BWV 170: Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust
Kantate zum 6. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 28. Juli 1726)
Lesungen:
Epistel: Röm. 6,3-11 (Durch Christi Tod sind wir der Sünde gestorben)
Evangelium: Matth. 5,20-26 (Aus der Bergpredigt: Die bessere Gerechtigkeit der Christen gegenüber der Gesetzeserfüllung der Schriftgelehrten und Pharisäer)
Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 24 Minuten
Textdichter: Georg Christian Lehms (1684-1717), aus dessen Kantatenjahrgang von 1711
Besetzung:
Solo: Alt; Oboe d’amore, Orgel, (Traversflöte), Violino I/II, Viola, Continuo
1. Aria Alt, Oboe d’amore, Streicher, Continuo
Vergnügte Ruh’! beliebte Seelenlust!
Dich kann man nicht bei Höllensünden,
Wohl aber Himmelseintracht finden;
Du stärkst allein die schwache Brust,
Vergnügte Ruh’! beliebte Seelenlust!
Drum sollen lauter Tugendgaben
In meinem Herzen Wohnung haben.
2. Recitativo Alt, Continuo
Die Welt, das Sündenhaus,
Bricht nur in Höllenlieder aus
Und sucht durch Hass und Neid
Des Satans Bild an sich zu tragen.
Ihr Mund ist voller Ottergift,
Der oft die Unschuld tödlich trifft,
Und will allein von Racha! Racha! sagen.
Gerechter Gott, wie weit
Ist doch der Mensch von dir entfernet;
Du liebst, jedoch sein Mund
Macht Fluch und Feindschaft kund
Und will den Nächsten nur mit Füßen treten.
Ach! diese Schuld ist schwerlich zu verbeten.
3. Aria Alt, Orgel, Streicher
Wie jammern mich doch die verkehrten Herzen,
Die dir, mein Gott, so sehr zuwider sein:
Ich zitt’re recht und fühle tausend Schmerzen,
Wenn sie sich nur an Rach’ und Hass erfreu’n!
Gerechter Gott, was magst du doch gedenken,
Wenn sie allein mit rechten Satansränken
Dein scharfes Strafgebot so frech verlacht!
Ach! ohne Zweifel hast du so gedacht:
Wie jammern mich dich die verkehrten Herzen!
4. Recitativo Alt, Streicher, Continuo
Wer sollte sich demnach
Wohl hier zu leben wünschen,
Wenn man nur Hass und Ungemach
Vor seine Liebe sieht.
Doch, weil ich auch den Feind
Wie meinen besten Freund
Nach Gottes Vorschrift lieben soll,
So flieht
Mein Herze Zorn und Groll
Und wünscht allein bei Gott zu leben,
Der selbst die Liebe heißt.
Ach! eintrachtvoller Geist,
Wenn wird er dir doch nur
Sein Himmelszion geben?
5. Aria Alt, Oboe d’amore, Orgel (oder Traversflöte), Streicher, Continuo
Mir ekelt mehr zu leben,
Drum nimm mich, Jesu, hin!
Mir graut vor allen Sünden,
Lass mich dies Wohnhaus finden,
Woselbst ich ruhig bin.
Eine Woche nach der Kantate BWV 88 hat Bach diese Kantate im Juli 1726 erstmals aufgeführt. Sie gehört zu den relativ selten in seinem Oeuvre enthaltenen Solo-Kantaten: Außer einem Solo-Alt wird in diesem Werk keine weitere Gesangsstimme gefordert, auch eine Beteiligung des Chores fehlt völlig.
Sicher stellte eine solche Kantate für Bachs Leipziger Publikum eine interessante (weil eben wohl dosiert eingesetzte) Abwechslung dar. Allerdings bedurfte es eines guten Solisten (zur damaligen Zeit dürfte keine Sängerin diese Kantate in der Kirche dargeboten haben!), der diese Kantate überzeugend interpretiert – immerhin ist er für gut 20 Minuten alleiniger vokaler Gestalter, der seinem Publikum eine abwechlsungsreiche künstlerische Leistung rüberbringen muss und es nicht ermüden oder langweilen will...
Alfred Dürr vermutet übrigens, dass Bach diese Kantate in Kombination mit einer Kantate seines Vetters Johann Ludwig Bach (der auch als der „Meininger Bach“ bekannt geworden ist) aufgeführt haben könnte.
Es erklang im selben Gottesdienst also die eine Kantate vor, die andere nach der Predigt – eine nicht ungewöhnliche Praxis, die Bach unter anderem im Jahr 1723 mit den eigenen Kantaten BWV 185 und BWV 24 schon so praktiziert hatte.
Wie häufiger bei Kantatentexten von Georg Christian Lehms (aber selbstverständlich auch denen anderer barocker Dichter) ist eine zeittypische Verachtung des irdischen Daseins, verbunden mit einer gewissen Todes- und Jenseitssehnsucht nicht zu übersehen. Vor allem die Arie Nr. 5 wartet hier textlich mit für unsere heutigen Ohren doch eher ungewohnten Formulierungen auf...
Sehr idyllisch – oder dem Text entsprechend „vergnügt“ – geht es in der Arie Nr. 1 zu, wo zu schmeichelnden Oboen- und Streicherklängen im wiegenden 12/8tel-Takt eine behaglich-pastorale Stimmung hervorgerufen wird.
Wie in der Kantate BWV 146 (die vermutlich ebenfalls im Jahr 1726 aufgeführt wurde), hat Bach auch in der hier besprochenen Kantate die sonst eher unauffällig in der Continuogruppe mitwirkende Orgel aus ihrer Begleiterrolle befreit und ihr eine Solofunktion in der Arie Nr. 3 zugewiesen. Dass in dieser Arie zusätzlich (und untypischerweise) die restlichen Continuoinstrumente zu schweigen haben, macht diesen Satz in doppelter Hinsicht zu etwas Besonderem.
Die erneut als Solo-Instrument eingesetzte Orgel in der Arie Nr. 5 hat Bach in einer späteren Version dieser Kantate durch eine Traversflöte ersetzt.