BWV 11: Lobet Gott in seinen Reichen
Himmelfahrts-Oratorium (vermutlich Leipzig, 19. Mai 1735)
Lesungen:
Epistel: Apg. 1,1-11 (Prolog, letzte Verheißung, Himmelfahrt Jesu)
Evangelium: Mark. 16,14-20 (Missions- und Taufbefehl, Himmelfahrt)
Elf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 32 Minuten
Textdichter: unbekannt, evtl. Picander (?)
Choräle: Nr. 6 Johann Rist (1641); Nr. 9 Gottfried Wilhelm Sacer (1697)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte I + II, Oboe I + II, Trompete I-III, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Chorus SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
Lobet Gott in seinen Reichen,
Preiset ihn in seinen Ehren,
Rühmet ihn in seiner Pracht!
Sucht sein Lob recht zu vergleichen,
Wenn ihr mit gesamten Chören
Ihm ein Lied zu Ehren macht!
2. Evangelista Tenor, Continuo
Der Herr Jesus hub seine Hände auf und segnete seine Jünger,
und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen.
3. Recitativo Bass, Traversflöte I + II, Continuo
Ach, Jesu, ist dein Abschied schon so nah?
Ach, ist denn schon die Stunde da,
Da wir dich von uns lassen sollen?
Ach, siehe, wie die heißen Tränen
Von unser’n blassen Wangen rollen,
Wie wir uns nach dir sehnen,
Wie uns fast aller Trost gebricht.
Ach, weiche doch noch nicht!
4. Aria Alt, Violino I/II, Continuo
Ach bleibe doch, mein liebstes Leben,
Ach fliehe nicht so bald von mir!
Dein Abschied und dein frühes Scheiden
Bringt mir das allergrößte Leiden,
Ach ja, so bleibe doch noch hier;
Sonst werd’ ich ganz von Schmerz umgeben.
5. Evangelista Tenor, Continuo
Und ward aufgehaben zusehends und fuhr auf gen Himmel,
eine Wolke nahm ihn weg vor ihren Augen,
und er sitzet zur rechten Hand Gottes.
6. Choral SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Streicher, Continuo
Nun lieget alles unter dir,
Dich selbst nur ausgenommen;
Die Engel müssen für und für
Dir aufzuwarten kommen.
Die Fürsten steh’n auch auf der Bahn
Und sind dir willig untertan;
Luft, Wasser, Feuer, Erden
Muss dir zu Dienste werden.
7 a. Evangelista Tenor, Bass, Continuo
Tenor
Und da sie ihm nachsahen gen Himmel fahren,
siehe, da stunden bei ihnen zwei Männer in weißen Kleidern,
welche auch sagten:
Beide
Ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet gen Himmel?
Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel,
wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.
7 b. Recitativo Alt Traversflöte I + II, Continuo
Ach ja! so komme bald zurück:
Tilg’ einst mein trauriges Gebärden,
Sonst wird mir jeder Augenblick
Verhasst und Jahren ähnlich werden.
7 c. Evangelista Tenor, Continuo
Sie aber beteten ihn an, wandten sich um gen Jerusalem von dem Berge,
der da heißet der Ölberg, welcher ist nahe bei Jerusalem und liegt einen Sabbater-Weg davon,
und sie kehreten wieder gen Jerusalem mit großer Freude.
8. Aria Sopran, Traversflöte I + II, Oboe I, Streicher
Jesu, deine Gnadenblicke
Kann ich doch beständig seh’n.
Deine Liebe bleibt zurücke,
Dass ich mich hier in der Zeit
An der künft’gen Herrlichkeit
Schon voraus im Geist erquicke,
Wenn wir dereinst dort vor dir steh’n.
9. Choral SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
Wenn soll es doch geschehen,
Wenn kömmt die liebe Zeit,
Dass ich ihn werde sehen
In seiner Herrlichkeit?
Du Tag, wenn wirst du sein,
Dass wir den Heiland grüßen,
Dass wir den Heiland küssen?
Komm, stelle dich doch ein!
Bachs Himmelfahrts-Oratorium (diese Bezeichnung stammt von ihm selber) ist für ein Oratorium äußerst knapp konzipiert – mit einer gut halbstündigen Aufführungsdauer ist es nicht länger als manche „normale“ Sonntagskantate.
Immerhin ist die Tatsache, dass es einen „Evangelisten“ gibt, der –unterbrochen und umrahmt von Accompagnato-Rezitativen, Arien und Chören – eine fortlaufende biblische Handlung vorträgt, ein typisches Kennzeichen für ein Oratorium. Ein solches Element fehlt der „gewöhnlichen“ Kantate nämlich in der Regel.
