Lina Pagliughi oder die verlorene Kunst des Belcanto

  • Lina Pagliughi war eine der berühmtesten Koloratursoprane der 1930er und 1940er Jahre. Eine Sängerin, die heute keinen ganz großen Namen mehr hat, aber doch gut genug war, um sich aus gegebenem Anlass mal wieder an sie zu erinnern. Lina Pagliughi wäre nämlich am kommenden Sonntag 100 Jahre alt geworden.


    Geboren wurde Lina Pagliughi am 27.05.1907 in Brooklyn als Tochter italienischer Einwanderer, wuchs aber in San Francisco auf. Ihre Stimme und Gesangstechnik muss sie außerordentlich früh perfektioniert haben. Jedenfalls gab sie im Alter von 11 Jahren schon umjubelte öffentliche Konzerte. Luisa Tetrazzini, eine der bekanntesten Koloratursoprane der damaligen Zeit, war so begeistert von der jungen Pagliughi, dass sie sie sogar adoptieren wollte. Zur weiteren Gesangsausbildung übersiedelte Pagliughi nach Italien und debütierte 1927 in Mailand als Gilda, eine Rolle, mit der sie jahrzehntelang große Erfolge feierte. Im selben Jahr heiratete sie den ebenfalls erstklassigen, heute aber wohl fast gänzlich vergessenen Tenor Primo Montanari (1895-1972). Sie hatte ihr Leben lang schwere Gewichtsprobleme, was ihre Bühnenkarriere erheblich behinderte. Es gibt ein altes Rigoletto-Video aus dem Jahr 1946 mit Tito Gobbi, Mario Filippeschi und Giulio Neri, in dem Pagliughi als einzige von einer Schauspielerin gedoubelt wird. Nichtsdestotrotz gibt es von ihr relativ viele Studioaufnahmen. Ihre mädchenhafte Stimme behielt sie bis zu ihrem endgültigen Ruhestand 1957 bei. Danach war sie noch als Gesangspädagogin tätig. Lina Pagliughi starb am 01.10.1980.



    Lina Pagliughi war eine der bedeutendsten Sängerinnen der Vor-Callas-Ära und die von ihr hinterlassenen Aufnahmen zeigen, wie sehr das heutige Belcanto-Verständnis von Maria Callas geprägt worden ist. Pagliughi beeindruckt in ihren Aufnahmen weniger durch die dramatische Durchdringung der Partien als durch natürlichen Schönklang und echte Koloraturfähigkeit. Ihr Stimmumfang umfasste mehr als drei Oktaven. Die Stimme ist glockenklar und mädchenhaft rein. Zu ihren Rollen gehörten unter anderem Gilda, Lucia di Lammermoor, Amina (Sonnambula), Nannetta, Violetta und die Königin der Nacht.


    Pagliughi ist meines Erachtens eine der letzten Exponentinnen des klassischen Belcanto-Ideals, die als solche ernst genommen wurde. Die Kunst des klassischen Koloraturgesangs ist wohl etwas aus der Mode gekommen. Die berühmteste "Koloratursopranistin" der Schellackzeit dürfte inzwischen fast schon Florence Foster Jenkins sein. Natürlich konnte Lina Pagliughi mehr, aber unser heutiges Interpretationsideal hat sich nach meiner Wahrnehmung doch etwas von ihrer Kunst entfernt. Was man heute eher als harmloses Nachtigallengezwitscher oder virtuose Zirkusnummern sieht, entsprach der damaligen Belcanto-Ästhetik, die einen möglichst reinen Klang und die kunstfertige Ausgestaltung der Koloraturen verlangte.


    Lina Pagliughi steht somit in einer Reihe mit legendären Sängerinnen wie Giuditta Pasta, Adelina Patti, Nelli Melba und Luisa Tetrazzini, die gerade für diese Fähigkeiten bewundert wurden und die gefeierten Gesangsstars ihrer Zeit waren. Lina Pagliughis Aufnahmen sind daher im besten Sinne dieses Schellackforums ein "Fenster in die Vergangenheit".


    Zwei Gesamtaufnahmen mit Lina Pagliughi möchte ich in diesem Zusammenhang empfehlen:




    - Lucia di Lammermoor 1939
    Pagliughi taucht nicht ganz so weit in die Abgründe des Wahnsinns ein wie zum Beispiel Maria Callas, bietet aber durchaus eine auch heute noch hörenswerte Interpretation. Giovanni Malipiero ist ein wirklich guter Edgardo. Giuseppe Manacchini als Enrico und übrigen Mitwirkenden fallen weder positiv noch negativ auf.




