Die Bachkantate (095): BWV75: Die Elenden sollen essen

  • Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer!


    Hier ist wieder Radio BaRockoko – seit eh und je Ihr Lieblingsmusiksender mit dem steten Ohr an der aktuellsten Musik von heute!


    Ich begrüße Sie auch heute wieder zur neuesten Sonntagmorgen-Ausgabe unserer beliebten Sendung „Kirchenmusik aktuell“ - heute wieder einmal mit einer mit ganz besonderer Spannung erwarteten Live-Übertragung aus Leipzig!


    Ich gebe daher nun auch ohne weitere Worte zu verlieren direkt ab an meinen geschätzten jungen Kollegen vor Ort, Herrn Christian Friedrich Henrici.



    Ich begrüße Sie, meine verehrten Damen und Herren an den Rundfunkempfängern im Lande!
    Hier meldet sich wieder einmal Christian Friedrich Henrici live aus der Leipziger Thomaskirche, wo wir am heutigen 1. Sonntag nach Trinitatis, dem 30. Mai im Jahre des Herrn 1723, im Rahmen des heutigen Gottesdienstes die Antrittsmusik des kürzlich - am 22. April - vom großen Rat der Stadt Leipzig einstimmig zum neuen Thomaskantor gewählten Herrn Johann Sebastian Bach erleben werden!


    Sie erinnern sich vielleicht noch an unsere letzte Live-Übertragung hier aus der Leipziger Thomaskirche, die am 7. Februar diesen Jahres stattfand.
    Damals hatten wir live über die sogenannte Kantoratsprobe von Herrn Bach berichtet - er hatte hier zwei selbst verfasste Kantaten zu Gehör gebracht und sich damit für das Amt des Thomaskantors empfohlen.


    Nun, was er damals an exzellenter Musique hier aufführte, scheint die hohen Herren des Stadtrats letztendlich doch überzeugt zu haben.
    Von Einigen ist zu vernehmen gewesen, dass sie sich durchaus andere Musiker als neuen Thomaskantor gewünscht hätten, den hochberühmten Herrn Georg Philipp Telemann zum Beispiel - wir hatten im Februar ja bereits ausführlich über die bis dato stattgefundenen Auswahl- und Bewerbungsverfahren berichtet - schlussendlich ist man dann aber wohl überein gekommen, Herrn Bach einstimmig zu erwählen, da es nämlich auch einige durchaus einflussreiche Fürsprecher für ihn gegeben hat.


    Und nun wird man sehen, wie er sich als neuer Thomaskantor in den nächsten Monaten den Leipzigern präsentieren wird. Die Erwartung aller ist natürlich riesengroß, schließlich hat Leipzig als bedeutende Stadt nicht nur des Handels, sondern eben auch der Künste einen Ruf zu verteidigen. Und der Leipziger Thomaskantor trägt ganz erheblich zu diesem Renommee bei!


    Dementsprechend groß ist heute hier der Andrang der Gläubigen in der Thomaskirche - das feierliche Erklingen der Antrittsmusik des neuen Kantors ist eben nicht nur ein gottesdienstliches, sondern vor allem auch ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte, das möchte niemand versäumen! Und Sie, liebe Hörerinnen und Hörer werden dieses Ereignis gleich live miterleben können!


    Bevor es nun losgeht (ich sehe, wie Herr Bach und seine Musiker sowie die Thomaner-Chorknaben sich jetzt auf ihre Plätze begeben) fasse ich für Sie noch schnell die Ereignisse der letzten Wochen zusammen:
    Herr Bach hat nun hier in der Stadt am 5. Mai seinen Anstellungsvertrag unterzeichnet und ist am 22. Mai mit seiner gesamten Familie und dem ganzen Hausrat mit einem aus mehreren Wagen bestehenden Tross aus Köthen hier in der Stadt eingetroffen und hat bereits die frisch (und aufwendig) renovierte, geräumige Dienstwohnung in der Thomasschule bezogen.
    Seine beiden ältesten Söhne, der 13-jährige Wilhelm Friedemann und der 9-jährige Carl Philipp Emanuel werden dem Vernehmen nach in Kürze wohl ebenfalls als Schüler der Thomasschule angehören.
    Herrn Bachs Gemahlin, Frau Anna Magdalena Bach war in Köthen als Kammersängerin angestellt und ist eine kunstverständige Dame, die ihrem Manne sicherlich gerade auch in musikalischen Dingen eine wertvolle Hilfe ist - ich denke da nur an das aufwendige und zeitraubende Kopieren und Ausschreiben der Noten für die einzelnen Stimmen.


    Doch nun will ich Sie nicht länger mit Worten langweilen - möge nun Frau Musika zu uns sprechen, oh pardon - singen: "Soli Deo Gloria!"





