John Eliot Gardiner - Beethovenzyklus als Referenz ?

  • Liebe Forianer


    Wie unschwer zu bemerken ist, plane ich zusätzlich zum Allgemeinen Beethovenzyklusthread und sen Threads über einzelne Beethoven Sinfonien
    SPEZIELLE Beethovenzyklustreads - verschiedenen Dirigenten zugeordnet.
    Es ist dies ein Langzeitprojekt das keine Eile hat, im Titel wird steets das Wort Beethovenzyklus vorkommen - damit man mit der Suchfunktion die einzelnen Threads zuverlässig finden kann.


    Interessanterweise sind die Ergebnisse eines solchen Themas andere, als beim Befassen mit Einzelsinfonien, oder Threads über alle Aufnahmen eines Dirigenten - der Fokus der Fragestellung liegt woanders - und daher werden auch andere Antworten kommen......


    Heute möchte ich den bei seinem Erscheinen hochgelobten (aber welcher Beethovenzyklus wurde bei seinem Erscheinen nicht hochgelobt ?)Zyklus aller Beethoven Sinfonien unter J.E. Gardiner zur Diskussion stellen.


    Einst das Aushängeschild der Archiv-Produktion ist es etwas still um diese Vozeige-Aufnahmen geworden, in vielen Klassikläden findet man sie nur noch als Box, und sie sind einzeln nur teilweise zu haben.



    Seit ihrem Erscheinen ist zugegebenermaßen einige Zeit vergangen, aber der alte Karajan-Zyklus steht seit nunmehr fast 50 !! Jahren wie ein Fels in der Brandung....


    Gardiners Aufnahme hat ja eine Menge Konkurrenz bekommen (einige Zyklen werden später in eigenen Threads besprochen), sei es der Zyklus Norrington1 oder Norrington 2, jener von Zinman oder Harnoncourt.


    Ich muss mich nun an die Kenner dieses Zyklus wenden wenn ich frage:
    Was macht für Euch das Besondere an dieser Aufnahme aus - wo liegen ihre Staärken - wo ihre Schwächen ?


    viel Spaß mit diesem Thread


    wünscht Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    ich finde das eine sehr gute Idee, einen Zykluszyklus zu starten, da ich seit jeher gerne Beethovensinfonien dazu heranziehe, um mir ein Bild von Dirigenten zu machen, die ich noch nicht so richtig einschätzen kann.


    Kann einiges zu Toscanini, Wand, Gardiner, Klemperer, ... beitragen


    Über den Gardiner-Zyklus bin ich damals erst intensiv zur Klassik gekommen und vor allem auch zu der Marotte, von ein und dem selben Werk x Aufnahmen anzusammeln. Auch hat mich Gardiners "Ansprache" auf der Bonus-CD von HIP-Orchestern überzeugt.


    Gardiners Zyklus finde ich wesentlich angenehmer und entspannter als der so euphorisch begrüßte Zinman-Zyklus, der für mich einfach nur "schnell" klingt. Iteressant wäre ein Vergleich zu Norringtons erstem Zyklus, den ich aber nur vom leihweise Hören her kenne. Bevor ich jetzt allerdings richtig ins Thema einsteige, muß ich erst noch mal eine Hörsitzung machen.

  • Lieber Alfred,
    mich haben diese Scheiben damals echt vom Hocker gehauen.
    Dabei dachte ich mit Harnoncourt (kurz vorher zugelegt ;)) auf der sicheren Seite zu sein.


    Das erste was mir positiv auffiel war natürlich wieder die Orchesteraufstellung.
    Bei Gardiner antiphonal bei Harnoncourt amerikanisch.


    So erlebte ich seit Klemperer die Sym. in dieser aufregenden Version mit allen einkomponierten Effekten.
    Meiner Meinung nach ist das bei allen *normalen* Aufnahmen ein Manko.


    Ich möchte die Box nicht mehr missen.
    Zur Interpretation kann ich nur sagen mich hat das schwer berührt,
    so könnte es damals wirklich geklungen haben.
    Mittlerweile gibts doch einige vielversprechende Alternativen.


    Norrington hat mich auch gereizt aber bisher kein Beethoven von ihm auf CD
    zugelegt.


    Natürlich besitze ich auch andere Aufnahmen, Wand, Zinman, Szell, Klemp und Harnoncourt hab ich ja schon erwähnt, komplett.
    Und jede Menge Einzelaufnahmen, der bekannten Größen...


