Die Bachkantate (105): BWV185: Barmherziges Herze der ewigen Liebe

  • BWV 185: Barmherziges Herze der ewigen Liebe
    Kantate zum 4. Sonntag nach Trinitatis (Weimar, 14. Juli 1715)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 8,18-23 (Die ganze Schöpfung sehnt sich mit uns nach der Offenbarung der Kinder Gottes)
    Evangelium: Luk. 6,36-42 (Aus der Bergpredigt: Übt Barmherzigkeit und richtet nicht; gebet, so wird euch gegeben)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 16 Minuten


    Textdichter: Salomon Franck (1659-1725), aus dessen „Evangelischem Andachtsopffer“ von 1715
    Choral: Johann Agricola (um 1529)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe, (Trompete), Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Duetto Sopran, Tenor, Oboe (oder Trompete), Continuo
    Barmherziges Herze der ewigen Liebe,
    Errege, bewege mein Herze durch dich,
    Damit ich Erbarmen und Gütigkeit übe,
    O Flamme der Liebe, zerschmelze du mich!


    2. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
    Ihr Herzen, die ihr euch
    In Stein und Fels verkehret,
    Zerfließt und werdet weich!
    Erwägt, was euch der Heiland lehret;
    Übt, übt Barmherzigkeit
    Und sucht noch auf der Erden
    Dem Vater gleich zu werden!
    Ach! greifet nicht
    Durch das verbot’ne Richten
    Dem Allerhöchsten ins Gericht,
    Sonst wird sein Eifer euch zernichten!
    Vergebt, so wird euch auch vergeben!
    Gebt, gebt in diesem Leben!
    Macht euch ein Kapital,
    Das dort einmal
    Gott wiederzahlt mit reichen Interessen
    Denn wie ihr messt, wird man euch wieder messen!


    3. Aria Alt, Oboe, Streicher, Continuo
    Sei bemüht, in dieser Zeit,
    Seele, reichlich auszustreuen,
    Soll die Ernte dich erfreuen
    In der reichen Ewigkeit,
    Wo, wer Gutes ausgesäet,
    Fröhlich nach den Garben gehet.


    4. Recitativo Bass, Continuo
    Die Eigenliebe schmeichelt sich!
    Bestrebe dich,
    Erst deinen Balken auszuziehen;
    Denn magst du dich üm Splitter auch bemühen,
    Die in des Nächsten Augen sein!
    Ist gleich dein Nächster nicht vollkommen rein,
    So wisse, dass auch du kein Engel,
    Verbess’re deine Mängel!
    Wie kann ein Blinder mit dem ander’n
    Doch recht und richtig wandern?
    Wie, fallen sie zu ihrem Leide
    Nicht in die Gruben alle beide?


    5. Aria Bass, (Streicher), Continuo
    Das ist der Christen Kunst!
    Nur Gott und sich erkennen,
    Von wahrer Liebe brennen,
    Nicht unzulässig richten,
    Noch fremdes Tun vernichten,
    Des Nächsten nicht vergessen,
    Mit reichem Maße messen!
    Das macht bei Gott und Menschen Gunst,
    Das ist der Christen Kunst!


    6. Choral SATB, Oboe, (Trompete), Streicher, Continuo
    Ich ruf’ zu dir, Herr Jesu Christ,
    Ich bitt’, erhör’ mein Klagen,
    Verleih’ mir Gnad’ zu dieser Frist,
    Lass mich doch nicht verzagen;
    Den rechten Weg, o Herr, ich mein,
    Den wollest du mir geben,
    Dir zu leben,
    Mein’n Nächsten nütz’ zu sein,
    Dein Wort zu halten eben.






