (BWV 166 und BWV 108).
Ganz besonders fällt hierbei die Ähnlichkeit mit der Kantate BWV 166 auf, die 1724 genau eine Woche vor dieser Kantate erklungen war. Auch wenn in beiden Fällen die Textdichter unbekannt sind, dürfte es wohl nicht allzu gewagt sein, hinter beiden Kantatendichtungen denselben Autor (oder dieselbe Autorin?) zu vermuten:
Beide Kantaten (jeweils 6 Sätze) beginnen mit einem Zitat aus dem jeweiligen Sonntagsevangelium – hier ist es Joh. Kapitel 16 Vers 23 – das vom Solo-Bass als traditioneller „Vox Christi“ in einem wohl am ehesten als Arioso zu bezeichnenden Satz vorgetragen wird (jeweils durch anspruchsvoll geführte Instrumentenstimmen begleitet).
In beiden Kantaten folgen unmittelbar darauf eine Solo-Arie und eine nur von der Sopranstimme (Chor-Sopran oder Solostimme scheint nicht zwingend vorgeschrieben zu sein) vorgetragene Choralbearbeitung, die in bewährter Bach-Manier von den begleitenden Instrumenten „veredelt“ werden.
Daraufhin folgen in beiden Fällen – quasi als 2. Teil der jeweiligen Kantate - ein Rezitativ-Arien-Paar und der Schlusschoral.
Ein wirklich bemerkenswertes Kantatenpaar für 2 aufeinander folgende und thematisch aufeinander bezogene Sonntage, das Bach 1724 da verfasst hat!