    Gielens Beethoven werde ich auch komplettieren aus den gleichen Gründen.



    Gruß
    embe


  • Hallo,


    - in keiner Beethoven-Aufnahme wurden die Pauken so wunderbar von der Tontechnik eingefangen, wie in der von Gardiner.


    - zum ersten Mal hörte ich so etwas wie 'Freude' im Chor bei einer neunten


    - konsequente und überzeugende Umsetzung der Tempi von Beethoven.


    - hervoragende Durchhörbarkeit.


    Gruß
    Jörg

  • Referenzeinspielung?, generell? – Nein, dafür ist das Spektrum der daneben vorhandenen maßgeblichen Gesamteinspielungen (z. B. Walter, Karajan (60er/80er), Klemperer, Szell, Bernstein, Wand) zu differenziert.


    Referenzeinspielung unter den HIP-Zyklen? – Ich sehe das so.


    Stärken? – Viele! Z. B.:
    - Keine Manierismen (bei Harnoncourt z. B. Bläserlastigkeit und unerklärliche Temporückungen).
    - Das technisch außerordentliche Spiel des Orchesters (z. B. im 1. Satz und im Finale der 5. und vor allem auch im Finale der 7. – atemberaubend!).
    - Die durchgängige Transparenz und Prägnanz (z. B. im 1. Satz der 8. – ebenfalls atemberaubend!).
    - Der Versuch, sich grundsätzlich an den Metronomvorgaben zu orientieren.


    Schwächen? – Kaum! Vielleicht diese:
    - Insgesamt etwas zu motorisch, was mitreißt, aber auf Kosten der Phrasierung geht (z. B. im 1. Satz der 5. – Stichwort „Motiv-Dauerfeuer“), wobei letzteres wohl zum Teil auch den historischen Instrumenten geschuldet ist.
    - Hier und da, ist das Tempo so hoch, dass der Sinn der Musik unterzugehen droht (z. B. im 2. Satz der 5. oder im Scherzo und Finale der 3.).
    - In den langsamen Sätzen wirkt die Musik manchmal zu „trocken“ und zu wenig balanciert (z. B. im 2. Satz der 5.).
    - Persönlich werde ich mich nie an Gardiners grotesk klingenden Marsch im Finale der 9. gewöhnen können.


    Die Einspielung Gardiners wird sich meines Erachtens dauerhaft im Kreis der herausragenden Einspielungen halten, weil sie auf ihre Weise sehr gelungen ist. Die Sonderstellung, die ihr von manchen nach ihrem Erscheinen zugesprochen wurde und die als natürlicher Reflex auf die erdrückende Dominanz der Klangvorstellungen eines Karajan oder Bernstein über die vorangegangenen Jahrzehnte hinweg zu verstehen ist, wird sich allmählich verflüchtigen, so wie sich der „HIP-Hype“ derzeit wohl schon wieder abflacht.


    Loge

  • Dazu muß man sagen, was man unter Referenzaufnahme alles versteht.


    Auf jeden Fall ist es eine der besten Serien. Man kann sich sicher die eine oder andere Symphonie noch besser finden, ich z. B. die Eroika durch das Ensemble Grossmann oder die 7. von C.Kleiber.


    Aber so verschiedene Werke, die so unterschiedlichen Charakter haben, nicht über einen Leisten geschlagen zu haben, sondern jede mit der gleichen Sorgfalt gespielt, das ist schon besonders gut.


    Mir gefällt der transparente Klang und das Tempo.
    Die 3. ist nicht weit weg von meiner absoluten Lieblingsaufnahme (s.o.), ähnliches Tempo.


    Gestern habe ist, aus Anlaß dieses Threads, den 2. Satz der 3. Symphonie verglichen ( Klemperer, Abbado, Bernstein, Karajan, Wand, Norrington (Stuttgart), Leibowitz,Zinman, Harnoncourt - geht mit iPod einfach), am besten, gefällt mir der Marcia funebre bei Gardiner und Grossman mit seinem kleinen Ensemble von 28 Musikern.
    Er kommt nicht dröhnend, schwer, triefend von Leid daher, sondern eher rhythmisch, leicht, man kann die einzelnen Stimmen gut hören. die Melodielinien, die herrlichen Harmonien in ihrer Vielstimmigkeit wahrnehmen. Es ist für mich sowieso, die schönste Musik, die ich kenne.


