Die Bachkantate (120): BWV105: Herr, gehe nicht ins Gericht

  • BWV 105: Herr, gehe nicht ins Gericht
    Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 25. Juli 1723)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 10,6-13 (Warnung vor Abgötterei und Sicherheitsdünkel; Trost in Versuchung)
    Evangelium: Luk. 16,1-9 (Gleichnis vom unehrlichen Verwalter)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Johann Rist (1641)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht!
    Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    Mein Gott, verwirf mich nicht,
    Indem ich mich in Demut vor dir beuge,
    Von deinem Angesicht.
    Ich weiß, wie groß dein Zorn und mein Verbrechen ist,
    Dass du zugleich ein schneller Zeuge
    Und ein gerechter Richter bist.
    Ich lege dir ein frei Bekenntnis dar
    Und stürze mich nicht in Gefahr,
    Die Fehler meiner Seelen
    Zu leugnen, zu verhehlen!


    3. Aria Sopran, Oboe I, Streicher
    Wie zittern und wanken
    Der Sünder Gedanken,
    Indem sie sich untereinander verklagen
    Und wiederum sich zu entschuldigen wagen.
    So wird ein geängstigt’ Gewissen
    Durch eigene Folter zerrissen.


    4. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß,
    Der alle Schuld ersetzet,
    So wird die Handschrift ausgetan,
    Wenn Jesus sie mit Blute netzet.
    Er heftet sie ans Kreuze selber an,
    Er wird von deinen Gütern, Leib und Leben,
    Wenn deine Sterbestunde schlägt,
    Dem Vater selbst die Rechnung übergeben.
    So mag man deinen Leib, den man zu Grabe trägt,
    Mit Sand und Staub beschütten,
    Dein Heiland öffnet dir die ew’gen Hütten.


    5. Aria Tenor, Horn, Streicher, Continuo
    Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen,
    So gilt der Mammon nichts bei mir.
    Ich finde kein Vergnügen hier
    Bei dieser eitlen Welt und ird’schen Sachen.


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Nun, ich weiß, du wirst mir stillen
    Mein Gewissen, das mich plagt.
    Es wird deine Treu’ erfüllen,
    Was du selber hast gesagt:
    Dass auf dieser weiten Erden
    Keiner soll verloren werden,
    Sondern ewig leben soll,
    Wenn er nur ist Glaubens voll.






    Diese Kantate beginnt mit einem Bibelwort-Chor (Psalm 143, Vers 2) in bewährter Motettenform: Der erste Teil wird in gemessen-würdigem Adagio vorgetragen und vom Orchester eingeleitet und beendet. Ab den Worten “Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht“ mündet das Ganze in eine nach allen Regeln der Kunst gearbeitete Chorfuge, bei der die verschiedenen Instrumente des Orchesters nun ebenfalls die Stimmen des Chores mitspielen, so dass der Eindruck großer Geschlossenheit des ganzen Ensembles entsteht.


    Die Arie Nr. 3 ist wieder einmal ein gutes Beispiel für Bachs musikalische Textausdeutungskunst (die ja für die Barockmusik geradezu typisch ist!): Das im Text beschriebene „Zittern und Wanken“ wird wunderbar hörbar gemacht. Auch die seltene Tatsache, dass in dieser Arie der sonst allgegenwärtige Basso Continuo (der ja zumeist aus Cello, Orgelpositiv und evtl. einem Kontrabass, einem Fagott oder noch einer [Bass-] Laute besteht) zu schweigen hat, zeigt an, dass Bach hiermit etwas Besonderes ausdrücken wollte – etwa das Fehlen eines Haltes, eines stützenden Fundaments, dass dem „geängstigt’ Gewissen“ völlig abgeht und es somit “zitternd und wankend“ der “eigenen Folter“ überlässt.
    Und dass diese Arie unerwartet ganz anders klingt, weil statt des gewohnten Basses nun plötzlich „nur“ die Bratschen die tiefste Stimme des Orchesters zu spielen haben, könnten die damaligen Gottesdienstbesucher mit Sicherheit noch viel stärker bemerkt haben, als es heutige tun dürften: So bringt man seine Zuhörer auch dazu, aufmerksam zu werden und genauer hinzuhören, was denn nun hier im Text der Arie so Besonderes verkündet wird!


    Sehr hörenswert ist auch die Arie Nr. 5 mit dem solistisch eingesetzten Horn, das der ganzen Arie einen festlich-fröhlichen Charakter verleiht.


    Für den Schlusschoral hat sich Bach in dieser Kantate statt der in den übrigen Kantaten meist üblichen „schlichten Vierstimmigkeit“ von Singstimmen und Begleitinstrumenten wieder einmal für einen eigenständigen, den Choralvortrag des Chores umrahmenden und untermalenden Orchesterpart entschieden.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo zusammen,


    die meisten Einräge zu den Kantaten sind "unbeantwortet", ich weiß nicht, ob sich das hier nicht "geziemt", möchte aber dennoch etwas spezielles anmerken:


    Diese Kantate mit der wunderschönen Sopran-Arie "Wie zittern und wanken" habe ich in einer neuen Einspielung (Gardiner) und in einer alten (Rilling). Beide sind toll, Rilling natürlich interpretatorisch hörbar nicht "aktuell" (wertfrei gemeint).
    Bei beiden Aufnahmen spielen hervorragende Oboisten. An der Aufnahme unter Rilling aber kann man etwas besonderes hören: die bei Oboisten berühmte "unendliche Linie" des Günther Passin, der den Rillingschen Bachzyklus begleitet. Wen's interessiert der höre sich das mal genau an. Nach einer Weile habe ich nun verstanden, was die Instrumentalisten mir dazu immer versucht haben zu erkären.
    Ist vielleicht etwas speziell, wollte ich aber mal loswerden...


