BWV 20: O Ewigkeit, du Donnerwort
Kantate zum 1. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 11. Juni 1724)
Lesungen:
Epistel: 1. Joh. 4,16-21 (Gott ist Liebe)
Evangelium: Luk. 16,19-31 (Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus)
Elf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 31 Minuten
Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebenden Choral
Choral (Nr. 1, 7 und 11, sowie in Zitaten in Nr. 2 – 5 und 9): Johann Rist (1642)
Besetzung:
Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I-III, (Zug-)Trompete, Violino I/II, Viola I/II, Continuo
1. Choral SATB, Zugtrompete, Oboe I-III, Streicher, Continuo
O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Mein ganz erschrocken Herz erbebt,
Dass mir die Zung’ am Gaumen klebt.
2. Recitativo Tenor, Continuo
Kein Unglück ist in aller Welt zu finden,
Das ewig dauernd sei:
Es muss doch endlich mit der Zeit einmal verschwinden.
Ach! aber ach! die Pein der Ewigkeit hat nur kein Ziel;
Sie treibet fort und fort ihr Marterspiel,
Ja, wie selbst Jesus spricht,
Aus ihr ist kein’ Erlösung nicht.
3. Aria Tenor, Streicher, Continuo
Ewigkeit, du machst mir bange,
Ewig, ewig ist zu lange!
Ach, hier gilt fürwahr kein Scherz.
Flammen, die auf ewig brennen,
Ist kein Feuer gleich zu nennen;
Es erschrickt und bebt mein Herz,
Wenn ich diese Pein bedenke
Und den Sinn zur Höllen lenke.
4. Recitativo Bass, Continuo
Gesetzt, es dau’rte der Verdammten Qual
So viele Jahr’, als an der Zahl
Auf Erden Gras, am Himmel Sterne wären;
Gesetzt, es sei die Pein so weit hinausgestellt,
Als Menschen auf der Welt
Von Anbeginn gewesen,
So wäre doch zuletzt
Derselben Ziel und Maß gesetzt:
Sie müsste doch einmal aufhören.
Nun aber, wenn du die Gefahr,
Verdammter! tausend Millionen Jahr
Mit allen Teufeln ausgestanden,
So ist doch nie der Schluss vorhanden;
Die Zeit, so niemand zählen kann,
Fängt jeden Augenblick
Zu deiner Seelen ew’gem Ungelück
Sich stets von neuem an.
5. Aria Bass, Oboe I-III, Continuo
Gott ist gerecht in seinen Werken:
Auf kurze Sünden dieser Welt
Hat er so lange Pein bestellt;
Ach wollte doch die Welt dies merken!
Kurz ist die Zeit, der Tod geschwind,
Bedenke dies, o Menschenkind!
6. Aria Alt, Streicher, Continuo
O Mensch, errette deine Seele,
Entfliehe Satans Sklaverei
Und mache dich von Sünden frei,
Damit in jener Schwefelhöhle
Der Tod, so die Verdammten plagt,
Nicht deine Seele ewig nagt.
O Mensch, errette deine Seele!
7. Choral SATB, Trompete, Oboe I-III, Streicher, Continuo
Solang’ ein Gott im Himmel lebt
Und über alle Wolken schwebt,
Wird solche Marter währen:
Es wird sie plagen Kält’ und Hitz’,
Angst, Hunger, Schrecken, Feu’r und Blitz
Und sie doch nicht verzehren.
Denn wird sich enden diese Pein,
Wenn Gott nicht mehr wird ewig sein.
Seconda parte
8. Aria Bass, Trompete, Oboe I-III, Streicher, Continuo
Wacht auf, wacht auf, verlor’ne Schafe,
Ermuntert euch vom Sündenschlafe
Und bessert euer Leben bald!
Wacht auf, eh’ die Posaune schallt,
Die euch mit Schrecken aus der Gruft
Zum Richter aller Welt vor das Gerichte ruft!
9. Recitativo Alt, Continuo
Verlass, o Mensch, die Wollust dieser Welt,
Pracht, Hoffart, Reichtum, Ehr’ und Geld;
Bedenke doch
In dieser Zeit annoch,
Da dir der Baum des Lebens grünet,
Was dir zu deinem Friede dienet!
Vielleicht ist dies der letzte Tag,
Kein Mensch weiß, wenn er sterben mag.
Wie leicht, wie bald
Ist mancher tot und kalt!
Man kann noch diese Nacht
Den Sarg vor deine Türe bringen.
Drum sei vor allen Dingen
Auf deiner Seelen Heil bedacht!
10. Duetto. Aria Alt, Tenor, Continuo
O Menschenkind,
Hör auf geschwind,
Die Sünd’ und Welt zu lieben,
Dass nicht die Pein,
Wo Heulen und Zähnklappen sein,
Dich ewig mag betrüben!
Ach spiegle dich am reichen Mann,
Der in der Qual
Auch nicht einmal
Ein Tröpflein Wasser haben kann!
11. Choral SATB, Trompete, Oboe I-III, Streicher, Continuo
O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Nimm du mich, wenn es dir gefällt,
Herr Jesu, in dein Freudenzelt!