    Ähnliches gilt für den 2. Satz der 7.Symphonie: tänzerisch, luftig. Da ist es bei C.Kleiber ähnlich. Was gibt es da für pathetische, langweilige Interpretationen.
    Beethoven hat sich bei seinen Metronomangaben doch etwas gedacht, das kann man doch nicht einfach ignorieren, wenn ich auch nicht für sklavisches Befolgen des auf den Punkt genauen Tempos bin.


    Als Gesamteinspielung - alle zusammen - bestimmt (auch wenn die Euphorie sich gelegt hat), eine der besten Einspielungen. Was Loge im einzelnen gesagt hat, kann ich bestätigen.



    Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Hallo,


    Schade, dass dieser Thread nach ein paar Kommentaren wieder eingeschlafen ist. Mir scheint, dass die Gardiner-Aufnahmen nicht allzu weit verbreitet sind: In den Threads zu den einzelnen Symphonien wird Gardiner von einzelnen hoch gelobt, von vielen aber gar nicht genannt.


    Das macht es schwer zu beurteilen, ob er denn wirklich so gut ist, wie er teuer ist. Ich suche noch nach einer "anderen" Beethoven-Gesamteinspielung, habe aber so lange gewartet, bis der ebenfalls teure Leibowitz nirgends mehr verfügbar ist und Harnoncourt nur noch im Paket mit Klavierkonzerten etc. .


    Im Fokus stehen 1, 3, 9, die ich bisher "nur" mit Karajan habe (und mir daher von einer anderen Lesart viele neue Erkenntnisse verspreche), 6, die mir mit Abbado etwas langweilig daherkommt, und 2, von der ich gar keine eigene Einspielung besitze. Könntet Ihr Gardiner-Besitzer speziell etwas zu der Qualität der genannten Symphonien bei Gardiner sagen (so noch nicht geschehen)?



    Gruß,
    Spradow.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Mir scheint, dass die Gardiner-Aufnahmen nicht allzu weit verbreitet sind


    Ich glaube, das Problem ist wirklich der Preis - wenn man bereits etliche Gesamtaufnehmen der Beethoven-Symphonien sein eigen nennen darf, dann ist die Motivation natürlich gering, sich die x. GA für solch Haydn-Geld zu kaufen... ;)


    Interesse besteht ja, aber z.B. mit [size=7]Harnoncourt[/size] hab ich schon eine interessante HIP-Einspielung...


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von Spradow
    Das macht es schwer zu beurteilen, ob er denn wirklich so gut ist, wie er teuer ist. Ich suche noch nach einer "anderen" Beethoven-Gesamteinspielung, habe aber so lange gewartet, bis der ebenfalls teure Leibowitz nirgends mehr verfügbar ist und Harnoncourt nur noch im Paket mit Klavierkonzerten etc. .


    Im Fokus stehen 1, 3, 9, die ich bisher "nur" mit Karajan habe (und mir daher von einer anderen Lesart viele neue Erkenntnisse verspreche), 6, die mir mit Abbado etwas langweilig daherkommt, und 2, von der ich gar keine eigene Einspielung besitze.?


    Die Nr. 1 und 2 fehlen mir, den Rest von Gardiners Beethovenwelt nenne ich mein eigen.
    Prinzipiell zeichnet die Einspielungen halt aus:
    Frische Tempi, die sich an Beethovens Metronomangaben orientieren (die langsamen Sätze ein wenig gemäßigter als Zinman oder gar Norrington), tolle Durchhörbarkeit, überhaupt sehr gute Orchesterleistung, keine Manierismen, und eine sehr gute Aufnahmenqualität.


    Die Sechste habe ich gerade mal wieder gehört. Das ist die Sinfonie, die ich mir unter Gardiner am seltensten anhöre, da ich bei dieser Sinfonie eigentlich langsamere Tempi bevorzuge.
    Dennoch, die Szene am Bach fand ich so auch sehr stark, da hört man es glatt ein wenig plätschern. ;-) Das Scherzo, wie so ziemlich alle schnelleren Sätze, bringt Gardiner schön zur Geltung. Auch das Gewitter klingt prima, allerdings ist bei diesem Satz Norringtons etwas rauherer Zugang kraftvoller.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Das macht es schwer zu beurteilen, ob er denn wirklich so gut ist, wie er teuer ist. Ich suche noch nach einer "anderen" Beethoven-Gesamteinspielung, habe aber so lange gewartet, bis der ebenfalls teure Leibowitz nirgends mehr verfügbar ist und Harnoncourt nur noch im Paket mit Klavierkonzerten etc. .


