Die Bachkantate (085): BWV74: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten

  • BWV 74: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten
    Kantate zum Pfingstsonntag (Leipzig, 20. Mai 1725)




    Lesungen:
    Epistel: Apg. 2,1-13 (Ausgießung des Heiligen Geistes)
    Evangelium: Joh. 14,23-31 (Abschiedsreden Jesu: Der Heilige Geist wird euch alles lehren)



    Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 24 Minuten


    Textdichter: Christiane Mariane von Ziegler (1695-1760)
    Choral: Paul Gerhardt (1653)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia, Trompete I-III, Pauken, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
    Wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben,
    und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.


    2. Aria Sopran, Oboe da caccia, Continuo
    Komm, komm, mein Herze steht dir offen,
    Ach, lass es deine Wohnung sein!
    Ich liebe dich, so muss ich hoffen:
    Dein Wort trifft itzo bei mir ein;
    Denn wer dich sucht, fürcht’, liebt und ehret,
    Dem ist der Vater zugetan.
    Ich zweifle nicht, ich bin erhöret,
    Dass ich mich dein getrösten kann.


    3. Recitativo Alt, Continuo
    Die Wohnung ist bereit.
    Du find’st ein Herz, das dir allein ergeben,
    Drum lass’ mich nicht erleben,
    Dass du gedenkst, von mir zu geh’n.
    Das lass’ ich nimmermehr, ach, nimmermehr geschehen!


    4. Aria Bass, Continuo
    Ich gehe hin und komme wieder zu euch.
    Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen.


    5. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Kommt, eilet, stimmet Sait’ und Lieder
    In munter’n und erfreuten Ton!
    Geht er gleich weg, so kömmt er wieder,
    Der hochgelobte Gottessohn.
    Der Satan wird indes versuchen,
    Den Deinigen gar sehr zu fluchen.
    Er ist mir hinderlich,
    So glaub’ ich Herr, an dich.


    6. Recitativo Bass, Oboe I + II, Oboe da caccia, Continuo
    Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.


    7. Aria Alt, Oboe I + II, Oboe da caccia, Solo-Violine, Streicher, Continuo
    Nichts kann mich erretten
    Von höllischen Ketten
    Als, Jesu, dein Blut.
    Dein Leiden, dein Sterben
    Macht mich ja zum Erben:
    Ich lache der Wut.


    8. Choral SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
    Kein Menschenkind hier auf der Erd’
    Ist dieser edlen Gabe wert,
    Bei uns ist kein Verdienen;
    Hier gilt gar nichts als Lieb’ und Gnad’,
    Die Christus uns verdienet hat
    Mit Büßen und Versühnen.




    Auch diese Kantate beginnt mit denselben Worten, wie die im Vorjahr von Bach aufgeführte Kantate BWV 59, was diesmal einen einfachen Grund hat:
    Bach hat die "kleine" Kantate (was Umfang und Besetzung angeht) zur Vorlage für seine Pfingstkantate des Jahres 1725 genommen und die Sätze 1 und 4 von dort als Grundlage der Sätze 1 und 2 verwendet.


    Wahrscheinlich wollte er die aus seiner Sicht sehr gelungenen Sätze in größerem Rahmen nochmals aufführen und hat sich dabei wieder einmal als geschickter "Verwerter" älteren Materials erwiesen:


    Aus dem einleitenden Duett der Kantate BWV 59 wird nun ein prächtiger vierstimmiger Eingangschor über die Bibelworte aus Johannes 14, 23. Die 2 Trompetenstimmen des Duettes erweitert er um eine weitere zum üblichen dreistimmigen Trompeten-Ensemble, außerdem fügt er einen dreistimmigen Oboensatz hinzu - das Ganze bekommt also deutlich mehr Farbe und Pracht verliehen, ohne dass Bach die eigentliche Komposition verändert!
    Es bietet sich beim Vergleichen der beiden Sätze somit ein überaus interessanter Einblick in Bachs Kompositions- und Orchestrationswerkstatt!


    Die ursprüngliche Bass-Arie mit obligater Solo-Violine aus BWV 59 hat Bach von C-Dur nach F-Dur transponiert und sie - ebenfalls ohne größere Änderungen - in eine Arie für Solo-Sopran und Oboe da caccia verwandelt.
    Interessanterweise hat Bach sich - im Gegensatz zu seinen Parodien weltlicher Arien (meist aus Glückwunschkantaten), die er in Zusammenarbeit mit Picander in geistliche Stücke verwandelte - hier nicht um eine individuelle Anpassung der Ziegler'schen Dichtung an die ältere Textvorlage gekümmert: Das Versmaß des neuen Textes passt nicht unbedingt "1 zu 1" zum alten. Das hätte Picander sicher anders gelöst. Bach scheint Frau von Ziegler aber offenbar gar nicht nach einer individuellen Lösung gefragt zu haben...
    Er scheint den neuen Text einfach den alten Noten zugeordnet zu haben - dies hat mehr oder weniger auch ganz gut funktioniert (wenn der neue Text so gar nicht gepasst hätte, wäre Bach sicher nicht auf die Idee mit der Wiederverwertung der alten Musik ausgerechnet an dieser Stelle gekommen) und so zeigt sich auch die Arie Nr. 2 in neuem Gewand quasi "wie neugeboren"... :]


    Ganz typisch ist in der Arie Nr. 4 der Einsatz des Solo-Basses: Handelt es sich doch um ein weiteres Jesus-Wort aus dem Evangelium für den heutigen Sonntag (Joh. 14,28), das der Bass traditionell als "Vox Christi" vorträgt.


    Sehr virtuos-musikantisch (wie immer, wenn der zugrundeliegende Text von Musik und Instrumenten spricht!) präsentiert sich die Arie Nr. 5.


    Es folgt ein weiteres Bibelwort (diesmal aus dem Römerbrief, Kapitel 8 Vers 1), das wiederum vom Bass vorgetragen wird, sowie eine weitere, sehr virtuose Arie (Nr. 7), in der Altistin, Solo-Violine, Oboenterzett und Streichensemble brillieren dürfen! :jubel:


    Mariane von Ziegler scheint Paul Gerhardt als Dichter sehr geschätzt zu haben: Es ist nicht das erste Mal, dass sie eine ihrer Kantatendichtungen mit einer Choralstrophe von ihm enden lässt (z. B. BWV 183 oder BWV 103).

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)