    BWV 75: Die Elenden sollen essen
    Kantate zum 1. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 30. Mai 1723)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Joh. 4,16-21 (Gott ist Liebe)
    Evangelium: Luk. 16,19-31 (Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus)



    Vierzehn Sätze, Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral (Nr. 7 und 14): Samuel Rodigast (1674/75)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe d’amore, Trompete, Violino I/II, Viola I/II, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden,
    und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen.
    Euer Herz soll ewiglich leben.


    2. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Was hilft des Purpurs Majestät,
    Da sie vergeht?
    Was hilft der größte Überfluss,
    Weil alles, so wir sehen,
    Verschwinden muss?
    Was hilft der Kützel eitler Sinnen,
    Denn unser Leib muss selbst von hinnen?
    Ach, wie geschwind ist es geschehen,
    Dass Reichtum, Wollust, Pracht
    Den Geist zur Hölle macht!


    3. Aria Tenor, Oboe I, Streicher, Continuo
    Mein Jesus soll mein alles sein!
    Mein Purpur ist sein teures Blut,
    Er selbst mein allerhöchstes Gut,
    Und seines Geistes Liebesglut
    Mein allersüß’ster Freudenwein.


    4. Recitativo Tenor, Continuo
    Gott stürzet und erhöhet
    In Zeit und Ewigkeit.
    Wer in der Welt den Himmel sucht,
    Wird dort verflucht.
    Wer aber hier die Hölle überstehet,
    Wird dort erfreut.


    5. Aria Sopran, Oboe d’amore, Continuo
    Ich nehme mein Leiden mit Freuden auf mich.
    Wer Lazarus’ Plagen
    Geduldig ertragen,
    Den nehmen die Engel zu sich.


    6. Recitativo Sopran, Continuo
    Indes schenkt Gott ein gut’ Gewissen,
    Dabei ein Christe kann
    Ein kleines Gut mit großer Lust genießen.
    Ja, führt er auch durch lange Not
    Zum Tod,
    So ist es doch am Ende wohlgetan.


    7. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Was Gott tut, das ist wohlgetan;
    Muss ich den Kelch gleich schmecken,
    Der bitter ist nach meinem Wahn,
    Lass’ ich mich doch nicht schrecken,
    Weil doch zuletzt
    Ich werd’ ergötzt
    Mit süßem Trost im Herzen;
    Da weichen alle Schmerzen.


    Seconda parte


    8. Sinfonia (G-Dur) Trompete, Streicher (evtl. zusätzlich Oboe I + II), Continuo


    9. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
    Nur eines kränkt
    Ein christliches Gemüte:
    Wenn es an seines Geistes Armut denkt.
    Es gläubt zwar Gottes Güte,
    Die alles neu erschafft;
    Doch mangelt ihm die Kraft,
    Dem überird’schen Leben
    Das Wachstum und die Frucht zu geben.


    10. Aria Alt, Violino I/II, Continuo
    Jesus macht mich geistlich reich.
    Kann ich seinen Geist empfangen,
    Will ich weiter nichts verlangen;
    Denn mein Leben wächst zugleich.
    Jesus macht mich geistlich reich.


    11. Recitativo Bass, Continuo
    Wer nur in Jesu bleibt,
    Die Selbstverleugnung treibt,
    Dass er in Gottes Liebe
    Sich gläubig übe,
    Hat, wenn das Irdische überwunden,
    Sich selbst und Gott gefunden.


    12. Aria Bass, Trompete, Streicher, Continuo
    Mein Herze glaubt und liebt.
    Denn Jesu süße Flammen,
    Aus den’ die meinen stammen,
    Geh’n über mich zusammen,
    Weil er sich mir ergibt.


    13. Recitativo Tenor, Continuo
    O Armut, der kein Reichtum gleicht!
    Wenn aus dem Herzen
    Die ganze Welt entweicht
    Und Jesus nur allein regiert.
    So wird ein Christ zu Gott geführt!
    Gib, Gott, dass wir es nicht verscherzen!


    14. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Was Gott tut, das ist wohlgetan,
    Dabei will ich verbleiben.
    Es mag mich auf die rauhe Bahn,
    Not, Tod und Elend treiben;
    So wird Gott mich
    Ganz väterlich
    In seinen Armen halten;
    Drum lass’ ich ihn nur walten.





    Verehrte Hörerinnen und Hörer, wenn ich den Blick hier durch die Runde schweifen lasse, so scheinen mir die meisten Besucher, allen voran die hohen Herren des Stadtrates, doch sehr zufrieden zu sein mit dem, was sie vom neuen Kantor im Rahmen dieses Gottesdienstes soeben zu hören bekommen haben!


    Eine sehr aufwendinge und umfangreiche Kantate, die uns Herr Bach zum Amtsantritt da geboten hat - von den einzelnen 14 Sätzen her bewundernswert symmetrisch gegliedert in 2 Teile (vor und nach der übrigens heute wieder einmal exzellenten Predigt) und von aparter Instrumentation!
    Besonders der Einsatz der Tromba im zweiten Teil der Kantate erschien mir als ein ganz besonders wohlgelungener Effekt von erhebender Wirkung!
    Auch der Vortrag der Choräle jeweils zum Ende eines jeden Kantatenteils war äußerst anspruchsvoll ausgeführt: Nicht nur ein "bloßes" Absingen der bekannten Liedweise, sondern ein Agieren zwischen Chor und begleitenden Instrumenten.
    Dazu passend noch eine den zweiten Teil einleitende Sinfonia, die sich ebenfalls auf den zuvor vorgetragenen Choral bezieht - eine wahrhaft originelle Idee, die auch für die Zukunft noch einiges an Interessantem von Herrn Bach erwarten lässt!