    ...


    Im Fokus stehen 1, 3, 9, die ich bisher "nur" mit Karajan habe (und mir daher von einer anderen Lesart viele neue Erkenntnisse verspreche), 6, die mir mit Abbado etwas langweilig daherkommt, und 2, von der ich gar keine eigene


    Das gehört zwar nicht in diesen thread, aber sag doch einfach mal, was Du bisher hast?


    Zitat


    Einspielung besitze. Könntet Ihr Gardiner-Besitzer speziell etwas zu der Qualität der genannten Symphonien bei Gardiner sagen (so noch nicht geschehen)?


    Ich habe hiervon auch nur 5 und 7, da ich schon ziemlich viele Zyklen habe und mir der Ganze zu teuer war. Ich habe die jetzt nicht präsent, aber Gardiner ist, wie er praktisch immer ist: flott, transparent, "perfekt", etwas glatt (von der Rauhigkeit mancher HIP-Aufnahmen ist nichts zu merken). Gewiß sehr gut, aber vielleicht nicht wirklich spannend (das soll kein abschließendes Urteil sein, weil ich den Rest nicht kenne)
    Du bekommst für das Geld vermutlich Norringtons auf EMI/Virgin und Harnoncourts zusammen. Und das würde ich einem Einsteiger auch eher raten, als 60 oder 80 EUR für Gardiner auszugeben.
    Oder wenn Du alle schon irgendwie hast, Einzelaufnahmen. Z.B. Bernsteins Eroica mit dem NYPO (Sony). Die enthält die Wdh. und dürfte HvK auch sonst wegblasen. Was spricht gegen die "große" Box mit Harnoncourt? Du erhältst außer dem spannenden Sinfonie-Zyklus, sehr gute Aufnahmen der Ouverturen, Missa und nicht zuletzt eine relative Rarität, das Prometheus-Ballett.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Gardiners Aufnahme hat ja eine Menge Konkurrenz bekommen (einige Zyklen werden später in eigenen Threads besprochen), sei es der Zyklus Norrington1 oder Norrington 2, jener von Zinman oder Harnoncourt.


    Den jünsten Abbado-Zyklus kann man m. E. auch noch hinzufügen. Zwar nicht auf Originalinstrumenten, aber doch in einem ähnlichen Geist aufgenommen.


    Gardiner als Referenz... Für mich steht er halt für Interpretationen, die sich möglichst nahe an dem orientieren, was Beethoven wohl gewollt hat. Dafür sind diese Aufnahmen für mich tatsächlich eine Referenz. Durchhörbarket, Klangfarben, Aufnahmetechnik und auch das Dirigat, alles topp. In den Ecksätzen gefällt mir Norrington gelegentlich noch ein wenig besser, aber vor allem die langsamen Sätze dirigiert er viel zu schnell. Und die Klangqualität spricht schon recht klar für Gardiner.


    Aber das ist halt bei weitem nicht die einzige Zugangsmöglichkeit zu Beethovens Sinfonien. Das andere Extrem ist wohl Furtwängler, bei dem das Erleben, das Mitfühlen der Musik über alles stand.
    Und dazwischen gibt es auch noch etliches, das ich nicht missen möchte (Giulinis ältere Einspielungen, insbesondere).

  • Zur Zeit höre ich den Zyklus von Blomstedt, habe bis zur Nr. 4 gehört.


    Da das mit dem iPod möglich ist, habe ich dann gleich anschließend, sozusagen als Erholung, den entsprechenden Satz gleich noch einmal von Gardiner gehört.


    Es sind 2 Welten.


    Blomstedt dirigiert die Dresdner nach der mir von Kindheit an vertrauten Weise, die auch vom Gewandthaus gepflegt wird: behäbig, bodenständig, voluminös, ohne Witz - ich möchte sagen, "treudeutsch ordentlich".


    In der Exposition des 1. Satzes der 4 Symphonie kommt eine rhythmische Linie bei den Bässen, auf die ich immer warte - hier kaum zu hören, verwaschen.
    Da ist dann Gardiner für mich die Referenz, so gefällt es mir.


