BWV 176: Es ist ein trotzig und verzagt Ding
Kantate zum Trinitatisfest (Leipzig, 27. Mai 1725)
Lesungen:
Epistel: Röm. 11,33-36 (Welch eine Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes)
Evangelium: Joh. 3,1-15 (Gespräch Jesu mit dem Pharisäer Nikodemus)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 13 Minuten
Textdichter: Christiane Mariane von Ziegler (1695-1760)
Choral: Paul Gerhardt (1653)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Chor SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
Es ist ein trotzig und verzagt’ Ding um aller Menschen Herze.
2. Recitativo Alt, Continuo
Ich meine, recht verzagt,
Dass Nikodemus sich bei Tage nicht,
Bei Nacht zu Jesu wagt.
Die Sonne musste dort bei Josua so lange stille steh’n,
So lange bis der Sieg vollkommen war gescheh’n;
Hier aber wünschet Nikodem’: O säh’ ich sie zu Rüste geh’n!
3. Aria Sopran, Streicher, Continuo
Dein sonst hell beliebter Schein
Soll vor mich umnebelt sein,
Weil ich nach dem Meister frage,
Denn ich scheue mich bei Tage.
Niemand kann die Wunder tun,
Denn sein’ Allmacht und sein Wesen,
Scheint, ist göttlich auserlesen,
Gottes Geist muss auf ihm ruh’n.
4. Recitativo Bass, Continuo
So wund’re dich, o Meister, nicht,
Warum ich dich bei Nacht ausfrage!
Ich fürchte, dass bei Tage
Mein Ohnmacht nicht bestehen kann.
Doch tröst’ ich mich, du nimmst mein Herz und Geist
Zum Leben auf und an,
Weil alle, die nur an dich glauben, nicht verloren werden.
5. Aria Alt, Oboe I + II, Oboe da caccia, Continuo
Ermuntert euch, furchtsam und schüchterne Sinne,
Erholet euch, höret, was Jesus verspricht:
Dass ich durch den Glauben den Himmel gewinne.
Wenn die Verheißung erfüllend geschicht,
Werd’ ich dort oben
Mit Danken und Loben
Vater, Sohn und Heil’gen Geist
Preisen, der dreieinig heißt.
6. Choral SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
Auf dass wir also allzugleich
Zur Himmelspforten dringen
Und dermaleinst in deinem Reich
Ohn’ alles Ende singen,
Dass du alleine König seist,
Hoch über alle Götter,
Gott Vater, Sohn und Heil’ger Geist,
Der Frommen Schutz und Retter,
Ein Wesen, drei Personen.
Diese Kantate ist die letzte, die Bach im Frühjahr 1725 auf einen Text der Leipziger Dichterin Mariane von Ziegler komponiert hat. Seit dem Sonntag Jubilate am 22. April 1725 hatte Bach konsequent und ausschließlich auf ihre Kantatendichtungen zurückgegriffen. Dies schloss neben den "regulären" Sonntagen immerhin auch die Feste Christi Himmelfahrt und die drei Pfingstfeiertage mit ein BWV 74, BWV 68 und BWV 175).
Wie in allen diesen Fällen hat Bach auch in dieser Kantate wieder selbst korrigierend, bzw. ergänzend in den Ziegler'schen Text eingegriffen:
Alfred Dürr verweist auf den von Bach selber stammenden letzten Satz im Rezitativ Nr. 4, der eine Textabwandlung eines Verses aus dem Johannesevangelium darstellt (Johannes Kapitel 3, Vers 16).
Die Kantate beginnt mit einem Bibelwort-Chor aus Jeremia Kapitel 17, Vers 9, der von der Dichterin leicht abgewandelt wurde und der sie offenbar als passend zur heutigen Evangeliums-Geschichte ansprach: Es geht nämlich um den Pharisäer Nikodemus, der zwar einige Fragen an Jesus hat, sich aber erst des Nachts traut, ihn aufzusuchen, weil er nicht möchte, dass die andern Pharisäer dies mitbekommen.
Die Furcht und Verzagtheit empfindet die Dichterin nun als eine typische menschliche Eigenschaft und Bach hat daraus einen eindrücklichen Eingangschor in Form einer Fuge gestaltet.
Im Rezitativ Nr. 2 bezieht sich Frau von Ziegler nochmals auf eine alttestamentarische Quelle, wenn sie von der bei Josua stillstehenden Sonne spricht:
Es geht um eine im Buch Josua beschriebene Schlacht der Israeliten gegen die Amoriter bei Gibeon, während derer die Sonne so lange am Himmel stehen blieb, bis die Israeliten ihre Feinde erfolgreich besiegt hatten.
Genau dies wünscht sich der verzagte Nikodemus eben nicht - wenn es nach ihm ginge, könnte die Sonne gar nicht schnell genug untergehen, damit er endlich zu Jesus aufbrechen und mit ihm sprechen kann!
Sehr schön ist die Arie Nr. 5 mit ihrer reichhaltigen, dreistimmigen Oboenbesetzung, die Bach effektvoll im Wechselspiel mit der Gesangsstimme einsetzt!
Der Text des Schlusschorals stammt wieder einmal von dem von Frau von Ziegler (und nicht nur von ihr!) offenbar sehr geschätzten Paul Gerhardt (1607-76) - es ist die letzte Strophe seines zum Trinitatisfest geschaffenen Chorals "Was alle Weisheit in der Welt", gesungen zur Melodie des von Luther stammenden Chorals "Christ unser Herr zum Jordan kam".