    Ganz zu schweigen natürlich von dem eindrucksvollen und meisterhaft in die Musik gesetzten Eingangschor über das Bibelwort aus Psalm 22 Vers 27 - das war magnifique!
    Solche Musique wird dem Anspruch unseres hochberühmten, traditionsreichen Thomanerchors gerecht und wird seinen Ruhm gewisslich weiterhin mehren!


    Daher wage ich zu behaupten, was ich schon im Februar im Rahmen der Kantoratsprobe sagte: Von Herrn Bach werden wir hier in Leipzig gewisslich noch einiges bemerkenswertes zu hören bekommen! Daher wünsche ich ihm - sicherlich auch im Namen unserer werten Hörerschaft - numehr von dieser Stelle alles erdenklich Gute für diese seine neue Aufgabe!
    Wir werden künftig wohl sicher noch des Öfteren hier aus Leipzig von Herrn Bachs vorzüglicher Musik berichten - davon bin ich überzeugt!


    In diesem Sinne - haben Sie noch einen schönen Sonntag! :hello:


    Und damit gebe ich zurück ins Funkhaus.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Lieber MarcCologne!


    Danke-, hat mir sehr gefallen, dass Du mal auf eine neue Art der Medienkritik-, eben zeitgenössisch, zurückgegriffen hat.


    Wo bleibt aber Bach's 2.Bearbeitung des Themas aus dem Jahre 1723. Ein Vergleich wäre sehr reizvoll.
    Aber ich warte bis zum 23.So n.Trin gerne ab.


    Gruß


    Adamo

    Magnificat anima mea

  • Guten Tag



    Eine Leipziger Chronik, die Acta Lipsiensium academica, schrieb darüber:


    "Den 20. dito als am 1. Sonnt. nach Trinit. führte der neue Cantor u. Collegii Musici Direct. Hr. Joh. Sebastian Bach, so von dem Fürstl. Hofe zu Cöthen hieher kommen, mit guten applaus seine erste Music auf"


    Ob die Leipziger in der Kirche Abblaus geklatscht haben ?
    Wohl ehrer nicht. In dieser Kantate setzte Bach auch das damals neue Instrument Oboe d´amore ein.


    Eine gelungene Einsapielung von BWV 75 ist diese



    CD mit dem Collegium Vocale Gent, das von Philippe Herreweghe geleitet wird.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Der Bericht in der von Bernhard zitierten Leipziger Chronik liest sich nach heutiger Meinung eher reserviert. "Guter applauso" (was sehr wahrscheinlich keinen wirklichen klatschenden Applaus meint) ist zwar grundsätzlich wohlwollend - also kein Reinfall, aber eben auch nicht der Begeisterungssturm, den Telemann möglicherweise ausgelöst hätte. Gut ist nicht sehr gut und auch nicht exzellent.

    Es zeigt sich darin IMO schon das für die nächsten Jahrzehnte dominierende Verhältnis zwischen den Leipzigern und ihren Thomaskantor: Ein eher distanziertes Verhältnis zwischen Bewunderung und Unverständnis. Mit zunehmenden Jahren auch noch geprägt von mancher inhaltlichen Streiterei und einer Abwendung Bachs von seinen Kantorenpflichten. Entgegen eines gängigen Vorurteils gab es durchaus nicht wenige in Leipzig, die die geniale Qualität der Bachschen Musik erkannt und auch gelegentlich geäußert haben. Nur war Bach im Gegensatz zu seiner heutigen Stellung eben nicht sakrosanct, sondern musste sich als angestellter Kirchenmusiker der Kritik seiner Vorgesetzten und der Gemeinde stellen. Dass dies eine Überforderung beider Seiten bedeutete, liegt auf der Hand: Nicht allen war es gegeben, Bachs komplexe Musik - zumal bei oft nur einmaligen Hören - zu durchdringen und zu verstehen. Und dass Bach ungewöhnliche Wege ging und sich zudem oft über den Zeitgeschmack hinwegsetzte, machte die Sache nicht einfacher. Auf der anderen Seite mag Bach mehr als einmal über die gelegentlich sehr beschränkten und konservativen Vorstellungen seiner Vorgesetzten gewesen sein.

    Bachs Außergewöhnlichkeit mögen einige, vielleicht sogar viele erkannt haben - nur musste die Bewertung der selben zu großen Teilen zwangsläufig anders ausfallen als mit historischem Abstand, wie ihn z.B. Mendelssohn hatte.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)