Die Bachkantate (114): BWV186: Ärgre dich, o Seele, nicht

  • BWV 186: Ärgre dich, o Seele, nicht
    Kantate zum 7. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 11. Juli 1723)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 6,19-23 (Der Tod ist der Sünde Sold; Gottes Gabe aber ist das ewige Leben)
    Evangelium: Mark. 8,1-9 (Die Speisung der Viertausend)



    Elf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten


    Textdichter: unbekannt (in Teilen von Salomon Franck)
    Choral (Nr. 6 und 11): Paul Speratus (1523)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chorus SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
    Ärg’re dich, o Seele, nicht,
    Dass das allerhöchste Licht,
    Gottes Glanz und Ebenbild,
    Sich in Knechtsgestalt verhüllt,
    Ärg’re dich, o Seele, nicht!


    2. Recitativo Bass, Continuo
    Die Knechtsgestalt, die Not, der Mangel
    Trifft Christi Glieder nicht allein,
    Es will ihr Haupt selbst arm und elend sein.
    Und ist nicht Reichtum, ist nicht Überfluss
    Des Satans Angel,
    So man mit Sorgfalt meiden muss?
    Wird dir im Gegenteil
    Die Last zu viel zu tragen,
    Wenn Armut dich beschwert,
    Wenn Hunger dich verzehrt,
    Und willst sogleich verzagen,
    So denkst du nicht an Jesum, an dein Heil.
    Hast du wie jenes Volk nicht bald zu essen,
    So seufzest du: Ach Herr, wie lange willst du mein vergessen?


    3. Aria Bass, Continuo
    Bist du, der mir helfen soll,
    Eilst du nicht, mir beizustehen?
    Mein Gemüt ist zweifelsvoll,
    Du verwirfst vielleicht mein Flehen;
    Doch, o Seele, zweifle nicht,
    Lass Vernunft dich nicht bestricken!
    Deinen Helfer, Jakobs Licht,
    Kannst du in der Schrift erblicken.


    4. Recitativo Tenor, Continuo
    Ach, dass ein Christ so sehr
    Vor seinen Körper sorgt!
    Was ist er mehr?
    Ein Bau von Erden,
    Der wieder muss zur Erde werden,
    Ein Kleid, so nur geborgt.
    Er könnte ja das beste Teil erwählen,
    So seine Hoffnung nie betrügt:
    Das Heil der Seelen,
    So in Jesu liegt.
    O selig! wer ihn in der Schrift erblickt,
    Wie er durch seine Lehren
    Auf alle, die ihn hören,
    Ein geistlich Manna schickt!
    Drum, wenn der Kummer gleich das Herze nagt und frisst,
    So schmeckt und sehet doch, wie freundlich Jesus ist!


    5. Aria Tenor, Oboe I, Violino I/II, Continuo
    Mein Heiland lässt sich merken
    In seinen Gnadenwerken.
    Da er sich kräftig weist,
    Den schwachen Geist zu lehren,
    Den matten Leib zu nähren,
    Dies sättigt Leib und Geist.


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Ob sich’s anließ, als wollt’ er nicht,
    Lass dich es nicht erschrecken;
    Denn wo er ist am besten mit,
    Da will er’s nicht entdecken.
    Sein Wort lass dir gewisser sein,
    Und ob dein Herz spräch’ lauter Nein,
    So lass dir doch nicht grauen!


    Nach der Predigt


    7. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Es ist die Welt die große Wüstenei;
    Der Himmel wird zu Erz, die Erde wird zu Eisen,
    Wenn Christen durch den Glauben weisen,
    Dass Christi Wort ihr größter Reichtum sei;
    Der Nahrungssegen scheint
    Von ihnen fast zu fliehen,
    Ein steter Mangel wird beweint,
    Damit sie nur der Welt sich desto mehr entziehen;
    Da findet erst des Heilands Wort,
    Der höchste Schatz,
    In ihren Herzen Platz:
    Ja, jammert ihn des Volkes dort,
    So muss auch hier sein Herze brechen
    Und über sie den Segen sprechen.