    Nach der ebenfalls während Bachs Weimarer Zeit entstandenen Kantate BWV 21, ist auch diese Kantate kurz nach Bachs Amtsantritt als Leipziger Thomaskantor dort wiederaufgeführt worden – und zwar eine Woche nach der erwähnten Kantate BWV 21: Am 4. Sonntag nach Trinitatis (20. Juni 1723), zusammen mit der neuen Kantate BWV 24.
    Wie schon zuvor vermutet, war Bach in den ersten Wochen, die er in seiner neuen Funktion in Leipzig verbrachte, sicher mit vielerlei organisatorischen Dingen vollauf beschäftigt und damit sicher sehr froh über die sich erneut bietende Gelegenheit, auch für diesen Sonntag bereits eine fertige (ältere) Kantatenkomposition aus eigener Feder vorliegen zu haben, die zwar vor Ort noch einstudiert, aber immerhin nicht mehr komplett neu komponiert werden musste. Die Komposition der Kantate BWV 24, die im zweiten Teil des Gottesdienstes (also nach der Predigt) aufgeführt wurde, nahm sicher schon genügend Zeit in Anspruch.


    Diese Kantate könnte auch zu Bachs Weimarer Zeit schon eine erneute Aufführung erlebt haben, da das Werk bereits in seiner Weimarer Fassung in zwei verschiedenen Tonarten existiert.


    Die vier Gesangssolisten, die die Kantate bestreiten, könnten theoretisch auch direkt den Schlusschoral in solistischer Besetzung singen. Somit wäre für die Aufführung dieser Kantate noch nicht einmal ein Chor vonnöten.


    Überhaupt ist die Orchesterbesetzung für diese Kantate denkbar knapp ausgefallen: Neben dem Continuo und dem Streichensemble schreibt Bach lediglich eine zusätzliche Oboe vor.
    Für die Leipziger Wiederaufführung hat er dann aus der Oboenstimme im Eingangsduett eine Trompetenstimme gemacht – eventuell, um die Kantate nachträglich instrumentatorisch ein bisschen aufzuwerten???
    Egal – ob nun Oboe oder Trompete: Das Blasinstrument hat in diesem Duett jedenfalls die Aufgabe, die Melodie des Schlusschorals Nr. 6 bereits im ersten Satz der Kantate erklingen zu lassen und damit eine kunstvolle Gegenstimme zu den Gesangslinien der beiden Vokalsolisten zu bilden.


    Ebenso hat Bach in der Leipziger Wiederaufführungs-Fassung dieser Kantate das Streichensemble als Verstärkung der Continuo-Stimme in der Arie Nr. 5 hinzugenommen, auch hier vermutlich, um die deutliche Kargheit der Weimarer Fassung etwas üppiger erscheinen zu lassen.
    Der Grund für die etwas „sparsamere“ Weimarer Kantatenfassung dürfte in den dort räumlich deutlich beengteren Verhältnissen liegen, die eine größere Orchesterbesetzung nicht erforderlich erscheinen ließen, bzw. gar nicht ermöglichten.


    Der Text der Kantate stammt wieder einmal (wie die Texte der meisten Weimarer Bach-Kantaten) von Salomon Franck, der sich in seiner Dichtung besonders eng an das Evangelium des heutigen Sonntags hält – ich empfehle wirklich zum besseren Verständnis aller Bach-Kantaten die angegebenen Bibelstellen (am besten in einer traditionellen Luther-Übersetzung, wo sich viele der in den Kantatentexten enthaltenen Formulierungen im Zusammenhang wiederfinden), da man die zahlreichen Anspielungen in den vertonten Texten dann oft viel besser nachvollziehen kann. Ohne eine solche Lektüre dürften z. B. in dieser Kantate Stellen wie die mit den „Balken“ und „Splittern“ in den Augen (im Rezitativ Nr. 4) wohl eher ein Stirnrunzeln hervorrufen...
    Die etwas seltsam anmutende Formulierung aus dem Rezitativ Nr. 2:

    "Macht euch ein Kapital,
    Das dort einmal
    Gott wiederzahlt mit reichen Interessen“


    könnte man sich vielleicht aus dem Englischen herleiten: Dort bedeutet „interest" (unter anderem) ja auch „Zinsen“, so dass ich mal vermuten möchte, dass Herr Franck die Formulierung mit den „reichen Interessen“ sicher im Sinne einer (symbolischen) Zinszahlung verwendet hat, zumal er unmittelbar zuvor ja auch den Begriff „Kapital“ verwendet. Vielleicht sprach man im frühen 18. Jahrhundert ja auch in Deutschland mitunter noch von „Interesse“, wenn man sich über Zinsen unterhielt?


    Das wiederum fände ich nun sehr interessant... :D

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)