Die Bachkantate (099): BWV2: Ach Gott, vom Himmel sieh darein

  • BWV 2: Ach Gott, vom Himmel sieh darein
    Kantate zum 2. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 18. Juni 1724)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Joh. 3,13-18 (Wer nicht liebt, der bleibt im Tod)
    Evangelium: Luk. 14,16-24 (Gleichnis vom großen Festmahl)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 20 Minuten


    Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1 und 6): Martin Luther (1524)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Posaune I-IV, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Oboe I + II, Posaune I-IV, Streicher, Continuo
    Ach Gott, vom Himmel sieh darein
    Und lass dich’s doch erbarmen!
    Wie wenig sind der Heil’gen dein,
    Verlassen sind wir Armen.
    Dein Wort man nicht lässt haben wahr,
    Der Glaub’ ist auch verloschen gar
    Bei allen Menschenkindern.


    2. Recitativo Tenor, Continuo
    Sie lehren eitel falsche List,
    Was wider Gott und seine Wahrheit ist;
    Und was der eigen’ Witz erdenket
    - O Jammer! der die Kirche schmerzlich kränket -,
    Das muss anstatt der Bibel steh’n.
    Der eine wählet dies, der and’re das,
    Die törichte Vernunft ist ihr Kompass;
    Sie gleichen denen Totengräbern,
    Die, ob sie zwar von außen schön,
    Nur Stank und Moder in sich fassen
    Und lauter Unflat sehen lassen.


    3. Aria Alt, Solo-Violine, Continuo
    Tilg’, o Gott, die Lehren,
    So dein Wort verkehren!
    Wehre doch der Ketzerei
    Und allen Rottengeistern;
    Denn sie sprechen ohne Scheu:
    Trotz dem, der uns will meistern!


    4. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Die Armen sind verstört,
    Ihr seufzend’ Ach! ihr ängstlich Klagen
    Bei soviel Kreuz und Not,
    Wodurch die Feinde fromme Seelen plagen,
    Dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein.
    Darum spricht Gott: Ich muss ihr Helfer sein!
    Ich hab’ ihr Fleh’n erhört,
    Der Hilfe Morgenrot,
    Der reinen Wahrheit heller Sonnenschein
    Soll sie mit reiner Kraft,
    Die Trost und Leben schafft,
    Erquicken und erfreu’n.
    Ich will mich ihrer Not erbarmen,
    Mein heilsam’ Wort
    Soll sein die Kraft der Armen.


    5. Aria Tenor, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Durch’s Feuer wird das Silber rein,
    Durch’s Kreuz das Wort bewährt erfunden.
    Drum soll ein Christ zu allen Stunden
    Im Kreuz und Not geduldig sein.


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Posaune I-IV, Streicher, Continuo
    Das wollst du, Gott, bewahren rein
    Für diesem arg’n Geschlechte;
    Und lass uns dir befohlen sein,
    Dass sich’s in uns nicht flechte.
    Der gottlos’ Hauf’ sich umher find’t,
    Wo solche lose Leute sind
    In deinem Volk erhaben.




    Mit dieser Kantate setzte Bach den in der Vorwoche zum Auftakt seines 2. Amtsjahrs als Leipziger Thomaskantor (mit der Kantate BWV 20) begonnenen Zyklus von Choralkantaten fort.


    Diesmal lässt er in der einleitenden Choralbearbeitung den Alt die Choralmelodie vortragen (in BWV 20 war diese Aufgabe traditionell dem Sopran zugefallen) - der Einsatz eines vierstimmigen Posaunenensembles verleiht dem ganzen Satz etwas gewichtig-archaisches, eine der Bearbeitung eines Luther-Chorals sicher angemessene Aura.


    In wirkungsvollem Gegensatz zu dieser Ehrfurcht gebietenden Strenge steht die Arie Nr. 3, in der Bach ganz im Stil seiner Zeit eine Solo-Violine, die mit der Stimme des Solo-Alts konzertiert, einsetzt.
    Auch in dieser Arie erklingt aber ein Zitat der Choralmelodie - immerhin befinden wir uns in einer Choralkantate, da darf man den Bezug zur alle Sätze dominierenden Vorlage nicht vergessen ;)


    Das Rezitativ Nr. 4 wartet mit einigen ariosen Elementen auf, wie Bach es zuvor schon im Rezitativ Nr. 2 (hier sogar unter Einbeziehung weiterer Melodie-Zitate des Chorals) praktiziert hat.


    Wie der Luther-Choral, auf den sich die ganze Kantate bezieht, denn nun in "purer" Form klingt, kann man im abschließenden Schlusschoral dann nachvollziehen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)