    8. Aria Sopran, Violino I/II, Continuo
    Die Armen will der Herr umarmen
    Mit Gnaden hier und dort;
    Er schenket ihnen aus Erbarmen
    Den höchsten Schatz, das Lebenswort.


    9. Recitativo Alt, Continuo
    Nun mag die Welt mit ihrer Lust vergehen;
    Bricht gleich der Mangel ein,
    Doch kann die Seele freudig sein.
    Wird durch dies Jammertal der Gang
    Zu schwer, zu lang,
    In Jesu Wort liegt Heil und Segen.
    Es ist ihres Fußes Leuchte und ein Licht auf ihren Wegen.
    Wer gläubig durch die Wüste reist,
    Wird durch dies Wort getränkt, gespeist;
    Der Heiland öffnet selbst, nach diesem Worte,
    Ihm einst des Paradieses Pforte,
    Und nach vollbrachtem Lauf
    Setzt er den Gläubigen die Krone auf.


    10. Aria Duetto Sopran, Alt, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
    Lass, Seele, kein Leiden
    Von Jesu dich scheiden,
    Sei, Seele, getreu!
    Dir bleibet die Krone
    Aus Gnaden zu Lohne,
    Wenn du von Banden des Leibes nun frei.


    11. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Die Hoffnung wart’ der rechten Zeit,
    Was Gottes Wort zusaget.
    Wenn das geschehen soll zur Freud’,
    Setzt Gott kein gewisse Tage.
    Er weiß wohl, wenn’s am besten ist,
    Und braucht an uns kein’ arge List,
    Des soll’n wir ihm vertrauen.






    Das Evangelium des heutigen Sonntags behandelt die bekannte wundersame Brot- und Fischvermehrung, die Jesus durchführte, um die viertausend Menschen zu speisen, die ihm in die Wüste nachgefolgt waren, um ihn predigen zu hören.
    Im Text der Kantate finden sich mehrfache Anspielungen auf diese Geschichte – vor allem wird auf die Geistesnahrung, die Jesu Worte für den Gläubigen bedeuten, abgezielt.
    Diese Kantate war interessanterweise in ihrer Originalgestalt zu Bachs Weimarer Zeit eine Kantate zur Adventszeit (in diesem Fall für den 3. Advent 1716) und wurde wie viele der Weimarer Bach-Kantaten vom dortigen Hofpoeten Salomon Franck gedichtet.
    In Leipzig wurden (mit Ausnahme des 1. Adventssonntags als Auftakt des neuen Kirchenjahres) jedoch an den Adventssonntagen genau wie in der Passionszeit keine Kantaten in den Gottesdiensten aufgeführt – es war eine stille Zeit der Vorbereitung und Besinnung.


    Wirtschaftlich denkend, wie Bach war, hat er diese Advents-Kantate (die er in Leipzig an einem 3. Advent ja nie würde aufführen können) nun für den heutigen 7. Sonntag nach Trinitatis umgearbeitet.
    Während die Texte (und auch die Musik) der übrigen Sätze entweder unverändert oder nur teilweise abgeändert der ursprünglichen Kantate, bzw. der Franck’schen Dichtung entnommen wurden, hat Bach vor allem die komplett neu gedichteten Rezitative (die Bezug nehmen auf das Sonntagsevangelium) neu vertont.
    Der Textdichter, der diese Umarbeitung der Kantate vorgenommen hat, ist, wie in vielen solcher Fälle, leider nicht bekannt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Bach diese Aufgabe aber auch gut alleine bewerkstelligt hat (oder zumindest in sehr enger Zusammenarbeit mit einem Leipziger Poeten). Er hat im Rahmen seines Kantatenschaffens oft genug bewiesen, dass er nicht nur ein untrügliches Gefühl für Musik und Harmonie, sondern auch ein ebensolches für Sprache und Dichtung besaß.