    Gardiners Missa Solemnis ist auch eine Offenbarung. Der Symphonienzyklus - sonst bei anderen Gesamtaufnahmen verschieden, mal gut, mal weniger - ist durchgängig gut.
    Die beschriebene merkwürdige Marschstelle in der 9. werde ich mir anhören.


    Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Zu Gardiners gelungenem Beethoven-Zyklus habe ich mich weiter oben schon geäußert. Deshalb hier nur eine kurze Erwiderung auf Johannes Roehl:


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Oder wenn Du alle schon irgendwie hast, Einzelaufnahmen. Z.B. Bernsteins Eroica mit dem NYPO (Sony). Die enthält die Wdh. und dürfte HvK auch sonst wegblasen.


    Ein Lüftchen wär's ;). Die Wette würde ich annehmen. An anderer Stelle hatte ich zur großartigen Karajan-Eroica aus der 80er-Serie



    unter dem unmittelbaren Höreindruck einmal geschrieben:


    Die großartigste Eroica-Einspielung auf dem Markt. Kein Ego-Trip, sondern ein Dokument objektiver Werkinterpretation und vollendeter Orchesterkultur. Der Kopfsatz erscheint wie ein Hochseil gespannt. Schon die beiden Tutti-Akkorde zu Beginn erzeugen hier mehr an Innenspannung als andere Dirigenten während des gesamten ersten Satzes nicht zu entwickeln vermögen. Einmalig und seither nicht mehr erreicht ist das Maß an sinnfälliger und abgestimmter Ausgestaltung der musikalischen Entwicklung. Wenn es Karajan auch nicht darum geht, einzelne Motive herauszustellen, ist das Spiel gleichwohl durchgehend außerordentlich transparent. Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll, über das virtuose, beinahe sportiv-kraftvolle Zusammenspiel von Dirigent und Orchester oder über die Aufnahmetechnik, die alle Einzelheiten einzufangen vermag. In der Coda des mächtigen Kopfsatzes entwickelt der im Zeitpunkt der Aufnahme innerhin 76-jährige Dirigent mit seinem Orchester eine solch ausgelassene, mitreißende Spielfreude und unwiderstehliche Wucht, dass man meint, förmlich überrollt zu werden. Auch die übrigen Sätze sind unvergleichlich kultiviert dargebracht. Man kann nur staunen.


    Zugegeben, das klingt schwärmerisch und enthält ein paar Superlative, die sich bei nüchterner Betrachtung eigentlich verbieten sollten, gleichwohl bleibe ich im Ganzen dabei. In Bezug auf Bernstein würde ich (aus der fernen Erinnerung heraus) ergänzen, dass auch dieser "ein Händchen" gerade für die Eroica hatte. Insgesamt ist aber - um mit Nietzsche zu sprechen - Bernsteins ausgesprochen subjektiv-gefühlter dionysischer Ansatz ein völlig anderer als der apollinische Ansatz Karajans.


    Loge

  • In meinem Beitrag möchte ich die Frage beantworten, ob Gardiners GA der Beethoven—Symphonien die für die berühmte Insel ist. Die Antwort ist notwendig subjektiv und lautet nein.


    Einige Vorzüge der Einspielung, die auch ich als solche empfinde, sind im Thread schon genannt worden:


    - gute Aufnahmetechnik
    - gute Transparenz und Prägnanz
    - fabelhaftes Spiel des Orchesters
    - deutsche Orchesteraufstellung und Beachtung der Wiederholungen
    - in der 9. sehr gute Sänger und eine erstklassige Chorleistung



    Zwei weitere, mehrmals genannte Vorzüge sind:


    - schlank und ohne Manierismen
    - schnelle Tempi , orientiert an den Metronomangaben Beethovens



    Diese beiden Elemente sind für mich nicht zwingend, es kommt darauf an, ob sie in die Gesamtinterpretation passen. Im Falle Gardiners bilden sie zusammen mit den obigen Punkten ein grundsätzlich einheitliches Gesamtbild. Ich stand, das gebe ich offen zu, der Aufnahme skeptisch gegenüber, als ich sie bei Ebay gebraucht kaufte. Nach längerer Zeit und mehrfachem Hören ist mein Gesamteindruck deutlich positiver als erwartet.


