Die Bachkantate (097): BWV39: Brich dem Hungrigen dein Brot

  • BWV 39: Brich dem Hungrigen dein Brot
    Kantate zum 1. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 23. Juni 1726)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Joh. 4,16-21 (Gott ist Liebe)
    Evangelium: Luk. 16,19-31 (Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 24 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: David Denicke ( 1648 )



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Blockflöte I + II, Oboe I + II, Solo-Violine, Violino I/II, Viola I/II, Continuo





    1. Chor SATB, Blockflöte I + II, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe ins Haus!
    So du einen nacket siehest, so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch.
    Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte,
    und deine Besserung wird schnell wachsen,
    und deine Gerechtigkeit wird für dir hergehen,
    und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen.


    2. Recitativo Bass, Continuo
    Der reiche Gott wirft seinen Überfluss
    Auf uns, die wir ohn’ ihn auch nicht den Odem haben.
    Sein ist es, was wir sind; er gibt nur den Genuss,
    Doch nicht, dass uns allein nur seine Schätze laben.
    Sie sind der Probestein, wodurch er macht bekannt,
    Dass er der Armut auch die Notdurft ausgespendet,
    Als er mit milder Hand,
    Was jener nötig ist, uns reichlich zugewendet.
    Wir sollen ihm für sein gelehntes Gut
    Die Zinse nicht in seine Scheuren bringen;
    Barmherzigkeit, die auf dem Nächsten ruht,
    Kann mehr als alle Gab’ ihm an das Herze dringen.


    3. Aria Alt, Oboe I, Solo-Violine, Continuo
    Seinem Schöpfer noch auf Erden
    Nur im Schatten ähnlich werden,
    Ist im Vorschmack selig sein.
    Sein Erbarmen nachzuahmen,
    Streuet hier des Segens Samen,
    Den wir dorten bringen ein.


    Seconda parte


    4. Arioso Bass, Continuo
    Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht;
    Denn solche Opfer gefallen Gott wohl.


    5. Aria Sopran, Blockflöte I + II, Continuo
    Höchster, was ich habe,
    Ist nur deine Gabe.
    Wenn vor deinem Angesicht
    Ich schon mit dem Deinen
    Dankbar wollt’ erscheinen,
    Willt du doch kein Opfer nicht.


    6. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
    Wie soll ich dir, o Herr! denn sattsamlich vergelten,
    Was du an Leib und Seel’ mir hast zugut’ getan?
    Ja, was ich noch empfang’, und solches gar nicht selten,
    Weil ich mich jede Stund’ noch deiner rühmen kann?
    Ich hab’ nichts als den Geist, dir eigen zu ergeben,
    Dem Nächsten die Begierd’, dass ich ihm dienstbar werd’,
    Der Armut, was du mir gegönnt in diesem Leben,
    Und, wenn es dir gefällt, den schwachen Leib der Erd’.
    Ich bringe, was ich kann, Herr! lass’ es dir behagen,
    Dass ich, was du versprichst, auch einst davon mög’ tragen.


    7. Choral SATB, Blockflöte I + II, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Selig sind, die aus Erbarmen
    Sich annehmen fremder Not,
    Sind mitleidig mit den Armen,
    Bitten treulich für sie Gott.
    Die behülflich sind mit Rat,
    Auch, wo möglich, mit der Tat,
    Werden wieder Hülf’ empfangen
    Und Barmherzigkeit erlangen.




    Ganz besonders beeindruckend an dieser Kantate ist der umfangreiche Eingangschor, der ein ganz ungewöhnlich umfangreiches Bibelwort (aus Jesaja Kapitel 58, Vers 7-8) in mottetischer Form zu Gehör bringt.
    Hier zeigt sich wieder einmal Bachs unvergleichliche Kunst, einen beim bloßen Lesen doch recht spröde wirkenden Text in eine fassbare musikalische Gestalt zu verwandeln!
    Bach teilt den Text in drei größere Abschnitte, wobei der erste "Brich dem Hungrigen dein Brot" sicherlich der umfangreichste ist.
    Ab "So du einen nacket siehest" beginnt der zweite, deutlich knapper gefasste Teil; mit "Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen" der dritte Teil, in dem Bach, wie zu Beginn, auch mit Fugenthemen arbeitet.
    Alles in allem ein echtes Meisterstück aus Bachs Feder! :jubel:


    Sehr schön sind auch die Arien Nr. 3 und 5, in denen mit dem solistischen Einsatz von Oboe und Violine, bzw. den beiden Blockflöten schöne konzertante Effekte erzielt werden!


    Ein weiterer Bibelwort-Satz (Hebräer Kapitel 13, Vers 16) leitet im Arioso Nr. 4 den zweiten Teil der Kantate (also den, der nach der Predigt gespielt wurde) ein.
    Im Original hat Bach diesen Satz mit Basso solo betitelt, was zwar einen Hinweis auf die Besetzung, nicht aber auf die Art des Musikstückes gibt.
    Der Satz steht stilistisch irgendwo zwischen Arie und Arioso, wie so viele Sätze, in denen Bach ein Bibelzitat vom Solo-Bass vortragen lässt.
    Meist assoziiert man damit die "Vox Christi", als die der Bass zu Bachs Zeiten traditionell herangezogen wurde (so auch in seinen Passionen) - hier ist zwar nicht Jesus derjenige, der in der Bibel diese Worte äußert, aber der Briefschreiber des Hebräerbriefes fungiert ja auch dort quasi als Sprachrohr Christi, so das wohl auch hier die Assoziation angebracht ist.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Was für großartige Musik ist dieser Eingangschor nun wieder. Wie MarcCologne hervorhebt: Bach macht spröde Prophetie-Texte fass- und fühlbar. Der Satz ist nach Art einer Motette - also mit einer Reihung unterschiedlicher Text- und Satzteile - gestaltet, so dass jede Textpassage inhaltlich passende Musik bekommt. Dürr stellt eine deutliche Dreiteilung fest, wobei der Mittelteil eher eine kürzere Überleitung darstellt. Sinnfällige Tonmalerei bestimmt das Hauptmotiv des A-Teils: Mit Pausen durchsetzte Staccato-Akkordblöcke einzelner Instrumentengruppen machen das Brotbrechen hörbar. "Brich den Hungrigen dein Brot und die so im Elend sind führe ins Haus". Mehr als einmal erinnert die beeindruckende Fuge an BWV 109 und wirkt doch auch für heutige Ohren harmonisch und klanglich regelrecht progressiv. Überleitend wird die nächste moralische Forderung zwar nicht fugiert, aber doch imitatorisch hörbar gemacht: "So du einen nacket siehst, so kleide ihn...". Doch noch immer ist Steigerung möglich: Die abschließende Fuge ist von glänzender Virtuosität, geradezu mitreißend. "Als dann wird dein Licht herfürbrechen..." Die Erfüllung der zuvor geäußerten moralischen Forderungen führt somit zu Glanz und Herrlichkeit. Besonders fallen die Begleitfiguren der Flöte auf, allerdings treten sämtliche Instrumente nicht nur colla parte, sondern auch mit verschiedenen Begleitfiguren hervor. Das ist wirklich Bach auf der Höhe seiner Kunst!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)