    Neben dem Eingangschor mit seiner reichhaltigen Oboenbesetzung mag ich vor allem das einer Gigue nachempfundene Duett Nr. 10 in c-moll, das im typischen 3/8tel-Takt steht.
    Wie bei mehreren vorausgegangenen zweiteiligen Kantaten (z. B. BWV 147 und BWV 76) seiner noch jungen Leipziger Amtszeit, schließt Bach auch in der hier besprochenen Kantate jeden der beiden Teile mit jeweils einer musikalisch identischen Choralstrophe ab und schmückt diese instrumental wie vokal einfallsreich aus (im Gegensatz zu vielen seiner Kantaten, in denen er den Schlusschoral im schlichten vierstimmigen Satz – plus parallel verlaufender instrumentaler Begleitung – komponiert hat).
    Den Choral von Paul Speratus, den Bach sich für diese Kantate gewählt hat, sollte er ungefähr 10 Jahre später noch zur Grundlage seiner Choralkantate BWV 9 machen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • ... danke für Deine Trost!


    Hallo,


    vornweg sei gesagt, die Kantate BWV 186 hatte ich bisher nicht wirklich bewußt wahrgenommen.


    Mein Wochenende war erfüllt von viel Frustration, Zweifeln,wachsendem Zorn und einer lähmenden Traurigkeit.
    Die verschiedenste Musik vermochte daran nichts zu ändern- also suchte ich resigniert nach der Kantate des Sonntags und da schallt mir entgegen " Ärgre dich, o Seele nicht"
    War das für mich geschrieben? Schon während des Eingangschores merkte ich wie mein Pulsschlag ruhiger wurde und von Satz zu Satz lockte mich die herrliche Musik aus meiner Höhle. Die Traurigkeit wich einer gelassenen Melancholie, schließlich errechten mich auch die Worte - trotz arg gestelzter Barocklyrik-, der Schlußchoral brachte den Tag in Ordnung:


    Die Hoffnung wart’ der rechten Zeit,
    Was Gottes Wort zusaget.
    Wenn das geschehen soll zur Freud’,
    Setzt Gott kein gewisse Tage.
    Er weiß wohl, wenn’s am besten ist,
    Und braucht an uns kein’ arge List,
    Des soll’n wir ihm vertrauen.


    Und neben diesem emotionalen Balsam erlebte ich meine erste Bachkantate, in der mich das Cembalo nicht nur nicht störte, sondern bei der ich es- gerade in den Rezitativen- als genau passendes Continuo- Instrument erleben durfte.Da war nichts mit uninspiriertem Geklimper, eher hörte man Anklänge an eine nachdenkliche Laute.


    Passt da eine Orgel wirklich? Ich kanns mir hier kaum vorstellen, werde es aber demnächst mal überprüfen.


    Ich hatte, ohne wirklich auszuwählen, einfach zur Rilling-Einspielung gegriffen und war- trotz Forenschelte- wie so oft bei ihm rundum zufrieden!


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Eine tolle Kantate mit besonders markantem Eingangschor. Die komplexe Kompositionsstruktur und der vorwärtsdrängende Duktus der Musik haben sowohl die Weimarer 1716, als auch die Leipziger 1723 (Umarbeitung der Kantate) herausgefordert. Der Chor steht in Rondo-Form und kombiniert vokale und instrumentale Kompositionsformen. Auf die forsche und ein wenig trotzig klingende Einleitungs-Sinfonia folgt nicht der Beginn des Chorals, sondern zunächst eine Art klangliche 'Devise'. Sie klingt wie ein auskomponierter Seufzer oder eben dem Text entsprechend: musikalisch artikulierter Ärger. Dass sie vom Orchester wiederholt wird, hat nicht nur imitatorische Funktion, sondern stellt faktisch einen vorgezogenen Kontrapunkt der nun beginnenden Choralfuge dar. Es sind auch solche Raffinessen, die Bach so sehr von seinen komponierenden Zeitgenossen abhebt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)