    Was mich jedoch stört ist der allzu polierte, kühle Eindruck, den die Aufnahme macht, Beethoven mit Klimaanlage sozusagen. Mir fehlt die Musikalität, das Bewußtsein Gardiners dafür, dass hinter den Noten noch mehr steckt, etwas, das Beethoven mit den Noten ausdrücken wollte. Mindestens die Eroica, die 5. und die 9.Symphonie benötigen für meinen Geschmack einen Schuß Menschheitspathos und Größe.


    Jedesmal wenn ich Gardiner höre, entstehen vor meinen Augen Bilder von Bauten des englischen „ Greek Revival“,
    zB des Downing College in Cambridge,





    des Dodington Park





    oder dieses Gebäudes




    Durch die Bilder wird vielleicht deutlich, was gemeint ist. Auch das weiter oben im Thead gebrachte Gegensatzpaar dionysisch – apollinisch trifft es recht gut. Gardiners Beethoven ist apollinisch kühl und elegant.


    Der 1. und 2. Symphonie bekommt dieser Zugriff freilich sehr gut. Auch bei der 7. und 8. mache ich kaum Abstriche, vor allem, wenn ich sie mit den schauderhaften, aber hochgelobten Aufnahmen der gleichen Symphonien von Zinman vergleiche (noch letzte Woche im Auto gehört).


    Die 6. Symphonie habe ich derzeit nicht mehr 100% im Ohr. Wenn ich restlos begeistert bzw. enttäuscht gewesen wäre, wäre mir das aber im Gedächtnis geblieben.


    Die 3., 5. und 9. sind, auch wegen des teils übermässig schnellen Tempos, aber vor allem aus den bereits genannten Gründen, enttäuschend. Dass es sich mindestens bei der 3. und 9 um Meisterwerke der Symphonie auf einsamer Höhe handelt, bleibt für meinen Geschmack bei Gardiner auf der Strecke. Brüggen (um bei HIP zu bleiben) macht das wesentlich besser, von Furtwänglers Eroica aus 1944 und 9. aus 1942 gar nicht zu reden. Auch Leibowitz (9. mit dem RPO!) ist bei diesen Symphonien der bessere Dirigent.


    Bei der 4. bin ich mir selbst noch unschlüssig, aber schließlich ist die Betrachtung der Beethovenschen Symphonien kein Ranking für die Top Ten. Ich lasse mir Zeit.


    Insgesamt eine interessante, spannende, und bei einigen Symphonien sogar beglückende Hörerfahrung, von der ich nur die 3. und die 9. komplett ausnehme. Als HIP-GA ist Brüggen allerdings überlegen.

  • Sagitt meint:


    Es gab Zeiten, da hörte ich nur HIP-Aufnahmen der Sinfonien, Kleiber ausgenommen, ob es nun Hogwood oder Norrington 1 waren. Die waren ja vor Gardiner.


    Ich finde die Bebilderung sehr passend. Genau so kommt mir Gardiner vor. Weniger "lebendig" als Hogwood,Norrington, auch Brüggen, dafür mehr Klassische Klarheit, aber auch sehr straff.


    Ich höre die vierte lieber von Norrington 1, die dritte aber lieber von Gardiner.
    Da sind mir die anderen zu transparent, zu wenig kompakt mächtig.
    Wenn ich nun die Dritte mit Scherchen höre, lege ich allerdings auch Gardiner weg.


    Inzwischen, ist es das Alter, kommen mir Aufnahmen der Traditionellen mit grossen Orchester wieder hörenswerter vor. Bernstein zB, aber vor allem die Aufnahmen von Furtwängler aus dem Krieg, die 7te vom 3.11.1943 oder die neunte von 1942- einfach Wahnsinnsinterpretationen. So existientiell- da kommt auch ein Gardiner mit seinem straffen Spiel nicht mit.Bei den Furtwängler-Aufnahmen denke, da spielen Menschen um ihr Überleben. Furtwängler steht unter Hochspannung und gibt diese an die Musiker weiter. Gleiches konnte Scherchen mit den Wiener auch erzeugen, bis hin zur Unsauberkeit-egal, es reisst mit.