Mit dieser Kantate startete Bach zu Beginn seines zweiten Amtsjahrs als Leipziger Thomaskantor sein anspruchsvolles und ehrgeiziges "Projekt" eines Choralkantaten-Jahrgangs:
Ein gesamter Jahrgang (also für jeden Sonn- und Feiertag eines Kirchenjahres) von Kantaten, die jeweils einen zum Tag passenden Choral zur Grundlage haben, dessen einzelne Strophen entweder in unveränderter Form oder in teilweise freier Nachdichtung die Textgrundlage der Kantate bilden. Die Musik des ausgewählten titelgebenden Chorals erklingt in diesen Kantaten fast immer als Schluss-Satz in unveränderter Form, während sie meist im Eingangschor in kunstvoller Weise als oft aufwendige Choralbearbeitung in variierter Form zu hören ist.
Dieses wahrhaft ehrgeizige Projekt zeigt meiner Meinung nach deutlich, dass Bach die ihm von Amts wegen auferlegte Verpflichtung, allsonntäglich (neu verfasste) Kantaten in den Gottesdiensten aufzuführen, nicht nur als berufliche, sondern eben vor allem auch als künstlerische Herausforderung betrachtete.
Warum hätte er sich sonst die eh schon gewaltige wöchentliche Herausforderung freiwillig noch erschweren sollen?
Aufgrund mehrerer Umstände hatte er es allerdings nach Vollendung des Jahrgangs 1724/25 nicht geschafft, sämtliche darin enthaltenen Kantaten in Form einer Choralkantate zu komponieren. Das war ja auch oft eine Frage des passenden Textes. Und da stand ihm anscheinend nicht immer geeignetes Material zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung.
Bach hat aber die Vollendung dieses Choralkantatenjahrgangs nicht aus den Augen verloren und in späteren Jahren immer wieder ganz gezielt für "fehlende" Sonntage Kantaten in der von ihm angestrebten Form nachkomponiert und den Jahrgang letztendlich doch noch vollendet.
Der unbekannte Textdichter der hier besprochenen Kantate hat insgesamt 3 Choralstrophen unverändert aus Johann Rists Choraldichtung übernommen (in den Sätzen 1, 7 und 11) und die übrigen Strophen in freier Dichtung neu getextet, ihre ursprüngliche Aussage dabei übernommen und immer wieder auch einzelne Zeilen des Chorals in unveränderter Form mit einfließen lassen (kursiv markiert).
Die hier besprochene erste Kantate dieser Machart beginnt passenderweise in Form einer veritablen französischen Ouvertüre: Gemessen pathetisch-feierlicher Schreit-Rhythmus zu Beginn, ein schnellerer Mittelteil und ein "Abbremsen" zum Ausklingen in erneut langsamerem Tempo.
Der Bach-Freund kennt solche rein instrumentalen Ouvertüren jeweils aus den Eröffnungssätzen von Bachs 4 Suiten für Orchester (BWV 1066-69) - diese "Ouvertüren" wirken aber auch, wie in dieser Kantate bewiesen wird, mit zusätzlich beteiligtem Chor sehr beeindruckend!
Ein wahrhaft festlicher Auftakt, der von Bach sicher bewusst gewählt wurde - galt in der französischen Ouvertüre der feierliche Glanz dem Einzug des Königs in das Theater, so huldigt Bach hier nicht minder ehrerbietig eindeutig Gott als himmlischem Herrscher.
In dieser Choralbearbeitung trägt der Sopran die Choralmelodie zeilenweise vor, während die anderen Stimmen (Orchester wie Choristen) diese Einsätze umspielen und variieren.
Ab der Zeile "O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit" beginnt der schnellere Mittelteil (bezeichnet als "vivace") - mit den Worten "Mein ganz erschrocken Herz erbebt" nimmt Bach das Tempo wieder zurück und schafft eine besonders beeindruckende Textverdeutlichung, indem er das "Erschrecken" durch wie gestammelt wirkende, immer wieder unterbrochene Stimmführungen zeichnet! Und wenn dann "die Zung' am Gaumen klebt" (ein schönes Bild :] ), kleben auch die einzelnen Stimmen an dieser lang ausgehaltenen Stelle förmlich fest...
Die Arie Nr. 8 ist wieder einmal eine der von mir so geschätzten Bach-Arien für Bass und Trompete!
Passend ist der Einsatz der Trompete gerade hier, wo mit aufrüttelndem Habitus ein "Weckruf" zum Beginn eines besseren Lebens erklingt - sehr beeindruckend!
Mich erinnert die Arie spontan an die Bass-Arie "The trumpet shall sound" aus dem 3. Teil von Händels Messias.
Die hier von Bach zum Einsatz gebrachte "Tromba da tirarsi", zu deutsch "Zugtrompete" ist laut Musiklexikon eine hohe Diskant-Posaune mit drei Zügen, was mich als Nicht-Kenner von Blechblasinstrumenten etwas verwirrt zurücklässt - denn zumindest scheint mir das, was da in der besagten Bass-Arie erklingt, definitiv ene Trompete und keine Posaune zu sein (zu den Choralsätzen lässt sich nicht viel sagen, denn da kann ich das fragliche Instrument kaum aus dem Ensemble raushören)
Vielleicht weiß ein Mit-Tamino hier mehr?