BWV 113: Herr Jesu Christ, du höchstes Gut
Kantate zum 11. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 20. August 1724)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 15,1-10 (Paulus über das von ihm verkündigte Evangelium von Christus und sein Apostelamt)
Evangelium: Luk. 18,9-14 (Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner)
Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 30 Minuten
Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
Choral (Nr. 1, 2 und 8, sowie in Nr. 4): Bartholomäus Ringwaldt ( 1588 )
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe d’amore I + II, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Herr Jesu Christ, du höchstes Gut,
Du Brunnquell aller Gnaden,
Sieh doch, wie ich in meinem Mut
Mit Schmerzen bin beladen
Und in mir hab’ der Pfeile viel,
Die im Gewissen ohne Ziel
Mich armen Sünder drücken.
2. Choral Alt, Violini unisono, Continuo
Erbarm’ dich mein in solcher Last,
Nimm sie aus meinem Herzen,
Dieweil du sie gebüßet hast
Am Holz mit Todesschmerzen,
Auf dass ich nicht für großem Weh
In meinen Sünden untergeh’,
Noch ewiglich verzage.
3. Aria Bass, Oboe d’amore I + II, Continuo
Fürwahr, wenn mir das kömmet ein,
Dass ich nicht recht vor Gott gewandelt
Und täglich wider ihn misshandelt,
So quält mich Zittern, Furcht und Pein.
Ich weiß, dass mir das Herz zerbräche,
Wenn mir dein Wort nicht Trost verspräche.
4. Recitativo + Choral Bass, Continuo
Jedoch dein heilsam’ Wort, das macht
Mit seinem süßen Singen,
Dass meine Brust,
Der vormals lauter Angst bewusst,
Sich wieder kräftig kann erquicken.
Das jammervolle Herz
Empfindet nun nach tränenreichem Schmerz
Den hellen Schein von Jesu Gnadenblicken;
Sein Wort hat mir so vielen Trost gebracht,
Dass mir das Herze wieder lacht,
Als wenn’s beginnt zu springen.
Wie wohl ist meiner Seelen!
Das nagende Gewissen kann mich nicht länger quälen,
Dieweil Gott alle Gnad’ verheißt,
Hiernächst die Gläubigen und Frommen
Mit Himmelsmanna speist,
Wenn wir nur mit zerknirschtem Geist
Zu unser’m Jesu kommen.
5. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo
Jesus nimmt die Sünder an:
Süßes Wort voll Trost und Leben!
Er schenkt die wahre Seelenruh’
Und rufet jedem tröstlich zu:
Dein’ Sünd’ ist dir vergeben!
6. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
Der Heiland nimmt die Sünder an:
Wie lieblich klingt das Wort in meinen Ohren!
Er ruft: Kommt her zu mir,
Die ihr mühselig und beladen,
Kommt her zum Brunnquell aller Gnaden,
Ich hab’ euch mir zu Freunden auserkoren!
Auf dieses Wort will ich zu dir
Wie der bußfert’ge Zöllner treten
Und mit demüt’gem Geist: Gott sei mir gnädig! beten.
Ach, tröste meinen blöden Mut
Und mache mich durch dein vergoss’nes Blut
Von allen Sünden rein,
So werd’ ich auch wie David und Manasse,
Wenn ich dabei
Dich stets in Lieb’ und Treu’
Mit meinem Glaubensarm umfasse,
Hinfort ein Kind des Himmels sein.
7. Aria Sopran, Alt, Continuo
Ach Herr, mein Gott, vergib mir’s doch,
Womit ich deinen Zorn erreget,
Zerbrich das schwere Sündenjoch,
Das mir der Satan auferleget,
Dass sich mein Herz zufrieden gebe
Und dir zum Preis und Ruhm hinfort
Nach deinem Wort
In kindlichem Gehorsam lebe.
8. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore I+ II, Streicher, Continuo
Stärk’ mich mit deinem Freudengeist,
Heil mich mit deinen Wunden,
Wasch’ mich mit deinem Todesschweiß
In meiner letzten Stunden;
Und nimm mich einst, wenn dir’s gefällt,
In wahrem Glauben von der Welt
Zu deinen Auserwählten!
Diese Kantate stammt aus dem Jahr 1724 und ist damit eine Choralkantate, die zum großangelegten und ambitionierten „Projekt“ Bachs gehörte, Kantaten, die auf jeweils einen „Mottochoral“ basieren, für sämtliche Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres zu komponieren.
Der für diese Kantate ausgewählte Choral von Bartholomäus Ringwaldt passt gut zum Evangelium des heutigen Sonntags, in dem es um die rechte Haltung des bußfertigen Sünders geht, der um Vergebung seiner Missetaten bittet und auf göttliche Gnade hofft.
Der Eingangschoral in h-moll überlasst – ganz „klassisch“ – dem Sopran den Vortrag der Choralmelodie, die übrigen Chorstimmen erweitern diese zur Vierstimmigkeit, die Instrumente des Orchesters umrahmen das Ganze.
Ungewöhnlicherweise schließt sich an diesen Choral unmittelbar eine weitere Strophe an – diesmal jedoch nur vom (Solo-) Alt vorgetragen: Während die Singstimme unverändert die Choralmelodie übernimmt, ergänzen die Violinen und das Continuo mit bewegten Figuren den Satz zu einem Triosatz, der sich – obwohl ja ebenfalls „nur“ eine weitere Choralstrophe vorgetragen wird – wirkungsvoll vom vorhergehenden Satz abhebt.
Besonders angetan hat es mir die Arie Nr. 3, in der der Bass von 2 Oboi d’amore begleitet wird und die im charakteristischen (und für mich besonders eingängigen) 12/8tel-Takt steht! Zusammen mit der Arie Nr. 5, in der Tenor und Traversflöte zusammen musizieren, bildet sie für mich den Höhepunkt dieser Kantate.
Die Machart des Rezitativ + Choral Nr. 4 erinnert stark an die bereits in den Kantaten der Vorwochen (z. B. BWV 101, BWV 94 oder BWV 178) praktizierte Verfahrensweise, in denen ebenfalls eine Solostimme eine weitere vollständige Choralstrophe vorträgt, die aber durch frei hinzugedichtete Einschübe (in Rezitativform) immer wieder unterbrochen wird. Der oder die Verfasser der Choralkantaten vom Hochsommer 1724 sind uns heute leider unbekannt... ob es zu weit geht, wenn ich vermute, dass gerade die charakteristisch gestalteten Rezitativ-Sätze dieser Kantaten darauf hindeuten, dass es sich in dem Zeitraum immer um denselben Dichter gehandelt haben dürfte?
Auch diese Kantate enthält als vorletzten Satz, genau wie die in der Woche zuvor entstandene Kantate (BWV 101), ein als Aria bezeichnetes Duett für Sopran und Altstimme, das sich melodisch wieder recht eng an die Melodie des dieser Kantate als „Motto“ zugrundeliegenden Chorals orientiert.
Die Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise Bachs bei der Komposition der einzelnen Choralkantaten in diesem Zeitraum ist nicht nur an diesem Duett-Satz auffallend (siehe auch das weiter oben zum Rezitativ mit Choraleinschub Gesagte!) – Bach schien damit eine für ihn praktikable Gestaltungsart gefunden zu haben, wie er die wöchentliche Herausforderung, der er sich für den Kantatenjahrgang 1724/25 ja immerhin freiwillig gestellt hatte, zu seiner Zufriedenheit bewältigen konnte.