Vom Aufbau her ist daher durchaus ein Vergleich mit Bachs Weihnachts-Oratorium (BWV 248) angebracht, das ja aus sechs einzelnen Teilen besteht, die jeweils vom Umfang her mit dem Himmelfahrts-Oratorium korrespondieren.
Immerhin stammt auch dieses, nach dem Weihnachts- und Oster-Oratorium (BWV 249) dritte und letzte Oratorium Bachs, aus dem Jahr 1735, in dem Bach nicht nur das erwähnte Weihnachts-Oratorium erstmals aufführte, sondern auch die bereits etwas ältere „Osterkantate“ zu einem „Oratorium“ umgestaltete.
Bach hatte zu der Zeit offenbar vor, ein passendes Oratorium für alle großen Kirchenfeste „in petto“ zu haben – wenn man jedoch das von der Textgestalt her so völlig andere Oster-Oratorium mit den einander viel ähnlicheren Oratorien zu Weihnachten und Himmelfahrt vergleicht und dann noch berücksichtigt, dass er - warum auch immer - kein „Pfingst-Oratorium“ komponiert hat, muss man sein ehrgeiziges Vorhaben wohl oder übel leider als „unvollendet“ bezeichnen...
Die Tatsache, dass das Himmelfahrts-Oratorium vom Umfang her mit einer „normalen“ Kantate verwechselt werden könnte, hat denn auch prompt dazu geführt, dass es im Rahmen der ersten Gesamtausgabe der Bach-Gesellschaft für eine solche gehalten wurde und daher die BWV-Nummer 11 erhalten hat und damit innerhalb des Bachwerkeverzeichnisses mitten in der Werkgruppe der „gewöhnlichen“ Kantaten steht, statt z. B. die BWV-Nummer 250 zu erhalten (das wäre die nächste nach dem Oster-Oratorium).
Die umfangreiche und festliche Instrumentalbesetzung ist übrigens mit der Besetzung der Teile I und III des Weihnachts-Oratoriums identisch (allerdings wechseln sich dort die beiden Oboen mehrfach mit einem Oboe d’amore-Paar ab) – eine weitere Verbindungslinie zwischen beiden Werken!
Man weiß zwar nicht, wer der Textdichter des Himmelfahrts-Oratoriums ist, doch aufgrund der vielen Parallelen zum „WO“ möchte man vermuten, dass es hier wie da der begabte Picander war, auch wenn er die Texte beider Stücke nicht in seiner gedruckten Werkausgabe veröffentlicht hat.
Die zitierten Bibelstellen, die der Evangelist (wie immer ein Tenor) vorträgt, stammen aus dem Lukas- und Markus-Evangelium (Kap. 24 Vers 50-52 und Kap. 16 Vers 19) sowie vom Beginn der Apostelgeschichte (Kap. 1, Vers 9-12).
Genau wie beim Weihnachts-Oratorium hat Bach auch in seinem Himmelfahrts-Oratorium mehrere ältere Stücke aus weltlichen „Gelegenheits-Kantaten“ parodiert, also umgearbeitet und damit erfolgreich „wiederverwertet“.
So stammt der Eingangschor aus der 1732 entstandenen Einweihungs-Kantate für die Thomasschule und die beiden Arien hat Bach einer Hochzeitskantate entnommen – fleißige Bachforscher haben dies in akribischer Arbeit herausgefunden.
Die Arie Nr. 4 hat Bach später dann übrigens nochmals weiterverwertet und sie – wiederum in veränderter Form- in das Agnus Dei seiner h-moll-Messe (BWV 232) integriert.
Der Eingangschor und die umfangreiche Choralbearbeitung, die das Himmelfahrts-Oratorium rahmen, sind von großer Klangpracht und Festlichkeit - dem hohen Feiertag angemessen!
Wie im Weihnachts-Oratorium (noch eine Parallele!) werden die beiden Rezitative (Nr. 3 und 7 b), die nicht dem Evangelisten zugeordnet sind, zusätzlich von weiteren Instrumenten (hier 2 Traversflöten) begleitet, was diesen beiden Sätzen damit einen größeren Ausdruckscharakter verleiht.
Zu erwähnen wäre noch die originelle Instrumentierung der Arie Nr. 8: Die eigentlich stets vorhandene Basso Continuo-Stimme fehlt hier nämlich vollständig, so dass diese Arie damit einen quasi „schwerelosen“, leichten Charakter erhält und man das gen Himmel fahren, um das es in diesem Oratorium ja geht, beim Hören quasi nachempfinden kann!