    - La Sonnambula 1952
    Eine sehr schöne Aufnahme, die neben der im positiven Sinne naiven Rollengestaltung von Lina Pagliughi auch den für meinen Geschmack in der Rolle des Elvino konkurrenzlosen Ferruccio Tagliavini aufbietet. Cesare Siepi bleibt mit seiner sonoren Stimme als Conte Rodolfo in Erinnerung.

  • Hallo Zauberton!


    Danke für diesen tollen Thread!


    Mir sagt Pagliughi schon etwas, kenn sie von der Great Voices Edition. Ich werde demnächst mal nachhören und dann meine Meinung kundtun.


    Noch eine Frage zur Sonnambula: Würdest du die als Referenzaufnahme sehen. Ich besitze jetzt schon drei (Callas, Bernstein; Sutherland;Bonynge und eine Nuova Era-Aufnahme), aber keine hat mich zufrieden gestellt, sollte ich da zugreifen?


    Als Lucia ist sie sicherlich gut, aber die Männersolisten sagen mir gar nichts. Aber du schreibst ja, dass sie nicht herausragend ist. Eine One-Woman-Show also, oder verstehe ich das falsch?


    LG joschi

  • Hallo Basilio und Zauberton,


    ich würde von dieser Sonnambula eher abraten, vor allem dann, wenn Callas nicht genügt - wobei sich natürlich die Frage auftut, was man von dieser Rolle eigentlich erwartet: dramatische Gestaltung und/oder bloßen Schönklang. Pagliughi besticht m.E. durch einwandfreies Belcantosingen, d.h. Koloraturen rauf und runter in makelloser Präzision. Dies finde ich allerdings nicht sehr spannend, da ich meine, daß sie die Rollen ansonsten kaum gestaltet. Vielleicht muß man das bei Belcanto auch nicht, aber bei Rollen wie der Lucia vermisse ich es sehr. Die Pagliaghi habe ich, bei allem Respekt, bisher immer mit Langeweile assoziiert.
    Aber zurück zu der Sonnambula: Ich denke, daß Pagliughi nach 1950 bereits ihren Zenit weit überschritten hat. Stimmlich ist die Lucia viel, viel besser. Und Malipiero ist für mich ein wahrer Referenz-Edgardo. Diese Aufnahme würde ich empfehlen, bei der Sonnambula bin ich mir hingegen nicht so sicher.
    Ich besitze noch eine Aufnahme der Puritani aus dem Jahre 1952 mit Pagliughi und Mario Filippeschi. Auch hier ist Pagliughi nicht mehr in Bestform - Filippeschi allerdings schon.


    :hello:
    M.

  • Lina Pagliughi gehörte zu jenen Sängerinnen, die ihre Stimme durch kluge Rollenauswahl bis in ein Alter bewahren konnten, wo andere Sopranistinnen schon längst der Bühne "Ade" sagen mussten. Ich denke hier vor allem an den "Rigoletto" aus dem Jahr 1954 unter der Leitung von Angelo Questa.


    Stärker sind natürlich ihre frühen Aufnahmen - und sie ist gewiss eine führende Sopranistin der "alten Schule", wenn es um Belcanto-Partien geht, sozusagen der Gegenentwurf zu den Stimmen einer Callas oder einer Scotto.


    Auch bei "Sonnambula" ist für mich die grosse Griechin maßstabsetzend, ohne dass ich Sängerinnen wie Pagliughi nicht auch wertschätzen könnte.


    Bei den Elvinos, mir sei diese Bemerkung hier gestattet, würde ich Cesare Valletti für die beste Besetzung halten. Tagliavini allerdings gehört zu den Tenören, dessen Aufnahmen ich sammele: Grundstock dieses Interesses war neben dem Riccardo, der Duca an der Seite der Pagliughi...

  • Ich will diese Sonnambula jetzt auch nicht gleich zur Referenzaufnahme hochjubeln, denn perfekt ist sie nicht. Aber hier ist es wie bei der Lucia: Callas bietet Drama und Wahnsinn, Pagliughi traditionellen Belcanto. Der Gesamteindruck stimmt einfach: Sie ist wirklich eine mädchenhafte glaubwürdige Amina. Bei Tagliavini bin ich wohl voreingenommen, den mag ich einfach (und sammele auch). Er quetscht ein bisschen bei den hohen Tönen, aber für Bellinis ländliches Idyll trifft er meines Erachtens doch den richtigen Ton. Wenn Tagliavini im ersten Akt "Prendi, l’anel di dono" singt und Pagliughi dann einstimmt, ist das für mich wirklich wunderbar gesungen. An Siepi gibt es wirklich gar nichts zu meckern. Insgesamt stellt mich die Aufnahme voll zufrieden.