  • Nach exakt drei Jahren (und einen Tag) sei der Thread entstaubt und angemerkt, daß der Gardiner-Zyklus sehr preisgünstig neu aufgelegt wurde:


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Inzwischen, ist es das Alter, kommen mir Aufnahmen der Traditionellen mit grossen Orchester wieder hörenswerter vor. Bernstein zB, aber vor allem die Aufnahmen von Furtwängler aus dem Krieg, die 7te vom 3.11.1943 oder die neunte von 1942- einfach Wahnsinnsinterpretationen. So existientiell- da kommt auch ein Gardiner mit seinem straffen Spiel nicht mit.Bei den Furtwängler-Aufnahmen denke, da spielen Menschen um ihr Überleben. Furtwängler steht unter Hochspannung und gibt diese an die Musiker weiter. Gleiches konnte Scherchen mit den Wiener auch erzeugen, bis hin zur Unsauberkeit-egal, es reisst mit.


    Absolut meine Meinung. Nichts gegen Gardiner - ich besitze viele CDs von ihm und schätze ihn. Aber Referenz bei Beethoven ist niemand anderes als Furtwängler. Aus exakt den Gründen, die Du nennst, lieber sagitt.

  • Hallo Swjatoslaw,


    Furtwängler ist durchaus vertreten in meiner Sammlung, bis auf zwei Naxos-Aufnahmen von der 9. und vom Fidelio besitze ich aber keine Beethoven-Aufnahmen von ihm, ein Zustand, den ich gerne ändern würde, bis dato aber aus Angst vor aufnahmetechnischen Nieten nicht gemacht habe.
    Daher erlaube ich mir, dich als Furtwängler-Experten zu fragen, welche Aufnahmen du konkret zur Erstellung eines Beethovenzyklus dieses großen Dirigenten empfehlen kannst.


    Beste Grüße
    John Doe

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Hallo Swjatoslaw,
    Furtwängler ist durchaus vertreten in meiner Sammlung, bis auf zwei Naxos-Aufnahmen von der 9. und vom Fidelio besitze ich aber keine Beethoven-Aufnahmen von ihm, ein Zustand, den ich gerne ändern würde, bis dato aber aus Angst vor aufnahmetechnischen Nieten nicht gemacht habe.
    Daher erlaube ich mir, dich als Furtwängler-Experten zu fragen, welche Aufnahmen du konkret zur Erstellung eines Beethovenzyklus dieses großen Dirigenten empfehlen kannst.


    Wenn ich das in diesem Thread darf? Es ist ein bisschen Definitionssache, ob dies hier ein "John Eliot Gardiner"-Thread ist oder ein "Welcher Beethovenzyklus als Referenz?"-Thread.


    Eine Auflistung aller verfügbaren Furtwängler-Aufnahmen von Beethoven-Sinfonien findest Du hier:
    http://fischer.hosting.paran.c…gler-discography.htm#No.1


    Die vermutlich beste Aufnahme einer Beethoven-Sinfonie durch Furtwängler hast Du möglicherweise bereits: dies ist m.E. die Neunte mit Tilla Briem, Elisabeth Höngen, Peter Anders, Rudolf Watzke, dem Bruno-Kittel-Chor und den Berliner Philhilharmonikern (rec. live Berlin 22.-24.3.1942). Grandios finde ich auch die Fünfte mit dem Orchestra Sinfonica di Roma della RAI (rec. live Rom 10.1.1952). Eigentlich finde ich alle Live-Aufnahmen Furtwänglers aus der Zeit ab 1942 mustergültig, während ich die frühen Studioaufnahmen (z.B. die beiden Studio-Versionen der Fünften aus dem Jahr 1929 und vom November 1937) wie auch den EMI-Studio-Zyklus der 50er Jahre (welcher allerdings nicht vollendet wurde: für die EMI-Box mit "allen Neunen" musste daher bei der Zweiten, der Achten und der Neunten auf Live-Material zurückgegriffen werden) nicht für eine Furtwängler-"Grundausstattung" empfehlen würde. Vielleicht darf ich, lieber John, für alles Weitere auf zwei Postings von mir verlinken, die ich in einem anderen Thread mal zu diesem Thema geschrieben habe?
    Früher war alles besser ... - die Alten leben hoch !!
    Früher war alles besser ... - die Alten leben hoch !!

  • Hallo Swjatoslaw,


    in Anbetracht der Tatsache, dass wir da jetzt keine große Diskussion darausmachen, wird´s uns die Administration schon verzeihen!
    Auf jeden Fall Danke für deine rasche Antwort.


    Viele Grüße
    John Doe