    Beste Grüße
    Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Hallo Accuphan,


    warum denn "zu speziell"?


    Genau für solche Hinweise und Anmerkungen sollte hier doch Raum geschaffen werden!


    Deswegen ist es gut, dass Du hier was zu beiträgst :hello:


    Die Tatsache, dass die meisten Threads bisher hier noch unbeantwortet sind, sollte allerdings Niemanden davon abhalten, was beizutragen (so habe ich das noch nie gesehen) - dafür sind die Threads ja schließlich da! :yes:


    Und gerade persönliche Eindrücke/ Konzerterlebnisse zu den Kantaten sind doch die interessantesten! Daher: Nur zu!!


    Zitat

    Accuphan schrieb:
    Nach einer Weile habe ich nun verstanden, was die Instrumentalisten mir dazu immer versucht haben zu erkären.


    Das klingt interessant - was haben die Instrumentalisten denn zu erklären versucht? Wie man eine quasi "unendliche Linie" spielt? Ist wahrscheinlich eine Frage der perfekten Atemtechnik, oder?

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Das klingt interessant - was haben die Instrumentalisten denn zu erklären versucht? Wie man eine quasi "unendliche Linie" spielt? Ist wahrscheinlich eine Frage der perfekten Atemtechnik, oder?


    Hallo MarcCologne, gibt's Dich noch?? :hello:


    Ich bin gerade mal die Liste meiner Abos durchgegangen und fand diesen Thread ganz unten auf der Liste. Alt genug, um das Abo zu löschen. Aber da war doch noch was... Genau: Deine unbeantwortete Frage!


    Ich bin mir nicht sicher, ob ich das gut und verständlich beantworten kann. Schließlich fiel das den Oboisten mir gegenüber auch schwer.
    Die Atemtechnik ist sicherlich sehr wichtig, das aber immer und nicht nur für Bach; sie ist Teil des Handwerkszeugs des Oboisten, so wie die Schlagtechnik des Paukers (der wiederum das Atmen auch nicht vergessen sollte...) Dabei gibt es die sogenannte Permanent-Atmung, bei der der Ton quasi unendlich gehalten/ die Melodie weiter gespielt werden kann, ohn zu unterbrechen: man sammelt Luft in den Wangen/ im Mundraum, bläst mit dieser Luft weiter und atmet gleichzeitig durch die Nase ein. Dann wird der Luftfluss von der Lunge in den Mundraum wieder geöffnet und so kann man das theoretisch "ewig" weiter machen. Das muss unhörbar bleiben, so dass der Hörer vom "Luftwechsel" nichts mitbekommt.
    Wie lange jemand sowas wirklich mal gemacht hat, weiß ich nicht. Es gibt bestimmt auch Rekordversuche... (?!)


    Der lange Atem ist das eine - er reicht aber nicht! Die "unendliche Linie" entsteht nicht, weil ein Oboist unendlich Luft hat! Und sie bleibt bestehen, auch wenn die Melodie unterbrochen wird. Eine bestimmte Form von Spannung zwischen Absetzen und Ansetzen zum nächsten Bogen bleibt idealerweise bestehen.


    Auch in dieser Kantate geht die Oboenstimme nicht ununterbrochen durch. Aber man kann es gut spielen, oder man heißt Passin und spielt eine quasi unendliche Linie... Man muss sowas hören und vergleichen, am besten mit einem Profi, der es uneitel mit Erklärungen unterstützt, auch wenn er das nicht so gut kann oder einer Schule entstammt, die nicht zu den Passin-Jüngern gehört. ;)


    An die Geräte! Und: atmen nicht vergessen!
    Viele Grüße
    Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Ein Highlight dieser schönen Kantate ist freilich der Hit "Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen".

    Das Klangbild mit Horn und Violine ist äußerst reizvoll und besonders die virtuosen Umspielungen der Solovioline wissen zu gefallen. „Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen, so gilt der Mammon nichts bei mir.“ Die Ursache für diese kapitalkritische Aussage liegt im Predigttext des 9. SnT: In Lukas 16 geht es um das Gleichnis des ungerechten Verwalters: Hier ist die Rede vom „ungerechten Mammon“ der lieber an die Armen verteilt werden sollte, um bei denen, die ein Anrecht auf das Reich Gottes besitzen, Freunde zu haben. Die tänzerisch-heitere Musik ist ein wenig trügerisch, fällt der Text doch im zweiten Teil durch Jenseitsnähe auf. Diese wird, wie so häufig im Barock und im Kantatenschaffen Bachs freilich deutlich hörbar als etwas Positives empfunden. „Ich finde kein Vergnügen hier bei dieser eitlen Welt und irdschen Sachen.“ Irdischer Reichtum wird zugunsten vollständiger Nachfolge aufgegeben.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)