    Den von Alviano erwähnten Rigoletto mit Pagliughi, Tagliavini und Taddei mag ich übrigens auch.

    Einmal editiert, zuletzt von Zauberton ()

  • Lieber Paul, da ich diese Dame bisher nciht kenne, rotwerd, schäm, :untertauch:
    gebuehrt dir mein ewiger Dnk fuer diesen Thread!!!!! :jubel:
    Was mich wundert ist die Sache mit den Gewichtsproblemen. Ich dachte, der Schlankheitstick auf den Buhnen sei neueren Datums und in alten Zeiten durfte man als Sângerin noch mit erheblcihem übergewicht à la Caballé auftreten?
    Nicht dass ich das gutheisse, im Gegenteil, ich bin nur erstaunt.
    Was die Sonnambula angeht: an dieser Rolle ist nun wirklich NICHTS dramatisches!!! Das ist eine lyrische Koloratur par excellence und nciht mit Lucia zu vergleichen. Melancholie und Trauer in der grossen arie "Ah non credea mirarti" aber keine Dramatik. Selbst nciht im Duett mit Rodolfo "o ciel che tento". Hier muss Bel-Canto im reinsten Sinne her: SCHÖNES Singen und darunter verstehe ich in solchen Rollen: eine vor allem SCHÖN und WARM timbrierte Stimme und keine Spur hartes oder schrilles Koloratugeklingel. Wer Mozart und Haydn nciht gut singen kann, ist für Bellini auch nciht geeignet. Beispiel Sutherland. Mag ich in Bellini-Opern nciht hören und nciht sehen, bei aller Virtuosität und respektvollenHochachtung vor ihrer Technik. Eine geschenkte Norma-Dvd aus der Oper Sydney ist mir durch ihre Interpretation der Titelrolle leider verleidet. So verschieden sind Geschmäcker!!!!!!
    Callasist wie immer die Ausnahme, sie kann eben alles und vewandelt sich auch in eine unschuldige schlafwandelnde Amina. Die oben genannte Aufnahme habe ich auch. In jüngerer Zeit finde ich Eva Mei ganz wunderbar. :jubel: :jubel: :jubel:
    Ich habe leider keine Gesamteinspielung mit ihr sondern nur einzelne Arien, aber es gibt zumindest eine DVD, mit leider etwas fragwuerdiger Inszenierung. Mir wuerde davon jedenfalls abgeraten Genaue.Angaben muesste ich gogeln und bin im Moment dazu zu schlafwandlerisch......
    Fairy Queen, die ein Riesenfan von Bellini und insbesondere der Sonnambula ist :yes: :jubel:

  • Hallo Fairy Queen,


    falls du mich meinst: ich heiße nicht Paul. ;) Da sich der echte Paul aber an diesem Thread noch nicht beteiligt hat, nehme ich einfach mal den Dank entgegen. :)


    Übergewicht hat man damals bei Sängerinnen wohl wirklich nicht ganz so ernst genommen wie heute. Lina Pagliughi muss aber tatsächlich ein pathologischer Fall gewesen sein. Es gibt da ziemlich böse Geschichten von unplanmäßigen Problemen bei einer Rigoletto-Aufführung mit Pagliughi – Mitwirkende: ein ziemlich leicht gebauter Bariton und der Sack. :faint: Der Höflichkeit halber möchte ich das aber nicht weiter ausbreiten.


    Mit der Stimme von Joan Sutherland habe ich mich übrigens auch nie so richtig befreunden können. Ich bin da auch eher bei den Callasianern. Sängerinnen wie Pagliughi sollte man aber auch nicht vergessen.


    :hello:

  • Hallo,


    zunächst einmal dir,lieber Zauberton, vielen Dank für diesen thread. Ich habe Lina Pagliughi vor einigen Jahren zum ersten Mal in einer Sendung von Jürgen Kesting (der sie wohl nicht besonders schätzt) gehört, und mir hat ihre Stimme auf Anhieb gefallen.
    Ich assoziiere mir ihr immer das Adjektiv "zart-bitter", weil sie bei aller Zartheit eben nicht nur den glockenreinen "Nachtigallenton", sondern auch eine Herbheit/Sprödigkeit in der Stimme hat, die ich gern höre.
    Callas, die ich auch sehr schätze, hat in den 50er Jahren die Belcanto-Oper wieder salonfähig gemacht und dabei so geschmacksbildend gewirkt, dass Sängerinnen wie Lina Pagliughi danach als bloße und blasse "Schönsängerinnen" abgetan wurden - schade...
    (Ein ähnlicher Fall war der große DiFiDi bei den Männern).
    Sicherlich kann man sich Pagliughi in der Rolle der Medea, Norma, Elektra oder Lady Macbeth nicht recht vorstellen - ihr fehlte das Tragöden-Pathos der Callas.
    Andererseits habe ich Schwierigkeiten mit Callas als Gilda, Amina oder Violetta: Ihre künstlerische Versiertheit lässt sie den "kleineren Ton" für diese Rollen finden, aber hier höre ich persönlich lieber Sängerinnen, die diesen kleineren Ton schon von vornherein haben und einen etwas weniger dramatischen Zugriff wählen.
    Und als Lucia habe ich beide im Regal - und die bessere Aufnahme ist für mich immer diejeinge, die ich gerade höre. ;)
    Natürlich ist die Wahnsinnsszene der Callas "wahnsinniger" in ihren Ausbrüchen, aber auch ein sanfteres Delirium kann Wahnsinn ausdrücken. Und die Stelle ab "ardon gl´incensi" hat Pagliughi in meinen Ohren anrührender gesungen ...


    lg petra

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  • Hallo Heldenbariton,


    dieser Rigoletto steht ganz oben auf meinem (dank Tamino immer länger werdenden) Wunschzettel für neue Sammelstücke.
    Ich habe auf einer LP einige Ausschnitte daraus, in denen Lina Pagliughi mit Giuseppe Taddei zu hören ist: wirklich :jubel:
    Und nicht zuletzt wegen Ferruccio Tagliavini als Herzog, auch :jubel:


    Eine CD mit Ausschnitten aus der frühen Aufnahme des Rigoletto von 1928 unter Carlo Sabajno steht bei mir auch im Regal; mir gefällt Pagliughi in der späteren Aufnahme jedoch besser; das kann jedoch auch daran liegen, dass die soprani leggieri auf den ganz alten Aufnahmen so schlecht rüberkommen ...


    :hello: Petra

  • Eben entdeckte ich bei youtube Ausschnitte aus einem Opernfilm aus dem Jahre 1949:
    Rigoletto mit Tito Gobbi, Mario Filippeschi als Herzog und Lina Pagliughi als Gilda.
    Doch halt – die schlanke Blondine, die ich dort sah, konnte unmöglich Lina Pagliughi sein.
    War sie auch nicht; sie „durfte“ zwar singen (und war wie immer eine zart-herbe Gilda), aber gespielt hat Marcella Govoni, während in den anderen Rollen die Originalsänger zu sehen waren.


    Es ist anscheinend diese DVD:




    :hello: Petra

  • Zitat

    Original von Zauberton



    - La Sonnambula 1952
    Eine sehr schöne Aufnahme, die neben der im positiven Sinne naiven Rollengestaltung von Lina Pagliughi auch den für meinen Geschmack in der Rolle des Elvino konkurrenzlosen Ferruccio Tagliavini aufbietet. Cesare Siepi bleibt mit seiner sonoren Stimme als Conte Rodolfo in Erinnerung.


    Dies kann ich nur ganz dick unterstreichen. :yes:


    Seit ich die Oper La Sonnambula kenne, habe ich diese CD wieder und immer wieder gehört. Ich besitze zudem einen Fernsehmitschnitt mit Eva Mei in der Titelrolle und diese Aufnahme ist wirklich sehr gut, aber die CD Einspielung mit Lina Pagliughi hat es mir angetan.


    LG


    Maggie

  • Liebe Maggie, ich unterstreiche mit! Das ist für mein Empfinden eine sehr poetische Aufnahme, die ich nicht nur Lina Pagliughis wegen liebe, sondern auch wegen der übrigen Besetzung:


    Ferruccio Tagliavini ist für mich ein idealer Elvino, hat ja manchmal ein etwas schmachtendes Singen, aber überschreitet nie die Grenze zum Kitsch. Und Cesare Siepi höre ich in vielen Rollen gern, hier aber am allerliebsten, weil seine noble Art zu singen wirklich den ins heimische Dorf zurückgekommenen "Fremden" auf die Bühne stellt (und ich kann mich an der Szene. in der er Amina bei sich im Zimmer findet, nicht satt hören - von beiden wundervoll gesungen :angel::angel: ).


    Liebe Grüße
    :hello: Petra

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    Lina Pagliughi, die am 27. Mai 1907 geboren wurde, starb am 1. Oktober 1980.
    Zu ihrem Geburtstag habe ich diese Aufnahme herausgesucht:




    Heute ist die 108. Wiederkehr ihres Geburtstages.



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Allerdings will mir scheinen, oben ist jemand anderes (Anna Moffo?) abgebildet, denn:


    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.